Die tragische Kollision
Einen Zusammenhang, in den sie hineinpassen würde, ausfindig zu machen, dürfte auch nicht schwer halten. In dieser Hinsicht kann man sich immerhin mit dem begnügen, was die griechische Tragödie darbeut. Sie hat ja eine Schwester am Leben; diese lasse ich etwas älter und verheiratet sein. Auch ihre Mutter könnte noch unter den Lebenden sein. Diese werden natürlich immer Nebenpersonen bleiben, wie denn überhaupt die Tragödie zwar ein episches Moment in sich aufnehmen kann, sowie die griechische Tragödie ein solches in sich trägt, nur dass es nicht das hervorragende sein darf. Jedoch wird der Monolog hier immer eine Hauptrolle spielen, wiewohl die Situation ihm zu Hilfe kommen muß. Alles hat man sich um jenes Hauptinteresse konzentriert zu denken, welches für Antigone ihren Lebensinhalt ausmacht. Und wenn nun das Ganze so weit in Ordnung gebracht ist, alsdann bleibt die Frage übrig: wie wird das dramatische Interesse zuwegegebracht?
Wie unsre Heldin sich im vorhergehenden dargestellt hat, ist sie auf dem Wege, ein Moment ihres Lebens zu überspringen; sie ist im Begriffe, ganz in Idee und Geist leben zu wollen, was aber der Natur widerstrebt. Bei der Tiefe aber, die ihrer Seele eigen ist, muß sie in dem Falle, dass sie sich verliebt, mit außerordentlicher Leidenschaft lieben. Hier stehe ich also bei dem dramatischen Interesse. Antigone ist verliebt; und, ich sage es mit Schmerzen, Antigone ist sterblich verliebt. Hier liegt offenbar die tragische Kollision. Im allgemeinen sollte man mit dieser Bezeichnung etwas sparsamer umgehen. Je sympathischer die kollidierenden Mächte, je innerlicher, zugleich aber auch gleichartiger sie sind, desto bedeutungsvoller wird die Kollision. Sie ist also verliebt; und der, welcher Gegenstand ihrer Zuneigung ist, weiß davon. Aber Antigone ist ja kein gewöhnliches Mädchen; und so ist auch ihre Mitgift eine ungewöhnliche - ihr Schmerz. Einen Manne ohne diese Mitgift anzugehören, vermag sie nicht; sie fühlt, das wäre von ihrer Seite zu gewagt. Vor einem solchen Beobachter dieselbe verborgen zu halten, wäre unmöglich; es nur zu wünschen, wäre eine Versündigung gegen ihre Liebe. Aber kann sie ihm ohne jene Mitgift angehören? Darf sie diese irgend einem Menschen, selbst einem geliebten Manne anvertrauen? Leidet sie doch auch selbst, wenn sie dies tut; ist doch ihr eignes Leben aufs traurigste mit verflochten in das Geheimnis ihrer Brust. Und dennoch denkt sie hieran kaum; um den verstorbenen Vater handelt es sich. Von dieser Seite ist also die Kollision sympathischer Natur. Ihr bisher ruhiges und stilles Leben wird fortan - natürlich immer nur in ihrem Innern - ein leidenschaftlich und heftig aufgeregtes; und ihre Sprache beginnt nunmehr, pathetisch zu werden. Sie kämpft mit sich selbst: ihr Leben wollte sie gern ihrem Geheimnis opfern; jetzt fordert die Liebe es als Opfer. Sie siegt; das heißt, das Geheimnis siegt, und sie verliert. Jetzt kommt die zweite Kollision: denn damit die tragische Kollision eine recht tiefgehende sei, müssen ja die kollidierenden Mächte gleichartig sein. Die zweite kollidierende Macht ist die sympathisch Liebe zu ihrem Geliebten (welcher dazu, der alten Sage nach, kein anderer ist als Haimon, Sohn jenes harten Königs Kreon - zuletzt neben ihrer Leiche sich selbst entleibend). Er weiß, dass er geliebt wird, und wagt kühnlich seinen Angriff. Ihre Zurückhaltung nimmt ihn zwar wunder; er merkt wohl, dass besondre Schwierigkeiten obwalten, welche aber doch für ihn nicht unüberwindlich sein möchten. Worauf es ihm ankommt, ist, sie davon zu überzeugen, wie ungemein lieb er sie habe, ja, dass er nicht leben könne, wenn er auf ihre Liebe verzichten müsse. Seine Leidenschaft wird zuletzt fast unwahr, aber desto erfinderischer wegen des Widerstandes, den er erfährt. Mit jeder Liebesbeteuerung vermehrt er nur ihren Schmerz; mit jedem Seufzer bohrt er den Pfeil des Leides nur immer tiefer in ihre Brust. Kein Mittel, sie zu rühren, läßt er unversucht. Weiß er doch gleich allen andern, wie sehr sie den Vater liebt. Er trifft sie bei Ödipuss Grabe, wohin sie gegangen ist, um ihrem gepreßten Herzen Luft zu machen, um sich der Sehnsucht nach dem Vater ganz hinzugeben; und doch ist auch diese Sehnsucht nicht ohne Schmerz, da sie ja im Unklaren darüber ist, wie sie ihm wieder begegnen wird, ob er selber von seiner verhängnisvollen Schuld weiß, oder nicht. Der Liebende überrascht sie; er beschwört sie bei der Liebe, mit der sie an ihrem Vater hängt; er gewahrt den ungewöhnlichen Eindruck, den er auf sie hervorgebracht hat; er läßt nicht ab, hofft alles von diesem Mittel, und weiß nicht, dass er nur sich selbst entgegengearbeitet hat.
Um was sich also, mitten unter allen Vorgängen und Handlungen, die sonst sich auf der Bühne bewegen mögen, das Interesse eigentlich dreht, ist: ob ihr Geheimnis ihr doch nicht irgendwie entwunden werde. Ließe der Dichter sie auch zeitweilig wahnsinnig sein und in diesem Zustande es verraten, so wäre das gewiß ungenügend. Die kollidierenden Mächte halten einander in solchem Grade die Wage, dass dem tragischen Individuum selbst das Handeln fast unmöglich wird. Ihr Schmerz ist jetzt gesteigert durch ihre Liebe, durch ihr Leiden, das sie sympathisch mit dem Geliebten leidet. Nur im Tode kann sie Frieden finden. So ist ihr Leben einmal dem Leide geweiht, und sie hat dem Unheil, welches drohend und verhängnisvoll sich vielleicht in die folgende Generation fortgepflanzt hätte, gleichsam eine Schranke, einen Damm entgegengestellt. Nur in ihrem letzten Augenblick kann sie die Innigkeit ihrer Liebe eingestehen, kann sie bekennen, dass sie ihm angehöre - also in dem Augenblicke, wenn sie ihm nicht mehr gehört. Als Epaminondas in der Schlacht bei Mantinea verwundet war, ließ er den Pfeil in der Wunde sitzen, bis er gehört hatte, ob die Schlacht gewonnen sei, weil er wusste, es werde sein Tod sein, wenn er herausgezogen werde. So trägt Antigone im Herzen ihr Geheimnis, wie einen Pfeil, welchen das Leben immer tiefer hineingebohrt hat, ohne sie zu töten: denn solange dieser Pfeil in ihrem Herzen bleibt, kann sie leben; aber in dem Augenblicke, wenn er herausgezogen wird, muß sie sterben. Sie ihres Geheimnisses zu berauben, das ist es, wofür der Liebende kämpfen muß; und doch ist es zugleich ihr gewisser Tod.
Von wessen Hand fällt sie denn? Von der des Lebenden, oder der des Toten? In einem gewissen Sinne von der des Toten. Was dem Herkules geweißagt worden: er werde von keinem Lebenden umgebracht werden, sondern von einem Toten, das trifft auch unsre Antigone: denn die Erinnerung, ja das innere Fortleben mit dem verstorbenen Vater, ist die Ursache ihres Todes. In einem andern Sinne freilich ist es der Lebende, sofern ihre unglückliche Liebe die Veranlassung wird, dass die Erinnerung sie endlich zum Tode führt.