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Alte Zweifel über die Wirkung der Kunst

212.

Alte Zweifel über die Wirkung der Kunst. — Sollten Mitleid und Furcht wirklich, wie Aristoteles will, durch die Tragödie entladen werden, so dass der Zuhörer kälter und ruhiger nach Hause zurückkehre? Sollten Geistergeschichten weniger furchtsam und abergläubisch machen? Es ist bei einigen physischen Vorgängen, zum Beispiel bei dem Liebesgenuss, wahr, dass mit der Befriedigung eines Bedürfnisses eine Linderung und zeitweilige Herabstimmung des Triebes eintritt. Aber die Furcht und das Mitleid sind nicht in diesem Sinne Bedürfnisse bestimmter Organe, welche erleichtert werden wollen. Und auf die Dauer wird selbst jeder Trieb durch Übung in seiner Befriedigung gestärkt, trotz jener periodischen Linderungen. Es wäre möglich, dass Mitleid und Furcht in jedem einzelnen Falle durch die Tragödie gemildert und entladen würden: trotzdem könnten sie im Ganzen durch die tragische Einwirkung überhaupt größer werden, und Plato behielte doch Recht, wenn er meint, dass man durch die Tragödie insgesamt ängstlicher und rührseliger werde. Der tragische Dichter selbst würde dann notwendig eine düstere, furchtvolle Weltbetrachtung und eine weiche, reizbare, thränensüchtige Seele bekommen, desgleichen würde es zu Plato’s Meinung stimmen, wenn die tragischen Dichter und ebenso die ganzen Stadtgemeinden, welche sich besonders an ihnen ergötzen, zu immer größerer Maß- und Zügellosigkeit ausarten. — Aber welches Recht hat unsere Zeit überhaupt, auf die große Frage Plato’s nach dem moralischen Einfluss der Kunst eine Antwort zu geben? Hätten wir selbst die Kunst, — wo haben wir den Einfluss, irgend einen Einfluss der Kunst?