Edel und Gemein
3.
Edel und Gemein. — Den gemeinen Naturen erscheinen alle edlen, großmütigen Gefühle als unzweckmäßig und deshalb zu allererst als unglaubwürdig: sie zwinkern mit den Augen, wenn sie von dergleichen hören, und scheinen sagen zu wollen „es wird wohl irgend ein guter Vorteil dabei sein, man kann nicht durch alle Wände sehen“: — sie sind argwöhnisch gegen den Edlen, als ob er den Vorteil auf Schleichwegen suche. Werden sie von der Abwesenheit selbstischer Absichten und Gewinnste allzu deutlich überzeugt, so gilt ihnen der Edle als eine Art von Narren: sie verachten ihn in seiner Freude und lachen über den Glanz seiner Augen. „Wie kann man sich darüber freuen im Nachteil zu sein, wie kann man mit offnen Augen in Nachteil geraten wollen! Es muss eine Krankheit der Vernunft mit der edlen Affektion verbunden sein“ — so denken sie und blicken geringschätzig dabei: wie sie die Freude geringschätzen, welche der Irrsinnige von seiner fixen Idee her hat. Die gemeine Natur ist dadurch ausgezeichnet, dass sie ihren Vorteil unverrückt im Auge behält und dass dies Denken an Zweck und Vorteil selbst stärker, als die stärksten Triebe in ihr ist: sich durch jene Triebe nicht zu unzweckmäßigen Handlungen verleiten lassen — das ist ihre Weisheit und ihr Selbstgefühl. Im Vergleich mit ihr ist die höhere Natur die unvernünftigere: — denn der Edle, Großmütige, Aufopfernde unterliegt in der Tat seinen Trieben, und in seinen besten Augenblicken pausiert seine Vernunft. Ein Tier, das mit Lebensgefahr seine Jungen beschützt oder in der Zeit der Brunst dem Weibchen auch in den Tod folgt, denkt nicht an die Gefahr und den Tod, seine Vernunft pausiert ebenfalls, weil die Lust an seiner Brut oder an dem Weibchen und die Furcht, dieser Lust beraubt zu werden es ganz beherrschen; es wird dümmer, als es sonst ist, gleich dem Edlen und Großmütigen. Dieser besitzt einige Lust- und Unlust-Gefühle in solcher Stärke, dass der Intellekt dagegen schweigen oder sich zu ihrem Dienste hergeben muss: es tritt dann bei ihnen das Herz in den Kopf und man spricht nunmehr von „Leidenschaft“. (Hier und da kommt auch wohl der Gegensatz dazu und gleichsam die „Umkehrung der Leidenschaft“ vor, zum Beispiel bei Fontenelle, dem Jemand einmal die Hand auf das Herz legte, mit den Worten: „Was Sie da haben, mein Theuerster, ist auch Gehirn“.) Die Unvernunft oder Quervernunft der Leidenschaft ist es, die der Gemeine am Edlen verachtet, zumal wenn diese sich auf Objekte richtet, deren Wert ihm ganz phantastisch und willkürlich zu sein scheint. Er ärgert sich über Den, welcher der Leidenschaft des Bauches unterliegt, aber er begreift doch den Reiz, welcher hier den Tyrannen macht; aber er begreift es nicht, wie man zum Beispiel einer Leidenschaft der Erkenntnis zu Liebe seine Gesundheit und Ehre aufs Spiel setzen könne. Der Geschmack der höheren Natur richtet sich auf Ausnahmen, auf Dinge, die gewöhnlich kalt lassen und keine Süßigkeit zu haben scheinen; die höhere Natur hat ein singuläres Wertmaß. Dazu ist sie meistens des Glaubens, nicht ein singuläres Wertmaß in ihrer Idiosynkrasie des Geschmacks zu haben, sie setzt vielmehr ihre Werte und Unwerte als die überhaupt gültigen Werte und Unwerte an, und gerät damit in’s Unverständliche und Unpraktische. Es ist sehr selten, dass eine höhere Natur soviel Vernunft übrig behält, um Alltags-Menschen als solche zu verstehen und zu behandeln: zu allermeist glaubt sie an ihre Leidenschaft als an die verborgen gehaltene Leidenschaft Aller und ist gerade in diesem Glauben voller Glut und Beredsamkeit. Wenn nun solche Ausnahme-Menschen sich selber nicht als Ausnahmen fühlen, wie sollten sie jemals die gemeinen Naturen verstehen und die Regel billig abschätzen können! — und so reden auch sie von der Torheit, Zweckwidrigkeit und Phantasterei der Menschheit, voller Verwunderung, wie toll die Welt laufe und warum sie sich nicht zu dem bekennen wolle, was, „ihr Not tue“. — Dies ist die ewige Ungerechtigkeit der Edlen.