Vom Ursprung der Poesie
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Vom Ursprung der Poesie. — Die Liebhaber des Phantastischen am Menschen, welche zugleich die Lehre von der instinktiven Moralität vertreten, schließen so: „gesetzt, man habe zu allen Zeiten den Nutzen als die höchste Gottheit verehrt, woher dann in aller Welt ist die Poesie gekommen? — diese Rhythmisirung der Rede, welche der Deutlichkeit der Mitteilung eher entgegenwirkt, als förderlich ist, und die trotzdem wie ein Hohn auf alle nützliche Zweckmäßigkeit überall auf Erden aufgeschossen ist und noch aufschießt! Die wildschöne Unvernünftigkeit der Poesie widerlegt euch, ihr Utilitarier! Gerade vom Nutzen einmal loskommen wollen — das hat den Menschen erhoben, das hat ihn zur Moralität und Kunst inspiriert!“ Nun ich muss hierin einmal den Utilitariern zu Gefallen reden, — sie haben ja so selten Recht, dass es zum Erbarmen ist! Man hatte in jenen alten Zeiten, welche die Poesie in’s Dasein riefen, doch die Nützlichkeit dabei im Auge und eine sehr große Nützlichkeit — damals als man den Rhythmus in die Rede dringen ließ, jene Gewalt die alle Atome des Satzes neu ordnet, die Worte wählen heißt und den Gedanken neu färbt und dunkler, fremder, ferner macht: freilich eine abergläubische Nützlichkeit! Es sollte vermöge des Rhythmus den Göttern ein menschliches Anliegen tiefer eingeprägt werden, nachdem man bemerkt hatte, dass der Mensch einen Vers besser im Gedächtnis behält, als eine ungebundene Rede; ebenfalls meinte man durch das rhythmische Tiktak über größere Fernen hin sich hörbar zu machen; das rhythmisierte Gebet schien den Göttern näher an’s Ohr zu kommen. Vor Allem aber wollte man den Nutzen von jener elementaren Überwältigung haben, welche der Mensch an sich beim Hören der Musik erfährt: der Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füße, auch die Seele selber geht dem Takte nach, — wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter! Man versuchte sie also durch den Rhythmus zu zwingen und eine Gewalt über sie auszuüben: man warf ihnen die Poesie wie eine magische Schlinge um. Es gab noch eine wunderlichere Vorstellung: und diese gerade hat vielleicht am mächtigsten zur Entstehung der Poesie gewirkt. Bei den Phythagoreern erscheint sie als philosophische Lehre und als Kunstgriff der Erziehung: aber längst bevor es Philosophen gab, gestand man der Musik die Kraft zu, die Affekte zu entladen, die Seele zu reinigen, die ferocia animi zu mildern — und zwar gerade durch das Rhythmische in der Musik. Wenn die richtige Spannung und Harmonie der Seele verloren gegangen war, musste man tanzen, in dem Takte des Sängers, — das war das Rezept dieser Heilkunst. Mit ihr stillte Terpander einen Aufruhr, besänftigte Empedokles einen Rasenden, reinigte Damon einen liebessiechen Jüngling; mit ihr nahm man auch die wildgewordenen rachsüchtigen Götter in Kur. Zuerst dadurch, dass man den Taumel und die Ausgelassenheit ihrer Affekte auf’s Höchste trieb, also den Rasenden toll, den Rachsüchtigen rachetrunken machte: — alle orgiastischen Kulte wollen die ferocia einer Gottheit auf Ein Mal entladen und zur Orgie machen, damit sie hinterher sich freier und ruhiger fühle und den Menschen in Ruhe lasse. Melos bedeutet seiner Wurzel nach ein Besänftigungsmittel, nicht weil es selber sanft ist, sondern weil seine Nachwirkung sanft macht. — Und nicht nur im Kultusliede, auch bei dem weltlichen Liede der ältesten Zeiten ist die Voraussetzung, dass das Rhythmische eine magische Kraft übe, zum Beispiel beim Wasserschöpfen oder Rudern, das Lied ist eine Bezauberung der hierbei tätig gedachten Dämonen, es macht sie willfährig, unfrei und zum Werkzeug des Menschen. Und so oft man handelt, hat man einen Anlass zu singen, — jede Handlung ist an die Beihülfe von Geistern geknüpft: Zauberlied und Besprechung scheinen die Urgestalt der Poesie zu sein. Wenn der Vers auch beim Orakel verwendet wurde — die Griechen sagten, der Hexameter sei in Delphi erfunden —, so sollte der Rhythmus auch hier einen Zwang ausüben. Sich prophezeien lassen — das bedeutet ursprünglich (nach der mir wahrscheinlichen Ableitung des griechischen Wortes): sich Etwas bestimmen lassen; man glaubt die Zukunft erzwingen zu können dadurch, dass man Apollo für sich gewinnt: er, der nach der ältesten Vorstellung viel mehr, als ein vorhersehender Gott ist. So wie die Formel ausgesprochen wird, buchstäblich und rhythmisch genau, so bindet sie die Zukunft: die Formel aber ist die Erfindung Apollo’s, welcher als Gott der Rhythmen auch die Göttinnen des Schicksals binden kann. — Im Ganzen gesehen und gefragt: gab es für die alte abergläubische Art des Menschen überhaupt etwas Nützlicheres, als den Rhythmus? Mit ihm konnte man Alles: eine Arbeit magisch fördern; einen Gott nötigen, zu erscheinen, nahe zu sein, zuzuhören; die Zukunft sich nach seinem Willen zurecht machen; die eigene Seele von irgend einem Übermaße (der Angst, der Manie, des Mitleids, der Rachsucht) entladen, und nicht nur die eigene Seele, sondern die des bösesten Dämons, — ohne den Vers war man Nichts, durch den Vers wurde man beinahe ein Gott. Ein solches Grundgefühl lässt sich nicht mehr völlig ausrotten, — und noch jetzt, nach Jahrtausende langer Arbeit in der Bekämpfung solchen Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, dass er einen Gedanken als wahrer empfindet, wenn er eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daher kommt. Ist es nicht eine sehr lustige Sache, dass immer noch die ernstesten Philosophen, so streng sie es sonst mit aller Gewissheit nehmen, sich auf Dichtersprüche berufen, um ihren Gedanken Kraft und Glaubwürdigkeit zu geben? — und doch ist es für eine Wahrheit gefährlicher, wenn der Dichter ihr zustimmt, als wenn er ihr widerspricht! Denn wie Homer sagt: „Viel ja lügen die Sänger!“ —