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Der letzte Edelsinn

55.

Der letzte Edelsinn. — Was macht denn „edel“? Gewiss nicht, dass man Opfer bringt; auch der rasend Wolllüstige bringt Opfer. Gewiss nicht, dass man überhaupt einer Leidenschaft folgt; es gibt verächtliche Leidenschaften. Gewiss nicht, dass man für Andere Etwas tut und ohne Selbstsucht: vielleicht ist die Konsequenz der Selbstsucht gerade bei dem Edelsten am größten. — Sondern dass die Leidenschaft, die den Edeln befällt, eine Sonderheit ist, ohne dass er um diese Sonderheit weiß: der Gebrauch eines seltenen und singulären Maßstabes und beinahe eine Verrücktheit: das Gefühl der Hitze in Dingen, welche sich für alle Anderen kalt anfühlen: ein Erraten von Werten, für die die Wage noch nicht erfunden ist: ein Opferbringen auf Altären, die einem unbekannten Gotte geweiht sind: eine Tapferkeit ohne den Willen zur Ehre: eine Selbstgenügsamkeit, welche Überfluss hat und an Menschen und Dinge mitteilt. Bisher war es also das Seltene und die Unwissenheit um dies Seltensein, was edel machte. Dabei erwäge man aber, dass durch diese Richtschnur alles Gewöhnte, Nächste und Unentbehrliche, kurz, das am meisten Arterhaltende, und überhaupt die Regel in der bisherigen Menschheit, unbillig beurteilt und im Ganzen verleumdet worden ist, zu Gunsten der Ausnahmen. Der Anwalt der Regel werden — das könnte vielleicht die letzte Form und Feinheit sein, in welcher der Edelsinn auf Erden sich offenbart.