System der Wissenschaften
Auch die Sprachgeschichte ist doch nur die Gesamtheit der Wirklichkeitswelt, von einem beschränkten Gesichtspunkte aus gesehen. Dazu kommt, dass das Wort Wissenschaft regelmäßig schon eine Abstraktion bezeichnet von zahlreichen Versuchen, einzelne Erscheinungen zu beschreiben oder zu erklären. Was dabei die Wissenschaft ausmacht, das ist die Tatsache, dass zwischen den Erscheinungen Ähnlichkeiten bestehen und darum auch zwischen den Beschreibungen oder Erklärungen. Es handelt sich also in jedem einzelnen Falle um kleinste Erscheinungen der Sprache. Handelt es sich aber nur um die Frage, warum z. B. ein Vokal, der vor 2000 Jahren kurz ausgesprochen wurde, jetzt um den Bruchteil einer Sekunde länger ausgesprochen wird (was man dann Dehnung nennt), so muß die Sprachgeschichte zur Beschreibung alle möglichen Wissenschaften aufs Speziellste bemühen. Zuerst die Physiologie, weil ohne Kenntnis der Sprachwerkzeuge die mit der Dehnung gewöhnlich verbundene Änderung des Vokals nicht zu beschreiben wäre; dann die Psychologie und wohl auch die Philosophie, weil mit der Dehnung ein Bedeutungswandel vor sich gegangen ist, der ohne diese Geisteswissenschaften nicht zu erklären wäre; dann wohl alle die höchst irdischen Wissenschaften, welche den höchst unklaren Begriff Klima umgeben, weil nach der Mode unserer Jahrzehnte das Klima einerseits für die Physiologie, anderseits für die Psychologie verantwortlich gemacht wird; dann wieder die Mathematik, weil die Größe der Dehnung ohne Mathematik nicht ziffermäßig festgestellt werden könnte. In dieser Aufzählung, die nur eine beispielmäßige ist, habe ich wiederum die Psychologie zu den Geisteswissenschaften gerechnet; und der Anstand schon scheint zu gebieten, dass man die Wissenschaft vom menschlichen Geiste zu den Geisteswissenschaften rechne. Nur dass die Psychologie selbst verzweifelte Anstrengungen macht, sich zu den Naturwissenschaften hinüber zu retten, und wenn es mit dem minimalsten Gepäck auch nur auf einen Strohhalm geschähe. So müssen die Spezialwissenschaften bei der kleinsten Einzeluntersuchung förmlich frikassiert werden; und es steigt der Verdacht auf, dass ihre systematische Einteilung wirklich nur ein Armutszeugnis des Menschengehirns sei. Die Enge des menschlichen Bewußtseins zwingt zu solchen Auskunftsmitteln.
Man hat die Sprachwissenschaft, also die Sprachgeschichte insbesondere darum den Geisteswissenschaften zuzählen wollen, weil die Sprache nicht eine Schöpfung der Natur, sondern des Menschen wäre. Wenn ich mir bei solchen Worten nur etwas denken könnte! Doch ich will es versuchen, auch dieses Schema mitzudenken. Sprachgeschichte oder Sprachwissenschaft steht dann neben Philosophie, Philologie und Geschichte in der Reihe der stolzen Geisteswissenschaften. Lassen wir die Philosophie beiseite, — um nicht unhöflich zu werden. Was man aber gewöhnlich Philologie nennt, die Beschäftigung mit den schriftlichen Denkmälern unserer und der älteren Kultursprachen, ist dann wieder doch offenbar nur ein Teil oder eine Hilfswissenschaft der Sprachgeschichte. Und die Sprachgeschichte, das heißt die Summe aller sprachlichen Erscheinungen auf Erden, ist wieder nur ein Teil unserer Kenntnis von den menschlichen Abenteuern der allerjüngsten Zeit, der letzten zwei- bis viertausend Jahre. Es würde demnach der Begriff der Geisteswissenschaften am Ende mit dem hochmütigen Menschenbegriff der Weltgeschichte zusammenfallen. Wer da nun glaubt, dass die Geschichte der Menschheit von dem Willen, von dem bewußten Willen einzelner Menschen abgehangen habe, der mag auch glauben, dass die Sprachgeschichte den Willen einzelner Menschen darstelle und darum eine Geisteswissenschaft sei. Wie aber, wenn die gesamte Menschengeschichte und die Sprachgeschichte dazu nur die Zeitfolge ist von Billionen einzelner Handlungen, welche, bewußt oder unbewußt, von ebensoviel Billionen Gefühlen begleitet waren, die wir heute den Willen nennen? Wie, wenn die Geschichte der Pflanzenwelt auf der Erde — sicherlich eine noch längere also darum vornehmere Geschichte als die der Menschen — sich ebenfalls auffassen ließe als eine Zeitfolge von unaussprechbar vielen Lebenserscheinungen, von Veränderungen also, die ebenfalls von irgendwelchen Lebensgefühlen begleitet gewesen sein mögen, die ja ein Schopenhauer ebenfalls den Willen genannt hat? Wie, wenn die Freiheit des Willens, die doch also die Menschengeschichte von der Naturgeschichte als eine Geisteswissenschaft von der Naturwissenschaft scheiden soll, ein unbestimmtes, ein nichtssagendes Wort ist? Was fangen wir dann mit der Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften an?