Natur
Natur (lat. natura v. nasci = geboren werden) bezeichnet allgemein alles, was ohne fremdes Zutun so ist, wie es sich darstellt, also sich nach den ihm innewohnenden Kräften und Gesetzen entwickelt. So spricht man von der Natur der Dinge, der Planeten, der Elemente der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, ja auch des einzelnen Menschen. Die Natur ist überall der Gegensatz zum künstlich oder absichtlich Gemachten, mithin das Gegenteil von der Kultur, Kunst und Erziehung, ferner von der Absicht, Freiheit, Sittlichkeit. Von den älteren Philosophen haben namentlich die Stoiker die Natur als die Richtschnur des menschlichen Handelns angesehen (naturam sequi), von den neueren hat vor allem J. J. Rousseau (1712-1778) die Natur im Gegensatz zur Kultur und Erziehung gepriesen. Ihm ist die erste Regel der Erziehung, die Natur zu beobachten und den Weg zu verfolgen, den sie vorzeichnet. – In der Wissenschaft stellt man meist die Gebiete der Naturwissenschaften und der Geschichtswissenschaften einander gegenüber. Die Naturwissenschaften umfassen alles, was im Raume gegenwärtig existiert, die Geschichtswissenschaften alles, was in der Zeit vor uns geschehen ist. Jene suchen das Allgemeine, diese das Einzelne zu erfassen. Beide Gebiete haben aber auch viel Gemeinsames; denn alle Gegenstände der Natur waren auch schon früher, und alle Ereignisse der Geschichte müssen irgendwo geschehen sein. Auch jedes Naturobjekt hat seine Geschichte, wie umgekehrt alle historischen Begebenheiten ihre Naturseite haben. Zwischen Naturgesetzen und geschichtlichen Gesetzen ist aber ein Unterschied. Die Naturgesetze sind Formeln für die kausale Stetigkeit des Geschehens, die historischen dagegen, weil sittliche, schließen auch den Begriff der praktischen Willensfreiheit in sich ein. Vgl. Geschichte.
Faßt man den Begriff der Natur konkret, so heißt alles, was durch die äußeren Sinne wahrnehmbar ist, Natur. Je nach seiner Bildung und Weltansicht steht der Mensch der Natur verschieden gegenüber, entweder praktisch oder ästhetisch oder theoretisch. Auf dem ersten Standpunkt sucht sie der Mensch seinen Zwecken zu unterwerfen, sie zum Organ seiner Tätigkeit zu machen, sie auszunutzen und zu beherrschen. Auf dem zweiten Standpunkt faßt er sie mit seinem Gefühl auf. Seine Phantasie bevölkert sie mit lebenden Wesen, indem er ihre Produkte und Kräfte personifiziert. So entstand die Naturreligion und Mythologie. Diese halb grauenvolle, halb anheimelnde Vorstellung von der Natur als der Mutter alles Lebendigen, der geheimnisvollen Macht ist ebenso religiös als poetisch. Allmählich aber traten an Stelle jener Phantasien Begriffe, an Stelle der Personifikationen Naturgesetze, und die theoretische Erforschung der Natur begann, die wieder die Herrschaft des Menschen über die Naturkräfte steigerte. Die Griechen setzten mit klarer Naturforschung ein, das Mittelalter mied die Natur wieder, erst die Neuzeit entwickelte die Naturforschung im vollen Umfange, und im 19. Jahrhundert hat die Naturforschung große Macht und Ausdehnung gewonnen; man hat jetzt die Natur als einen festen, unveränderlichen Gesetzen unterworfenen Mechanismus von unverlierbarer Masse und Energie anzusehen gelernt, von dem jeder Zufall, jeder Verlust und jede Zutat ausgeschlossen ist. – Die Stellung der Philosophie und Religion zum Begriffe Natur ist, wie leicht begreiflich, eine sehr vielfach wechselnde gewesen. Ein Teil der Philosophen sah in der Natur das Wirkliche, so die Hylozoisten, Herakleitos, Empedokles, die Atomisten, Epikur, die französischen Materialisten des XVIII. und die Naturalisten des XIX. Jahrhunderts. Die Religion der Griechen schrieb den Göttern nicht die Erschaffung, sondern nur die Ordnung der Natur zu. Das Judentum und das Christentum sah in der Natur Gottes Schöpfungswerk (natura creata, natura naturata), die Stoiker, Spinoza, Goethe, Schelling u. a. betrachteten die Natur und Gott als eins (deus sive natura, Gott – Natur). Für die Eleaten, Platon, Fichte u. a. war die Natur eine Scheinwelt, ein Nichtseiendes, ein Nicht-Ich. Aristoteles (384-322) sah in ihr ein nochnichtseiendes, aber die Möglichkeit des Seins in sich Schließendes; Kant (1724-1804), der sie am strengsten dem Gesetze der Kausalität unterordnete, reduzierte sie auf die Welt der Erscheinungen, deren. Wesen unbekannt ist; Hegel (1770 bis 1831) faßte sie als den Geist in seinem Anderssein. Platon (427-347) und das mittelalterliche Christentum standen der Natur mit ethischer Abneigung gegenüber, J. J. Rousseau (1712-1778) mit der entgegengesetzten Gesinnung. Im allgemeinen ist die neuere Philosophie naturfreundlich geworden.
An der exakten Durchforschung des einzelnen in der Natur arbeiten, alle Zweige der Naturwissenschaften. Die Idee der Natur als, Ganzes auszubilden ist die Sache der Naturphilosophie. Der ungeheure Nutzen der Naturforschung für die Praxis und für die Kultur liegt klar zu Tage, aber auch die dichterische und religiöse Erhebung und die Empfänglichkeit des Menschen für Natureindrücke leidet nicht darunter. Im Gegenteil, die Größe und Schönheit der Natur bewundern wir Neueren mehr als die Alten. Endlich ist der Fortschritt der Naturwissenschaft auch für die Philosophie wichtig. Denn diese hat die exakten Resultate jener als Grundlage zur Aufstellung ihrer Weltanschauung zu verwerten. Vgl. Naturphilosophie.