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Betonung

Unsere Grammatik ist so roh, dass sie nicht einmal der Sprache beizukommen weiß. Sie hält sich eben nicht an die lebendige Sprache, sondern an die schriftlich fixierte, an den toten Leichnam der Sprache und versteht ihren Bau so wenig, wie der Anatomieschüler den lebendigen Organismus versteht. Der ganze Apparat der Betonung ist ihr unzugänglich. Und ich fürchte, die schriftliche Fixierung der Sprache wird die Sprachen tonlos machen, wie sie sie dialektlos gemacht hat. Wozu auch betonen? Die Bücher sind fast nie betont (hie und da nur ein Wort durch gesperrten Druck) und man versteht sie doch. Schon hat man sich gewöhnt, Fragen und Verneinungen durch Wortstellung tonloser zu machen. Wie wichtig die Betonung ist, und wie alle ihre Feinheiten der Grammatik entgehen, mache man sich an einem Beispiel klar.

"Ich habe dich nicht geliebt" kann heißen: "ich h. d. n. g., sondern du hast mich verführt." Oder: "I. habe d. n. g., ich liebe dich noch." Oder: "I. h. dich n. g., sondern deine Schwester." Oder: "I. h. d. nicht g., wenn ich es auch geglaubt habe." Oder: "I. h. d. n. geliebt, sondern dich aus anderen Gründen geheiratet."

So hat der für die Schrift identische Satz völlig verschiedenen Sinn, ohne dass seine grammatischen Formen sich scheinbar geändert hatten. In Wirklichkeit war das psychologische Prädikat immer ein anderes. Ausgesagt, prädiziert wurde immer, worauf das Denken aufmerksam eingestellt wurde, was darum auch schärfer zu Gehör gebracht wurde, wie Bilder im Fleck des deutlichsten Sehens schärfer geschaut werden.

Es gibt in der Sprache viele Worte (besonders Verneinungen, wie: nichts, kein, niemand, niemals, aber vielleicht auch Worte wie: Sein, Gott, Unendlichkeit), die betont, im musikalischen Zusammenhang des Satzes etwa noch einen Sinn haben können, die aber völlig leer werden, sobald sie tonlos, als Begriffe für sich auf dem Papier stehen.

Wir nennen die deutliche Erinnerung an einen Sinneseindruck, eine Beobachtung (im Gegensatze zu der undeutlichen Erinnerung, dem Glauben), unser Wissen von einer Sache. Die Etymologie des Wortes ist ungewöhnlich klar. Es ist ein ursprüngliches Perfektum zu dem Begriffe "sehen" (Band I², S. 294); was ich gesehen habe, das "weiß" ich. All mein "Wissen" ist "Gesehen haben", ist Erinnern. Durch die Endsilbe "schaff nun wird diese einfache Tatsache, dass wir Menschen Erinnerungen besitzen, zu einem feierlichen Abstraktum; der Begriff wird verdächtig. Wissenschaft" will ein höheres Wissen sein, ein System von Wissen, ein in sich selbst zurückkehrender King von Wissen, eine wissende Schlange, die sich in den Schwanz beißt. Es ist der Grundirrtum aller Wissenschaft, zu glauben, dass Ende und Anfang sich finden werden.

Was Wissenschaft vermag, ist doch immer nur: eine Übersichtlichkeit über die Erinnerungen herzustellen. Das Mittel der Übersicht ist die Sprache, die ihrem Wesen nach klassifiziert und klassifizierend erinnert. Schlimm für den Menschen, wenn er die Sprache selbst zum Gegenstande einer Wissenschaft zu machen wagt; Gegenstand der Erinnerung und Zeichen der Erinnerung, Stoff der Erkenntnis und Form der Erkenntnis fallen dann zusammen. Wie soll da das Gefäß den Inhalt fassen? Ist es nicht, als ob man ein Holzfeuer in einem hölzernen Ofen anzünden wollte? Muß das Innere nicht das Äußere zerstören? Oder soll ich lieber an die Zuckerbäcker denken, die in den Straßen der Stadt Gefrorenes verkaufen und dazu Tellerchen und Löffel aus Zuckerschaum? Die Kinder essen den Löffel und den halben Teller auf, bevor das Eis noch verzehrt ist.

Wie bei jeder anderen Wissenschaft", so ist es auch bei der Sprachwissenschaft nicht in der Natur, sondern nur in unserem Interesse begründet, ob wir das Gebiet so oder so abgrenzen, ob wir unsere Beobachtungen so oder so ordnen wollen. Ist es doch sogar von unserem Interesse abhängig, ob wir an dieser Feder z. B. sehen, dass sie leicht, dass sie blau, dass sie feucht, dass sie weich oder dass sie elektrisch sei. Es wird uns nicht überraschen, dass die Erinnerung an das Sehen (das Wissen) absichtsvoll, unnatürlich, interessiert, menschlich sein müsse, wenn das Sehen selbst so ist. Alle guten Kegungen treiben uns an, Einsicht zu suchen; aber die Einsichten gehen immer auf Sinneseindrücke zurück, und die immer auf Absichten. Es ist demnach auch in der Sprachwissenschaft bloß ein Werk des augenblicklichen Augenmerks, ob wir sie zu den historischen Wissenschaften und da etwa zur Anthropologie oder Ethnographie rechnen wollen oder ob wegen der Lautphysiologie zu den Naturwissenschaften.

Dabei ist gar nicht in Betracht gezogen, dass "Sprache" selbst ein höchst vieldeutiges Wort ist. Es kann mein augenblickliches Sprechen bedeuten ("was ist das für eine Sprache?"), im Gegensatz zu allen anderen Worten, die je irgendwo gebraucht worden sind. Es kann meine Individualsprache (ein Abstraktum!) bedeuten im Gegensatze zu der Sprache meiner Horde, meiner Landschaft, meines Volkes; es ist dann offenbar eine Zusammenfassung von Äußerungsgewohnheiten. Es kann aber auch nur das sogenannte Sprachvermögen bedeuten.