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Krankheit

Man hüte sich doch, namentlich in der Sprachphilosophie, einen Begriff anzuwenden, den niemand zu definieren vermag. Die ganze interessante Geschichte der Medizin hat uns bis zur Stunde nicht gelehrt, was Krankheit eigentlich sei. Kein Mensch versteht unter Krankheit ein anormales Verhalten, solange es nicht schmerzhaft oder gefährlich ist. Die Wissenschaft steht im Grunde heute noch auf dem Standpunkte der Umgangssprache. Nach dieser wäre Krankheit etwa das, was weh tut oder woran man sterben kann, wo dann freilich "was" einen Zustand bedeutet, also ein schwer faßbares Abstraktum. Eine Kritik der medizinischen Begriffe würde zeigen, wie sehr die Wissenschaft heute noch in gelehrtem Schwulst denkt und spricht. Die Angehörigen eines Sterbenden verstummen ehrfurchtsvoll, wenn der studierte Arzt ihnen gesagt hat, es habe z. B. der Krebs (wieder nur ein Wort für schlecht beschriebene und gar nicht erklärte Erscheinungen) zu einer Kachexie geführt und an der Kachexie werde der Kranke sterben. Kachexie heißt aber auf Deutsch "ein schlechter Zustand", nichts weiter.

Mit dem Begriff Krankheit ist also in der Sprachphilosophie ebensowenig anzufangen wie mit dem Namen einer bestimmten Krankheit am Krankenbett. Noch schlimmer aber erscheint uns die Vergleichung der Kindersprache mit der Sprache der Geisteskranken, wenn wir die Bedeutung der Kindersprache für die Aufklärung der Ursprache erwägen. Nicht Krankheit oder Schwäche ist es, was in dem jungen Kindergehirn zu den Versuchen führt, aus Zufallslauten eine persönliche Ursprache zu bilden, wie es nicht Krankheit und Schwäche war, was in Urzeiten der beginnenden Menschheit aus Zufallslauten die individuellen Ursprachen erschuf. Weit eher könnte man das gegenwärtige Stagnieren der Kultursprachen, die Langsamkeit in ihrem Lautwandel ein Zeichen von Alterschwäche nennen. Blühende Kraft muß es gewesen sein, was ureinst die Menschheit antrieb, die Enge der ererbten Tiersprachen zu überwinden und die Laute des menschlichen Sprachinstruments zu immer reicheren Mitteilungen zu benützen. Und dann — als nach langer, langer Arbeit von ungezählten Generationen einzelne Menschenstämme phylogenetisch den geistigen Standpunkt eines dreijährigen Kindes von heute erreicht hatten, als ein beträchtlicher Wortschatz vorhanden war und der Anfang von dem, was wir jetzt grammatische Kategorien nennen, als die Ursprachen im weiteren Sinne vergleichsweise in der Epoche standen, in welcher heute ein Kulturkind von vier bis sechs Jahren die sichere Beherrschung des Sprachschatzes und der Wortformen erwirbt, da war es blühende Kraft, was die Sprachen ausgestaltete. Dichterische Kraft ist das Zeichen dieser Epoche im Kinde wie im Leben der Menschheit. Wir mögen lächeln über die sogenannten Unrichtigkeiten. Für uns Erwachsene, die wir das Alter der natürlichen Poesie überschritten haben, ist es drollig, wenn ein Kind die Einzahl von Ameisen in "Amaus" sieht. Wenn ein anderes Kind "Arrhö" sagt, weil es die erste Silbe Di für den Artikel "die" hält. Wir aber wissen, dass die Entwicklung der Sprache auf einer unendlichen Zahl solcher sogenannten Unrichtigkeiten beruht. Wenn die Araber Städtenamen, die an Alexander den Großen erinnern (Iskanderieh — Alexandria, Iskanderun—Alexandrette) mit Iskander beginnen lassen, weil sie die erste Silbe Al mit dem semitischen Artikel verwechseln, so sprechen sie ebenso, wie das Kind das Arrhö sagte. Blühende poetische Kraft leitet die Ausbildung der Kindersprache und war bei der Entwicklung der Ursprachen tätig. Je härter wir es empfinden und je dürrer wir es aussprechen, dass unsere Sprachen nicht geeignet sind, mit ihrer Hilfe oder in ihrer Fassung die Welt zu erkennen, desto ernster müssen wir begreifen, dass es vom historischen Standpunkte aus eine ungeheure Tat war, als die werdende Menschheit sich zur Orientierung in der Wirklichkeitswelt Ursprachen erschuf. Auch die Erfindung des Kompasses, der zur Orientierung auf der hohen See dient, war eine Tat, mögen auch die Bewegungen der Magnetnadel nichts über das Wesen des Magnetismus verraten.

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