Kindersprache
Die Abkürzung der Sprachentwicklung vollzieht sich beim menschlichen Kinde ganz gewiß schon im mikroskopischen Bau der Sprachwerkzeuge, wohlgemerkt: auch des Gehirns. Das viel richtiger ein Werkzeug der Sprache hieße, als die Sprache ein Werkzeug des Denkens. Sicherlich, wenn auch für unsere grobe Beobachtung unwahrnehmbar, ist dieses körperliche Organ beim heutigen Kinde anders als beim Kinde des legendären Urmenschen. Das einjährige Kind lallt heute schon fast alle wichtigen Lautgruppen seiner Volkssprache. Es hat dann aber noch nicht sprechen gelernt, weil es noch nicht versteht, die einzelne Lautgruppe willkürlich auszuführen. Später, bis zum vollendeten dritten Jahre etwa, lernt das Kind allerdings sprechen, und es kann nach Ablauf dieser Periode schon die meisten Sätze der Erwachsenen deutlich artikulieren. Die Eltern haben ihre Freude daran, wie das Kind plötzlich den Wortlaut ganz schwieriger Begriffe nachplappert und oft ungefähr in der richtigen Anwendung. Ich habe von einem noch nicht dreijährigen Kinde einmal gehört: "Das tu' ich absolut nicht"; es hatte sich das Wort "absolut" als eine Bekräftigung so angewöhnt wie kurz vorher "Donnerwettermal".
Das Kind erlernt doch seine Sprache so, daß es Sprachstoff und Sprachformen bald zuerst mechanisch nachplappert und nachher mit Inhalt erfüllt, bald einen neuen Gegenstand zugleich mit seinem Namen kennen lernt. Im letzteren Fall besteht die Bereicherung des Wissens in dem neuen Objekt: der Name ist nur wichtig für das Festhalten im Gedächtnisse und für die Möglichkeit einer Verständigung über das abwesende Objekt. Im ersteren Falle kann man von einer Bereicherung des Wissens so lange nicht reden, als Sprachstoff und Sprachformen nicht mit realem Inhalt erfüllt sind. Für den Sprachstoff ist diese Tatsache ganz offenbar. Es kann in das Gedächtnis des Kindes (vom mechanischen Nachplappern abgesehen) nie und nirgends etwas hineinkommen, was nicht durch die Tore seiner Sinne eingetreten ist. Hätten wir nicht das Gedächtnis für unsere ersten Kinder jähre verloren, so wüßten wir, wie unvorstellbar uns die meisten gelernten Worte waren. Spricht der Vater von einem Löwen, ohne ein Bild zu zeigen, so wird das Kind sich immer nur einen großen gelben Hund vorstellen. Das wird besonders deutlich bei Märchen und Dichtungen, die die Kinder so gern hören. Sie stellen sich etwas ganz anderes vor, sie dichten selbst. Das Mißverhältnis wird nur selten entdeckt. So erfuhr ich einmal, daß das dreijährige Kind sich unter "Erdbeben" einen Mann vorgestellt hatte, der es durchbeutelte; also etwas Ähnliches wie den Seismos im zweiten Faust von Goethe. Der Nutzen des Sprachstoffs für das Kind ist also zunächst keiner, der das Wissen erweitert.
Der Nutzen, den das Erlernen der Sprachformen gewährt, ist anderer Art; sprachliche Zeichen werden da eingeprägt, nicht für konkrete Dinge, sondern für Eigenschaften, für Zustände, Tätigkeiten und Beziehungen dieser Dinge. Doch auch für diese Gruppe gilt es, daß ihre Einübung die Kenntnisse des Kindes nicht erweitern kann, daß auch von den Sprachkategorien nichts in die Seele gelangt außer durch ein Außen-tor der Sinne.
Da ist vor allem der Umstand zu bemerken, daß es nur ein Zufall genannt werden kann, wenn in unseren Sprachen die wichtigsten Beziehungen der Dinge durch Bildungssilben der Worte (Kasus des Substantivs z. B. und Zeitformen der Verben) ausgedrückt werden. In anderen Sprachen wieder gab und gibt es für die Kategorien des Raums und der Zeit, der Steigerung und der Zahl besondere Worte, während die romanischen Sprachen dadurch, daß sie die Kasus nur durch Präpositionen ausdrücken können, vielleicht zu uralten Zuständen zurückgekehrt sind. Endlich lassen sich manche Kategorien (wie der Befehl, die Bitte u. s. w.) durch Wortstellungen oder durch besondere Betonungen ausdrücken. Dem Kinde, welches sprechen lernt, muß das alles ganz gleichgültig sein. Es kennt keinen Unterschied zwischen Betonung, Wortstellung, Bildungssilbe und Wort, es lernt langsam die Sprechweise der Erwachsenen mit allen ihren Nuancen, es unterscheidet zu einer Zeit die Frage von der Aussage, wo es selbst weder fragen noch aussagen kann. Was in einem Kindergehirn bewußt vorgeht, das zu ergründen wird immer zu den schwierigsten und wichtigsten Aufgaben der Psychologie gehören. Wir müssen uns freilich hüten, unsere Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität beim Kinde vorauszusetzen, auch dann hüten, wenn der sprachliche Ausdruck für diese Kategorien schon gelernt worden ist. Ich entdeckte einmal bei dem erwähnten dreijährigen Kinde, das seine kleinere und größere Liebe sehr niedlich dadurch auszudrücken pflegte, daß es seine Händchen ganz nahe oder weiter oder so weit als möglich voneinander tat, daß es dabei immer nur an kleinere oder größere Stücke Kuchen dachte, was ja immerhin die Kategorie der Steigerung einbegriffen hätte; daß es aber, wenn es die Arme mit den Händchen ganz weit auseinander tat, dies wieder nur für das Vorspiel einer Umarmung hielt, den Superlativ also nicht begriff. Dieses Kind, dem ich auch die Beispiele "absolut" und "Erdbeben"' verdanke, ließ mich in einem anderen Falle die allerliebste Konfusion in seinem Köpfchen beobachten. Dem siebenjährigen Schwesterchen war es als eine Ungezogenheit untersagt worden, mich Fritz zu rufen. Das kleine Dorchen, das auch gern frech gewesen wäre, hörte nun, daß die Anrede "Onkel Fritz" erlaubt sei. Es hatte die Gewohnheit, wie früher Studenten die Gewohnheit hatten, jedes grobe Wort, z. B. Faulpelz, mit einem "selbst Faulpelz" zurückzugeben, jeden Tadel und jedes Scheltwort zurückzuwerfen. Es hätte noch vor kurzem "du kleiner Schelm und dergleichen" mit einem "du bist ein Schelm" beantwortet. Nun sagte ich ihm einmal: "Du bist ein Gassenjunge." Da fiel ihm ein, daß das Schwesterchen zwar nicht Fritz, aber wohl Onkel Fritz sagen durfte, und es erwiderte mir: "Darf ich Onkel Gassenjunge sagen?" Offenbar war ihm das Wort Onkel zu einer Kategorie geworden, zu einer Art Diminutivum, zu der Kategorie der Milderung. Und wir alle besitzen in der Sprache, die wir mit Kindern reden, eine solche Kategorie der Milderung, die in dem liebevollen Ton liegt, mit welchem wir Schimpfworte (Lump und dergleichen) in Schmeichelworte verwandeln.
Man wende mir nicht ein, daß eine solche Kategorie der Milderung nicht auf gleicher Höhe stehe wie die anderen Sprachkategorien, die in den Redeteilen der Grammatik ihren Ausdruck finden. Es ist das verschieden in den verschiedenen Sprachen. Im Italienischen z. B. spielen diese Kategorien der Milderung und Vergröberung (durch die Endsilben —ino, —one u. s. w. ausgedrückt) eine solch große Rolle, daß man wohl sagen kann, sie gehören in die Grammatik ebensogut wie die Steigerungskategorien des Adjektivs. Und es gibt Sprachen, in denen diese subjektiven Kategorien noch weit reicher vertreten sind. Was aber ist am Ende an den Kategorien überhaupt subjektiv und was objektiv?