Abkürzung der Entwicklung
Wollen wir jedoch nicht von einer metaphysischen Abstraktion namens Sprache reden, wollen wir nicht vergessen, daß es als etwas Wirkliches höchstens Individualsprachen gibt, so müssen wir noch einmal genauer darauf achten, was es eigentlich heiße, wenn man sagt: Der einzelne Mensch lernt mit der Sprache in wenigen Jahren die Erfahrungen von Jahrhunderten oder Jahrtausenden.
Es hat nach der gegenwärtigen Naturauffassung gewiß auch Jahrtausende gedauert, bevor das sich entwickelnde Lebewesen, welches vielleicht dereinst nur schwimmen oder kriechen konnte, in seiner menschlichen Form den aufrechten Gang auf den beiden rückwärtigen Gliedmaßen erlernte. Es hat gewiß Jahrtausende gedauert, bevor der Gebrauch des Feuers auf das Garmachen der Speisen Anwendung fand. Heutzutage kann jede Köchin Kartoffeln kochen. Heutzutage lernt jedes Kind, wenn erst Knochen und Muskeln die nötige Kraft haben, gehen; es kürzt die jahrtausendelange Entwicklung so sehr ab, daß es oft binnen wenigen Tagen laufen lernt. Es scheint, als ob einzig und allein in der Möglichkeit dieser Abkürzung der Fortschritt der Menschheit bestehe.
Es war für die Menschen von außerordentlicher Wichtigkeit, daß sie laufen lernten und die Arme für andere Erfindungen frei bekamen. Es war für die Menschen ebenfalls von großer Wichtigkeit, daß sie ihre Vorstellungen und Erinnerungen an äußerst leichte und bequeme Bewegungen der Sprachwerkzeuge knüpfen lernten. Alle Welt irrt aber, wenn sie glaubt, das Kind erlerne mit der Sprache seines Volkes auch die Erfahrungen des Volkes, sein Wissen und seine" Kultur. Die Sachlage ist sonnenklar und muß dennoch ausdrücklich beschrieben werden, wenn der Aberglaube an die geheime Macht der Sprache auch auf diesem Punkte gestürzt werden soll.
Die Sprache eines Volkes ist kein vollkommener Bau; sie enthält durchaus keinen übersichtlichen und geordneten Weltkatalog. (Vergl. II, 2.) Es ist eine Utopie, trotz Lullus, Wilkins und Leibniz, eine solche Weltkatalogsprache erfinden zu wollen. Denn die Sprache geht unserer Welterkenntnis nicht voraus, sondern hinkt ihr nach. Immerhin bietet die Sprache der Erfahrung dem Erwachsenen ein Mittel, seine Vorstellungen ungefähr zu gruppieren und mitzuteilen. Die unzähligen Erinnerungen an einzelne Hunde knüpft er oberflächlich genug an das Wort Hund, weiter hinauf hat er sich das Wort Tier erfunden, dann wieder die Worte: Ohren, Füße, Haare, braun, groß, laufen, bellen. Immerhin befreien ihn diese Gedächtniszeichen von dem Zwang, seine Vorstellungen jedesmal von dem Ding abhängig zu machen, welches augenblicklich auf seine Sinne wirkt. Nun aber ist der erwachsene Mensch niemals und nirgends und nicht in einem einzigen Falle im stände, irgend einem Kinde mit dem Worte allein eine Vorstellung mitzuteilen. Auch die Sprache ist kein Nürnberger Trichter. Nur die Geistesarbeit einer unendlich langen Zeit kann dem Kinde dadurch abgekürzt werden, daß es in frühester Jugend bereits gewissermaßen das Netz der Sprache mitgeteilt erhält. Mag es nachher sehen, was es damit einfängt. Eine Abkürzung der unendlich langen Sprachentwicklung findet statt, mehr nicht. Das Kind lernt sprechen, aber es lernt nicht die Sprache. Wenn man hier unter Sprache die Summe der menschlichen Erfahrungen verstehen will.