Die tragische Schuld


Das hier in der Kürze, doch hinlänglich Erörterte ist von Bedeutung, um einen Unterschied zwischen der ältern und neuem Tragödie zu beleuchten, welcher mir von Bedeutung zu sein scheint, nämlich die verschiedene Auffassung der tragischen Schuld. Aristoteles verlangt, dass der tragische Held eine hamartia (Versündigung) auf sich habe. Sowie aber die Handlung in der griechischen Tragödie ein Mittelding zwischen Handeln und Leiden ist, ebenso ist die Schuld es auch; und hierin liegt die tragische Kollision. Je mehr dagegen die Subjektivität eine reflektierende wird, je mehr man (pelagianisch) das Individuum als sich allein überlassen, auf sich gestellt betrachtet, desto ethischer wird die Schuld. In der Mitte zwischen diesen beiden Extremen liegt das Tragische. Hat das Individuum durchaus seine Schuld, so ist das eigentlich tragische Interesse vernichtet, weil alsdann die tragische Kollision entnervt ist; hat es dagegen absolute Schuld, und nichts als Verschuldung auf sich, so interessiert es uns nicht mehr in tragischem Sinne. Es ist daher gewiß ein Mißverständnis des Tragischen, wenn unsre Zeit dahin strebt, das Verhängnis sich in lauter Individualität und Subjektivität umwandeln zu lassen. Von des Helden Vorzeit will man weiter nichts wissen; sein ganzes Leben wälzt man ihm, als seine persönliche Tat, auf die eignen Schultern, macht ihn für alles verantwortlich, wodurch denn auch seine ästhetische Schuld in eine ethische verwandelt wird. Indem der tragische Held in seiner Schlechtigkeit dargestellt wird, wird der eigentliche tragische Gegenstand das Schlechte, das Böse; dieses hat aber kein ästhetisches Interesse, und Sünde ist kein ästhetisches Element. Fragen wir nach dem tieferen Grunde dieses mißverstandenen Strebens, so liegt er in der unserm Zeitalter innewohnenden Tendenz zum Komischen. Das Komische liegt gerade in der Isolierung. Will man nun, innerhalb der Schranken der letztern, das Tragische geltendmachen, so bekommt man das Böse in seiner Schlechtigkeit, nicht die eigentlich tragische Schuld in ihrer zweideutigen Schuldlosigkeit. Beispiele finden sich genug in der neuern Litteratur. So ist Grabbes in vieler Hinsicht geniales Werk: »Faust und Don Juan« eigentlich auf das Böse gegründet. Um indessen nicht aus einem einzelnen dichterischen Erzeugnis zu argumentieren, will ich meinen Satz in dem herrschenden Bewußtsein der Gegenwart nachweisen. Wollte man ein Individuum darstellen, auf das unglückliche Umgebungen in seiner Kindheit so störend eingewirkt hätten, dass diese Eindrücke schließlich seinen Untergang herbeiführten, so würde dergleichen unserm Geschlechte nicht zusagen; und das natürlich nicht darum, weil es schlecht behandelt worden denn ich dürfte mir ja immerhin denken, dass die Behandlung eine ausgezeichnete gewesen sei -, sondern darum, weil die Zeit einen andern Maßstab anlegt. Sie will von solchen Sentimentalitäten nichts wissen; sie macht ohne weiteres das Individuum für sein Leben verantwortlich. Geht also ein solches zu Grunde, so erscheint es hiermit nicht tragisch, sondern - schlecht. - Sollte man nun nicht glauben, es müsse ein Königreich von lauter Göttern sein, dieses Geschlecht, in welchem auch ich die Ehre habe zu leben? Allein dem ist keineswegs so: die Kraftfülle, der sittliche Mut, der so seines Glückes Schmied und Schöpfer, ja sein eigner Schöpfer sein will, ist eine Illusion; und während unsre Zeit das wahrhaft Tragische verliert, gewinnt sie dafür - die Verzweiflung. In dem Tragischen liegt eine Wehmut und zugleich eine Heilkraft, die man fürwahr nicht verschmähen sollte; und während man auf so un- und übernatürliche Weise, wie unsre Zeit es versucht, sich selbst (sein Sittliches Ideal) gewinnen will, verliert man sich selbst, und man wird einfach komisch. Jedes Individuum, mag es auch zu den Originalen gehören, ist und bleibt doch immer ein Kind Gottes, seiner Zeit, seines Volkes, seiner Familie, seiner Freunde, und hat erst hierin seine Wahrheit. Will es, in dieser seiner vielseitigen Relativität, dennoch das Absolute sein, so macht es sich lächerlich. Gibt dagegen ein solches Individuum diesen Anspruch auf, will es nur relativ sein, alsdann hat es eo ipso das Tragische an sich, auch wenn es das glücklichste Individuum wäre, ja, ich möchte fragen: erst dann ist das Individuum das glücklichste, wenn das Tragische ihm nicht abgeht. Das Tragische befaßt in sich eine unendliche Milde; ästhetisch ist es im Verhältnis zum Menschenleben, was in höherm Sinne die göttliche Gnade und Barmherzigkeit ist; ja, es redet fast eine noch sanftere Sprache, so dass ich es mit einer Mutterliebe verglei-chen möchte, welche das bekümmerte Kind in Schlummer einlullt. Das Ethische ist seiner Natur nach streng und hart. Kommt freilich ein begangenes Verbrechen in Frage, alsdann kann der Übeltäter gewiß nicht seine Zuflucht nehmen zum Tempel der Ästhetik, wiewohl diese einen auch für ihn milderen Ausdruck haben mag. Allein es wäre verkehrt, sich gerade dorthin zu wenden: denn sein Weg weist ihn nicht auf das ästhetische, sondern auf das religiöse Gebiet. Jenes liegt hinter ihm; und er beginge eine neue Sünde, wollte er sich jetzt ins Ästhetische werfen. Die Religion ist der Ausdruck für die väterliche und mütterliche Liebe: denn sie trägt in sich das Ethische, welches, aber gemildert ist, und zwar ähnlich wie auch das Tragische, eben durch ihre ununterbrochen still fortgehende Einwirkung. Während aber das Ästhetische solche Beruhigung gewähren möchte, ehe der tiefe und schreiende Gegensatz der Sünde zur Geltung gekommen ist, so gewährt die Religion ihren Frieden erst, nachdem dieser Gegensatz sich in seinem ganzen furchtbaren Ernste geoffenbart hat. In demselben Augenblicke, wenn der Sünder vergehen möchte unter dem Druck der Gesamtsünde, unter welche auch er durch eigne Schuld gestellt ist, in dem Gefühle, dass nur in dem Maße, wie er sich schuldig weiß, Aussicht für ihn ist, erlöst zu werden - in demselben Augenblicke zeigt sich ihm darin ein Trost, dass es die allgemeine Sündhaftigkeit ist, welche auch in ihm sich regt, daher er auch von dem allgemeinen Heile nicht ausgeschlossen ist. Dieser Trost kann ja nur ein religiöser sein; und wer etwa wähnt, auf irgend einem andern Wege, z.B. durch ästhetische Verflüchtigung, dazu gelangt zu sein, der hat sich selbst betrogen und besitzt den Trost eigentlich gar nicht. In gewissem Sinne beweist daher die Zeit einen sehr richtigen Takt, wenn sie das Individuum für alles selbstverantwortlich machen will. Aber leider tut sie's nicht ernst und innerlich genug, was eben ihre Halbheit ist. Sie ist selbstklug genug, um die Tränen der Tragödie zu verschmähen, aber auch selbstklug genug, um der Barmherzigkeit entbehren zu wollen. Und was ist doch, sobald man diese zwei Dinge fort-nimmt, das Menschenleben? was ist das Menschengeschlecht? - Entweder also die Wehmut des Tragischen, oder das ernste Leid der Religion und ihre um so tiefere Freude. Oder ist nicht der charakteristische Zug alles dessen, was von jenem glücklichen Volk der Hellenen herstammt, eine gewisse Schwer- und Wehmut ihrer Kunst, ihres Lebens, selbst ihrer Freude?


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