Antigone und Ödipus der Griechen


Der Unterschied fällt nun leicht in die Augen. In der griechischen Tragödie beschäftigt Antigone sich nicht mit des Vaters unglücklichem Geschicke. Dieses ruht als ein düstres, undurchdringliches Leid auf dem ganzen Geschlechte. Antigone lebt sorglos wie jede andere hellenische Jungfrau dahin; ja, der Chor beklagt sie, als ihr Tod beschlossen ist, dass sie in so jugendlichem Alter dieses Leben verlassen solle, es verlassen solle, ohne die schönsten Güter desselben gekostet zu haben, wobei er offenbar das tiefste Leid der Familie ganz vergißt. Hiermit soll nun keineswegs gesagt werden: es sei Leichtsinn, oder das einzelne Individuum stehe allein für sich, ohne sich um sein Verhältnis zum Geschlecht zu kümmern. Nein, es ist eben echt griechisch. Die Lebensverhältnisse sind ihnen einmal gegeben, wie der Horizont, unter dem sie leben. Ist dieser auch dunkel und bewölkt, so ist er zugleich unwandelbar. Dies gibt der Seele einen Grundton, welcher das Leid ist, nicht der Schmerz. In der Antigone konzentriert sich die tragische Schuld auf einen einzigen Punkt, dass sie nämlich gegen des Königs Verbot ihren Bruder bestattet hat. Betrachtet man dies als ein isoliertes Faktum, als die Kollision zwischen der schwesterlichen Liebe (Pietät) und einem willkürlichen Menschengebote, so hört hiermit die Antigone auf, eine griechische Tragödie zu sein; das Sujet wird zu einem modern-tragischen. Was im griechischen Sinne tragisches Interesse erzeugt, ist dies, dass in des Bruders unglücklichem Tode, in der Kollision der Schwester mit einem einzelnen menschlichen Verbote, Ödipus trauriges Schicksal wieder anklingt, welches sich in den einzelnen Sprößlingen verzweigt; es sind die Nachwehen desselben. Dieses Ganze ist es, was dem Leide für die Zuschauer eine so unendliche Tiefe gibt. Nicht ein bloßes Individuum ist es, was hier zu Grunde geht, sondern eine kleine Welt. Es ist das geschichtliche, vererbte Leid, welches sich selbst überlassen, in seiner eignen furchtbaren Konsequenz, wie eine Naturmacht vorwärtsschreitet; und Antigones trauriges Geschick ist wie der Nachhall von dem des Vaters, ein potenziertes Leid. Entschließt sich also Antigone, dem königlichen Verbote zuwider, den Bruder zu bestatten, so sehen wir hierin nicht sowohl eine freie Handlung, als die verhängnisvolle Notwendigkeit, welche der Väter Missetat noch an den Kindern heimsucht. Zwar äußert sich in ihrem Verhalten Freiheit genug, so dass wir sie ihrer schwesterlichen Zärtlichkeit wegen liebgewinnen können; aber die Notwendigkeit des Fatums tönt immer wider, gleichsam als durchgehender Kehrreim, nicht nur Ödipus Leben in sich schließend, sondern auch sein Geschlecht.


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