Die antike Tragödie im Unterschied zur modernen


Bekanntlich nennt Aristoteles als Quellen der Handlung in der Tragödie zweierlei: dianoia kai êthos (Gesinnung und Charakter), bemerkt aber zugleich: die Hauptsache sei to telos (Endziel), und die Personen handeln nicht, um ihren Charakter in seiner Entwicklung darzustellen; sondern die Charakterbilder werden nur um der Handlung willen aufgenommen. Hierin macht sich eine Abweichung von der modernen Tragödie bemerklich. Die Eigentümlichkeit der antiken Tragödie besteht nämlich darin, dass die Handlung nicht bloß aus dem Charakter hervorgeht, sofern sie hierzu nicht subjektiv (im sittlichen Bewußtsein) reflektiert genug ist, dass vielmehr die persönliche Handlung selbst mit einem relativen Zusatz von Leiden behaftet ist. Damit hängt es zusammen, dass der Dialog in der Tragödie der Alten gar nicht zu dem Grade erschöpfender Reflexion entwickelt ist, dass alles in ihm aufgeht. Der Monolog und der Chor sind es eigentlich, welche die verschiedenen Momente des Dialogs vertreten. Möge nämlich der Chor entweder sich der epischen Haltung mehr annähern, oder dem lyrischen Schwunge, so ist er es jedenfalls, welcher gleichsam jenes Mehr angibt, das in die Persönlichkeit nicht aufgehen will. Der Monolog stellt anderseits die lyrische Konzentration dar und enthält das Mehr, welches in Handlung und Situation nicht aufgeht. Die Handlung selbst trägt in der antiken Tragödie ein episches Moment in sich; sie ist ebensosehr Begebenheit, als Handlung. Der Grund ist dieser, dass die alte Welt noch nicht in reflektierter Subjektivität lebte. Bewegte sich auch das Individuum mit Freiheit, so wurzelte es dabei doch in gegebenen, objektiven Mächten, als Staat, Familie, Religion, Schicksal. Dieses allem zu Grunde liegende Objektive, Feststehende ist in der griechischen Tragödie der Schoß des sich vollziehenden Verhängnises und gibt derselben ihr eigentümliches Gepräge. Des Helden Untergang ist also keine bloße Folge seiner Handlungsweise, sondern zugleich ein Leiden, wogegen in der neuem Tragödie solcher Untergang im Grunde weniger sein Leiden ist, als seine eigne Tat. In der Neuzeit sind also wesentlich Situation und Charakter das Vorherrschende. Der tragische Held ist subjektiv in sich reflektiert, und hat sich nicht allein aus jedem unbefangenen Verhältnis zu Staat, Geschlecht, Schicksal heraus reflektiert, sondern manchmal sogar aus seinem eignen vorangegangenen Leben. Was uns interessiert, ist ein gewisses bestimmtes Moment seines eignen Verhaltens. Aus diesem Grunde läßt sich das Tragische in Situation und Zwiegespräch erschöpfen, sofern Unmittelbares überhaupt gar nicht zurückgeblieben ist. Die moderne Tragödie hat daher eigentlich keinen epischen Vordergrund, keine epische Nachfolge. Der Held steht und fällt gänzlich auf dem Boden seiner eignen Taten.


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