Seele und Bewußtsein
In unzweideutigster Weise ist die Unwirklichkeit des Seelenbegriffs nach Lange, Taine, Spencer, Höffding und Wundt von Jodl ausgesprochen worden (Lehrbuch der Psychologie S. 31 u. f.). Die Summe der in der inneren Wahrnehmung gegebenen Bewußtseinserscheinungen pflege man unter der substantivischen Bezeichnung "Seele" zusammenzufassen. "Jeder Versuch, die logisch-grammatikalische Geltung dieses Ausdrucks in eine ontologische zu verwandeln, und die Seele der Gesamtheit dessen, was im Bewußtsein vorgeht, als reales Subjekt und dem physischen Organismus als eine von demselben verschiedene, selbständige und trennbare Substanz gegenüber zu stellen, verwickelt in unlösbare Schwierigkeiten und muß von der Wissenschaft auf das entschiedenste zurückgewiesen werden." Die Seele habe nicht Zustände wie Denken, Vorstellen u. s. w., sondern diese Zustände in ihrer Gesamtheit seien die Seele; wobei freilich alle diese Zustände wieder nur Abstraktionen und nicht die letzten Wirklichkeiten sind. Nun ergibt sich aber sofort die neue sprachliche Unbequemlichkeit, daß gerade diejenigen Forscher und Denker, welche das alte Seelengespenst bekämpfen, gern auf den Begriff "Leben" hinweisen, welcher ebenso nur die Gesamtheit der physiologischen Erscheinungen durch ein substantivisches Wort vertreten soll, daß aber gerade viele von diesen Forschern und Denkern mit dem Panpsychismus spielen und so die Grenzlinien zwischen Seele und Leben verwischen. Es ist einzig und allein Sache der menschlichen, also willkürlichen Definition, ob man nur bei den Tatsachen der menschlichen Selbstbeobachtung von einer Seele reden, oder ob man eine Seele der einfachsten organisierten Materie zusprechen will oder nicht. Wenn man mit Jodl von Bewußtseinserscheinungen spricht, so hat man schon bei der Definition den Menschen vor Augen gehabt, und so ist auch dieser gereinigte Seelenbegriff wieder ganz anthropomorphisch geworden. Anthropomorphisch wäre diese Beschränkung der psychischen Tatsachen auch dann, wenn Bewußtsein nicht ein neues Gespenst wäre, wenn wir wissenschaftlich mit dem Bewußtsein etwas anzufangen wüßten; denn wir kennen besten Falls nur ein menschliches Bewußtsein, insoweit wir ein Analogen zu unserem individuellen Ichgefühl bei anderen Menschen voraussetzen. Bereits von dem Analogon zum menschlichen Bewußtsein, das wir uns bei den klügsten Tieren vorstellen, besitzen wir kein irgend faßbares Bild, wie wir auch von dem Bewußtsein eines Säuglings keine Kenntnis haben. Dazu kommt noch, daß das Schlagwort von einem Parallelismus zwischen Seele und Leib unmöglich auf einen Parallelismus zwischen Bewußtsein und Gehirn ausgedehnt werden kann; denn jedermann weiß, daß nicht alle Gehirnvorgänge, geschweige denn alle Nervenvorgänge von Bewußtsein begleitet sind. Es geht also nicht an, die Seele als die Gesamtheit von Bewußtseinserscheinungen zu definieren. Die Psychologie hat eben, wie früher gesagt, immer noch eine vorwissenschaftliche Terminologie und kann zur Formulierung ihres ersten Satzes nicht gelangen, bevor sie die Zweifel an ihrem ersten Worte nicht überwunden hat. Alle Versuche, die psychischen Tatsachen durch Beobachtungen physischer Tatsachen aufzuklären, werden immer zu dem gleichen Ergebnisse führen, welches John Locke vor mehr als zweihundert Jahren ausgesprochen hat: "Deshalb dürften die von der Sinnes- und Selbstwahrnehmung empfangenen einfachen Vorstellungen die Grenzen unseres Denkens bilden; darüber hinaus kann die Seele trotz aller Anstrengung nicht einen Schritt weiter kommen und nichts entdecken, wenn sie über die Natur und die verborgenen Ursachen dieser Vorstellungen grübelt . . . Somit steht es, wenn man die Vorstellungen von Körper und von Geist miteinander vergleicht, so, daß die Substanz des Geistes so unbekannt ist wie die des Körpers" (II. Kap., 23, § 29, 30). Locke war der erste Philosoph, der psychologische Sprachkritik trieb, also nach Sokrates wieder der erste Philosoph; an anderer Stelle will ich versuchen, ihn in seine historischen Rechte einzusetzen, im Widerspruch zu der Gewohnheit deutscher Philosophiegeschichte.
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