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Chinesisch

Die Auffassung, dass die flexionslose chinesische Sprache, welche wegen der Einsilbigkeit und Starrheit ihrer Worte so lange für den Typus der primitivsten Sprachen gehalten wurde, im Gegenteil eine höchst abgeschliffene Sprachstufe darstelle, dass die englische Sprache mit ihrer Tendenz, die Bildungssilben zu vernichten, einer ähnlichen Abgeschliffenheit zustrebe, diese Auffassung scheint schon vor mehr als vierzig Jahren von dem Engländer Edkins ausgesprochen worden zu sein. Lepsius und Friedrich Müller sind zu ähnlichen Ergebnissen gelangt.

Es ist überhaupt ein eigen Ding um die chinesische Sprache. Wenn die Formen oder Kategorien Bedingung eines logischen Sprechens oder Denkens wären, so müßte das chinesische Volk tief unter den Kaffern, den Bantu und anderen sogenannten Wilden stehen. Nun aber stimmen alle Berichte darin überein, dass die Chinesen zwar seit langer Zeit stehen geblieben sind, dass sie aber früher mit eben dieser Sprache — man kann wohl sagen — an der Spitze der Zivilisation marschierten. Und was ich aus Übersetzungen von der chinesischen Literatur kenne, das scheint mir allerdings mit den besten semitischen und indogermanischen Büchern über Religion und Philosophie etwa gleichwertig zu sein, wenn ich nur die erkenntnistheoretischen Schriften der letzten Jahrhunderte ausnehme. In seinem wurzelisolierenden Chinesisch hat Konfutse nicht minder weise gesprochen oder geschrieben als die Verfasser der Veden, des Alten und Neuen Testaments, des Koran in ihren flexionsreichen Sprachen.

Nun ist das moderne Chinesisch übrigens etwa vom Deutschen gar nicht so arg verschieden. Auch dort hat jede Landschaft ihren eigentümlichen Dialekt, auch dort gibt es eine gemeinsame Sprache aller Gebildeten, wohl ein Beamtenchinesisch. Als ob unser gemeinsames Hochdeutsch nicht auch ein Kanzleideutsch gewesen wäre, bevor es unser Bibeldeutsch wurde! Da spricht man aber immer von dem chinesischen alten Stil, dem "kü wen", das sich von der Umgangssprache wesentlich unterscheiden soll. Aber auch wir haben so einen alten Stil im Jargon der Prediger und in der Gerichtssprache, auch wir haben die altertümelnden Romane von Gustav Freytag, auch wir hören bei Reichstagseröffnungen und Grundsteinlegungen, auch wir hören von Richard Wagner und seiner Schule kü wen, bewußte Archaismen, die der einfache Mann nicht versteht. Und neuere Kenner des Chinesischen erklären ausdrücklich, dass das Verhältnis des kü wen zur Umgangssprache nicht viel anders sei als bei uns.

Ich werde behaupten und werde es bis zur Ermüdung wiederholen, dass auch in unseren Sprachen nicht die Worte den Satz oder den Gedanken erklären, dass vielmehr der Gedanke oder der Satz seine Worte erklärt. Ich will damit lehren und beweisen, dass alle Grammatik mit ihrer Satzbildung, aber auch alle Logik mit ihrer Schlußbildung die Wirklichkeit buchstäblich auf den Kopf stellt, auf das Gehirn, auf die Sprache. Diese Lehre widerspricht (und muß widersprechen) so sehr unserer Gehirngewohnheit, dass darüber zumeist der Leser seinen Kopf oder sein Gehirn oder seine Sprache schütteln wird. Und doch hat Konfutse seine Weisheit (die freilich nur Ethik war) in einer Sprache geschrieben, in der zugestandenermaßen der Satz das Wort erklärt. Denn wie soll ich es anders nennen, wenn ich erfahre, dass im klassischen Chinesisch die sogenannten Wurzeln aneinander gefügt werden ohne jede Flexion und so der Sinn der Teile erst aus dem Sinn des Ganzen hervorgeht? Und unsere Flexionssprache, welche anstatt "Minister Dienst Fürst" oder "Leiten Dienen Herrschen" so viel bequemer sagt "der Minister dient dem Fürsten" — unsere Sprache ist nur bequemer, handlicher, angepaßter: klüger ist sie nicht. Unser Stiefel schmiegt sich dem Fuß weicher und genauer an als der Kommißstiefel, den sich der Rekrut erst nach seinem Fuß zurecht treten muß, aber organisch ist auch unser elegantester Damenstiefel nicht. Es ist und bleibt fremdes Leder.

Dass das moderne Chinesisch langsam dazu gekommen ist, diese unbequeme Denk- oder Sprechweise durch allerlei Formwörter zu verflüssigen, während unsere Sprachen (wie das Englische beweist) dahin streben, die Formen zu verlieren, eckiger, chinesischer zu werden, — das sollte uns wieder vor indogermanischem Hochmut bewahren.

Auch die strenge Ordnung der logischen Redeteile, z. B. von Subjekt, Prädikat und Objekt, wie sie den Chinesen beim Verständnis seiner Satzblöcke unterstützen soll, ist weder dem Chinesischen eigentümlich noch eine Notwendigkeit für solche flexionslose zyklopische Sprachen. Freie Wortstellung (wenn ich von der für mein Gefühl unerträglichen Freiheit der lateinischen Dichter, besonders Ovids, absehe) besitzen nicht nur das Griechische und Deutsche mit ihren reichen Formen, sondern auch das formlose Englisch, die Franzosen jedoch mit ihren armseligen Formen (namentlich in der Deklination) sind an eine chinesische Wortordnung gebunden.

Es kann nicht wahr sein — ich verstehe kein Chinesisch und folge hier nicht immer den Anschauungen, aber den Mitteilungen von Gabelentz — es kann nicht wahr sein, dass der Chinese durch die Ordnung seiner Wurzelblöcke erst die grammatikalische Bedeutung und dann den Sinn der Worte erfahre. Was geht den Chinesen die Lokalgrammatik der Europäer an? Und auch wir, was hilft uns die Grammatik? Ein Schuhleisten ist sie uns, um unbequeme Stiefel aufzuschlagen, nicht mehr. "Holzbirnen schmecken schlecht": versteht der einfache Mann diesen Satz darum irgendwie weniger, weil er nicht weiß, ob "schlecht" Adjektiv oder Adverb ist? Und wenn wir "Holzbirnen" sagen oder "Arbeiterversicherungsanstalt", wissen wir dann besser als die Chinesen, ob die einzelnen Blöcke so zusammengesetzter Worte Substantive, Verben, Adjektive oder sonst etwas sind?

Misteli sagt (Typen des Sprachbaus 180): "Für die sichere Auffassung chinesischer Texte sei die Grammatik ebensowenig als irgendwo sonst ausreichend; genaue lexikalische Kenntnis und überhaupt Vertrautheit mit dem chinesischen Geiste müssen sie unterstützen"; da hat Misteli den Schlüssel schon in der Hand, ebenso wie Gabelentz, um das Tor zu meiner Lehre aufzuschließen; nur dass er den Schlüssel vor lauter Gelahrtheit nicht zu gebrauchen wagt. Lexikalische Tatsachen und den Geist eines Volkes muß man kennen, um seine Sprache zu verstehen, in Paris und London und Deutschland, wie in China. Wörterkenntnis aber muß Sachkenntnis sein, sonst ist sie blödsinnig. Wer also eine Sprache verstehen will, wer Erinnerungen mit anderen Menschen austauschen will, der muß mit diesen anderen erst gemeinsame Erinnerungen an eine gemeinsame Wirklichkeitswelt besitzen.