Mathematik
Mathematik (gr. mathêmatikê sc. epistêmê), eigtl. Wissenschaft überhaupt, heißt die Quantitätslehre. Alle Bestimmung von Quantitäten erfolgt aber durch Zahlen und anschaulich gegebene Größen. Die Mathematik ist also die Wissenschaft von den Zahlen und den Größen. Die Größen können Raum-, Zeit-, Bewegungs- oder Kraftgrößen sein. Das allgemeinste grundlegende Gebiet der Mathematik ist die Lehre von den Zahlen (Arithmetik und Algebra). Zahlen sind diejenigen Verbindungen gleichartiger Vorstellungen oder Objekte (Einheiten) im Bewußtsein, in denen jedes dieser Objekte als niedere Einheit getrennt für sich bestehend und zugleich doch alle Objekte im Bewußtsein auf einmal zu einer Einheit verbunden gedacht werden. In der Zahl liegt also ein Bewußtsein zugleich stattfindender Trennung und Verbindung, der Begriff des Ganzen und seiner Teile. Zahlen sind die abstraktesten Formen, in denen das Gesetz des diskursiven Denkens (Trennen und. Verbinden) zum Ausdruck kommt und für die Anwendung auf Größen geformt wird. Die Arithmetik ist daher der Teil der Mathematik, auf den sich alle anderen stützen. Ohne Zahlenbestimmungen und Rechnungsoperationen läßt sich im Gebiete der Größen nicht arbeiten. Einen Hauptteil der Mathematik bildet dann zweitens die Lehre vom Raume (Geometrie). Aber Arithmetik und Geometrie machen nicht die Gesamtmathematik aus und stehen nicht im Verhältnis der Beiordnung. Vielmehr wendet die Geometrie überall die Gesetze der Zahlenlehre an, und mit der Kombinations- und Reihenlehre tritt der Begriff der Succession und der Zeit, mit der Differential- und Integralrechnung der Begriff der Veränderungs-, der Bewegungsgrößen in die Mathematik ein. Werden Zahl, Raum-, Zeit-, Bewegungsgrößen zusammengefaßt, so dienen sie zur Bestimmung der Kraftgrößen (siehe das über das CGS-System unter Maß Gesagte). So bildet die Mathematik eine Fülle von Einzelgebieten aus und läßt Anwendungen in allen Wissenszweigen zu, wo Größenbestimmungen nötig sind, namentlich im Gebiete der Astronomie, Geodäsie, Physik usw. – Die Methode der Mathematik ist im wesentlichen deduktiv. Sind die Grundbegriffe eines ihrer Gebiete gegeben, so läßt sich aus diesen schrittweise die ganze Wissenschaft folgern; von der Idee der Zahl z.B. kommen wir schrittweise zum Aufbau der Zahlenreihe, zu der Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division, Potenzierung, Radizierung, Logarithmierung und könnten von da aus weiter noch höhere Rechnungsarten entwickeln. Aber die Grundbegriffe der Mathematik beruhen ebenso auf der Erfahrung wie die Begriffe anderer Wissenschaften. Die Mathematik ist wohl im Aufbau und in der Methode rational, nicht aber in ihrem Ursprunge. Zahlen bauen sich nur auf Empfindungsgrößen, Raumgebilde nur auf Anschauungen der Erfahrung auf. Der deduktive Charakter der mathematischen Methode hat vielfach über ihr Wesen getäuscht, sie als reine Vernunftwissenschaft erscheinen lassen, für die sie Kant nahm, und die Philosophie hat andrerseits vergeblich versucht, sich mit mathematischer Methode aufzuhelfen. Mathematik und Philosophie berühren sich nur wenig. Die Aufgaben der Philosophie sind viel reicher als die der Mathematik. Sie will ein Weltbild liefern und nicht nur Quantitätsverhältnisse bestimmen; aber es gibt ein Grenzgebiet beider Wissenschaften, die Klarlegung des Wesens von Zahl, Raum, Zeit, Bewegung, Kraft usw. Hier greifen sie ineinander. Pythagoras (580 bis um 500) wollte allerdings das Wesen aller Dinge in der Zahl finden und so Mathematik und Philosophie auf ein Prinzip zurückführen, Platon (427-347), der keinen Nichtmathematiker (ageômetrêtos) als Schüler aufnehmen wollte, faßte ebenfalls gelegentlich die Ideen als Zahlen auf, und die Neuplatoniker schlössen sich noch enger an die pythagoreische Lehre an. Descartes, Spinoza, Leibniz, Wolf strebten danach, der Philosophie durch mathematische Methode, die ersteren beiden durch geometrische Methode, die letzteren durch einen calculus universalis, mehr Evidenz zu geben, und Herbart (1776-1841) hat die Mathematik besonders auf die Psychologie angewandt, ohne überhaupt eine Maßeinheit für psychologische Größen zu besitzen. Aber gerade die Geschichte der Philosophie zeigt, daß die Verirrung in mathematische Spekulationen und die Anwendung der mathematischen Methode dem Philosophieren eher hinderlich als förderlich ist. Kant hat demgemäß in der Kritik der reinen Vernunft im II. Teile in der Methodenlehre (I. Abschn. v. d. Disziplin d. r. V.) scharf die Methode der Mathematik und Philosophie geschieden. Mathematik ist ihm Wissenschaft aus der Konstruktion der Vernunftbegriffe in der Anschauung, Philosophie Wissenschaft aus reinen Vernunftbegriffen. Vgl. Zahl. G. Michaëlis, über Kants Zahlbegriff. 1884. Über Stuart Mills Zahlbegriff. 1888.