Begriff des Tragischen


Wenn jemand sagen wollte: das Tragische bleibe zu jeder Zeit das Tragische, so hätte ich dagegen eben nicht viel zu erinnern, sofern freilich jede geschichtliche Entwicklung innerhalb des Umfanges jeden Begriffes liegt. Vorausgesetzt nämlich, dass seine Worte einen Sinn haben, und das zweimal wiederholte Wort: Tragisch, nicht bloß das bedeutungslose Parenthesezeichen, das ein inhaltloses Nichts einschließen soll, vorstellt, so müßte seine Meinung wohl diese sein, dass der (geschichtlich wachsende) Inhalt des Begriffes diesen nicht entthront, vielmehr bereichert. Auf der andern Seite wird es der Aufmerksamkeit keines Beobachters entgangen sein - was das lesende und theaterbesuchende Publikum längst als gesicherten Besitz innezuhaben glaubt, als seine Aktienausbeute aus den Bestrebungen der Kunsterfahreneren -, dass ein wesentlicher Unterschied zwischen der antiken und der modernen Tragödie bestehe. Allein gegen die Geltendmachung eines absoluten Unterschiedes, oder gar Gegensatzes, spräche jedenfalls, dass das Antik- und Modern-Tragische durch diese gemeinsame Grundlage, nämlich das Tragische, weit mehr verbunden, als geschieden wird. Vor jedem einseitigen Bestreben dieser Art muß auch der Umstand warnen, dass noch immer die Ästhetiker auf Aristoteles' Bestimmungen des Tragischen und seine Ansprüche an dasselbe zurückkommen, als die den Begriff wesentlich erschöpfenden; warnen muß dieser Umstand um so mehr, als es jeden mit einer gewissen Wehmut ergreifen muß, daß, ungeachtet aller Veränderungen, die mit der Welt vorgegangen sind, die Vorstellung vom Tragischen im wesentlichen unverändert geblieben ist, sowie das Weinen dem Menschen natürlich ist. So beruhigend dies nun einen dünken könnte, der keine Trennung, wenigstens keinen völligen Bruch wünscht, so zeigt sich doch die eben abgewiesene Schwierigkeit unter einer andern und fast noch gefährlicheren Gestalt. Daß man beständig noch zur aristotelischen Ästhetik, nicht aus bloßer schuldiger Aufmerksamkeit oder alter Gewohnheit, zurückkehrt, das wird jeder einräumen, der mit der neuern Ästhetik verkehrt und hierdurch die Überzeugung gewinnt, wie eng man sich den von Aristoteles aufgestellten, noch immer gültigen Prinzipien anschließt. Sobald man indes diesen näher tritt, macht die Schwierigkeit sich alsbald geltend. Die Begriffsbestimmungen sind nämlich ganz allgemeiner Art; und man kann so weit mit Aristoteles ganz einig und doch in anderm Sinne mit ihm uneins sein. Um der nachfolgenden Entwicklung nicht dadurch vorzugreifen, dass ich in Form von Beispielen anführe, was ihr den fachlichen Inhalt ausmachen soll, so ziehe ich vor, meine Ansicht vorzutragen, indem ich hinsichtlich der Komödie die entsprechende Betrachtung anstelle. Gesetzt, dass ein alter Ästhetiker gesagt hätte: das, was die Komödie voraussetze, sei Charakter und Situation, und was diese erregen wolle, sei das Lachen, so könnte man immerhin wieder und wieder darauf zurückgehen; sobald man dann aber erwäge, wie verschiedener Art das sein kann, was einen Menschen zum Lachen bringt, so würde man bald einsehen, welches ungeheure Spatium jene Forderung in sich fasse. Wer jemals sein eignes Lachen zum Gegenstande der Beobachtung machte, wer hierbei weniger das Zufällige als das Allgemeine vor Augen hatte, wer mit psychologischem Interesse darauf achtgab, wie verschieden in jedem Lebensalter die Motive des Lachens sind, der wird sich leicht überzeugen, dass die unwandelbare Forderung an die Komödie, dass sie zum Gelächter reize, des Wandelbaren genug enthält, im Verhältnis zu der verschiedenen Vorstellung des Weltbewußtseins über das, was lächerlich sei, ohne dass jedoch die Verschiedenheit eine so diffuse (zerfließende) zu sein braucht, dass der entsprechende Ausdruck der Stimmung in den somatischen Funktionen am Ende auch dieser sein könnte: Lachen äußere sich durch Weinen. Ebenso nun auch mit dem Tragischen.


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