Brief an einen bessern Herrn
Alle Dienstbriefe beginnen ohne Anreden, Höflichkeitsausdrücke oder Redensarten sofort mit der Sache.
Vorschrift für den Schriftverkehr
Paris, 19. März 1925
Nach fünfjähriger Tätigkeit verdienen Sie eine Art von Bewunderung. Das Quantum Schlauheit, Energie, Skrupellosigkeit, die Fähigkeit, Jahre hindurch den Mund zu halten, beweisen, dass Ihre Klasse im Lande die erste geblieben ist. Ebenbürtige Gegenspieler haben Sie allerdings nicht.
Von einem Sozialdemokraten gerufen und eingesetzt, auf das geschickteste das Bedürfnis nach ›Ordnung‹ (der alten sozialen Unordnung) mit der Versorgung ehemaliger Soldaten verknüpfend, haben Sie still und langsam Mann für Mann, Sattel für Sattel, Korporalschaft für Korporalschaft das wieder aufgebaut, was die tiefste Sehnsucht des Kommis- und Kommiß-Deutschen von jeher gewesen ist, Garantie für den Zehnstundentag, für Bodenhandel, Befriedigung aller kleinromantischen Wünsche der Maschinenmenschen: das Heer.
Alle unterstützten Sie, keiner hinderte Sie. Ihre nominellen Vorgesetzten, die geschmeichelt waren, dass Sie so human und loyal mit ihnen sprachen, während sie stets das leise Gefühl kitzelte, dass sie von rechts wegen in den Arrest gesteckt werden müßten, machten die widernatürliche Lage, dass Sie noch der Untergebene waren, durch Höflichkeit, Nachgiebigkeit, Gehorsam wieder gut. Sie konnten zufrieden sein.
Es hinderte Sie auch von draußen her keiner.
Die völlig unverständliche Haltung der fremden Mächte, die über das, was bei Ihnen vorgeht, besser unterrichtet sind, als Sie vielleicht wissen, hielt an: sie schrieben Berichte, zögerten, griffen nicht ein und zeichneten über Akten gebeugt auf, was alle kleinen Landstädte Deutschlands lachend zugaben. Von Monat zu Monat wurde offener gearbeitet. Ihre jungen Herren lächelten nur noch, wenn auf die ausländischen Kommissionen die Rede kam. Sie schwiegen, bauten auf, Sie sind noch nicht fertig – aber etwas haben Sie in Gemeinschaft mit den Kaufleuten schon erreicht: das imperialistische Deutschland ist wieder eine europäische Macht geworden.
Nun, da es so weit ist, hat sich der neue Aufschwung zu einem Vorschlagen das Ausland verdichtet: Anerkennung des halben Versailler Vertrages. Der Westen soll in Ruhe gelassen werden, Deutschland wird die Rheingesänge abbauen, Deutschland will keineswegs etwas gegen Frankreich unternehmen. Gegen wen denn –?
Gegen Polen.
Man kann auch auf einem andern Wege als über Belfort der Stadt Paris beikommen – nämlich über Warschau.
Während die deutsche Politik der letzten vierzig Jahre nur auf einer vorhandenen oder herbeigesehnten Uneinigkeit zwischen England und Frankreich aufgebaut war, drehen sich nun die deutschen Außenpolitiker nach der andern Seite und unternehmen das Gefährlichste, weil zunächst Erfolgreiche und dann erst zu einer Katastrophe führende, das es für uns gibt: eine aggressive Ost-Politik.
Die Rektifikation der Ostgrenzen Deutschlands liegt hart an der Notwendigkeit. Der Polnische Korridor ist zwar bis auf den heutigen Tag niemals eine Prestigefrage der deutschen Nation gewesen – Sie werden ihn in kürzester Zeit dazu gemacht haben. Er ist unpraktisch, er ist mittelalterlich, die Enklave Ostpreußen ist ein Widersinn, er hindert viele kommerzielle Beziehungen. Die Abneigung der Polen gegen Deutschland datiert aus der Zeit des Hohen Kaiserlichen Trampels (H.K.T.) – und niemals hat die Republik den Polen auch nur angedeutet, dass sie jetzt anders mit ihnen umzugehen gedächte. Das ist schwer, die Polen sind, wie alle kleinem Völker, die einmal in der Unterdrückung gelebt haben, von einem wilden provinziellen Nationalismus besessen – um mit ihnen erfolgreich arbeiten zu können, muß man wohl schon ein Staatsmann sein.
Die Ostgrenze Frankreichs steht in des Wortes wahrster Bedeutung bombenfest. Hier in Polen sehen Sie ein Loch. Das ist schlau, aber nicht klug.
Sie können fast alles, was nun folgen wird, ohne Mühe erreichen. Ihr Plan gleicht gewissen deutschen Komödien: die ersten beiden Akte sind ausgezeichnet, aber nach der großen Pause wird es nicht weitergehen.
Also zunächst wird alles klappen. Sie können den Anschluß Österreichs erreichen, der für Sie unerläßlich ist, Durchdringung Österreichs mit dem preußischen Schwung. Vorbei ist es dann in Wien mit der republikanischen Reichswehr; vorbei mit gewissen demokratischen Tendenzen, die in diesem Stumpf vorhanden sind; vorbei auch mit der leisen Anmeierei an die Entente, der man immer mit einem Blinzler sagen konnte: Wir sind nicht so schlimm wie unsre reichsdeutschen Brüder! – der Herr von Hofmannsthal, der den Marschall Lyautey in Marokko besuchen wird, läßt wahrscheinlich seine Kriegsaufsätze hübsch zu Hause und hat überhaupt angenehmere Manieren als der reichsdeutsche Kollege. Anschluß –? Der Hofrat Zifferer in Paris wirds schwer haben, schwerer als bisher.
Die Tschechoslowakei wird nicht so leicht zu fangen sein. Aber das ist auch gar nicht nötig. Dieser Staat, durchsetzt von Leuten, die keine Tschechen sind, oft noch geschüttelt von Nationalitätskämpfen, wenn auch bemerkenswert gut geführt, stellt für Sie, der Sie nicht anders als militärisch denken können, keine erhebliche Gefahr dar. »Mit den Tschechen werden wir schon fertig werden.« Fertig ja – es fragt sich nur, wer am Schluß fertig ist.
Bleibt Polen. Sie kalkulieren so:
Die Polen sind für den Anfang zu überrennen. Dazu ist nötig, dass Sie sich vorher mit Rußland verständigen. Nun ist ja den Russen allerlei zuzutrauen – nur nicht, dass sie mit Ihnen gegen Polen und Rumänien dieses große Geschäft machen, bei dem jeder glaubt, den andern hinterher schon betrügen zu können. Das ist die alte deutsche Politik: fremde Völker wie stabile Posten in die Rechnung einzustellen. Manchmal bleibt ein Rest.
Das alte Preußentum hat sich gewandelt, und die neue Republik ist nach rechts gerutscht. Sie haben gewiß schon einmal im haltenden Zug gesessen, während auf dem Nebengleis die Wagen langsam anruckten, Sie kennen diese kleine Augentäuschung, die Ihnen dann imputiert: zu fahren. In der umgekehrten Lage befinden sich Ihre treusten Helfer, die Republikaner: sie rücken immer näher an den alten Imperialismus heran und frohlocken jeden Tag, dass der Abstand immer geringer wird. Das wird er wirklich. Und die Republik, die wir einmal erträumt hatten, auch.
Und nun sind Sie also im besten Zug, sich den Rücken zu decken, den sie dem Westen zugewendet haben. England scheint Ihnen schon gewonnen, denn darin sind Sie so optimistisch wie Herr Stahmer in London, der aus einem Händedruck des Herrn Chamberlain fröhliche politische Folgerungen zieht. Von Frankreich fürchten Sie im Augenblick nichts. Es scheint Ihnen alles in schönster Ordnung.
Frankreich hat mit sich selbst schwer zu tun. Während jeder siegreiche Krieg eine Stärkung des Staatsgedankens bedeutet, also eine Stärkung des Imperialismus, schwenkt hier ein ganzes Land im tiefsten Friedenswillen nach links – ein Zeichen, dass mit dem Sieg irgend etwas nicht in Ordnung ist. Die Währungsschwierigkeiten, die verärgerte Kirche, die sehr geschickte Führung der Opposition durch ihre Finanziers, die Währungsschwierigkeiten, die auf Herrn Caillaux zurückgreifen lassen (zurück – nicht vor), die Versuche, die nun folgen werden, ›das Vermögen da zu besteuern, wo es ist‹, werden dazu führen, dass es da bald nicht mehr sein wird. Frankreich ist zwar ein gesundes Land, das keine Milliardenzahlen in seiner Franc-Rechnung haben wird – aber es hat Schwierigkeiten. Deutschland hat nicht gezahlt und wird nicht zahlen. Und selbst die neuem Versuche, England und Amerika zu einem Arrangement der Schuldenlast zu bewegen, sehen nicht grade glücklich aus.
Eine neue Ost-Politik hebt an. Während vor dem Kriege jemand feststellen durfte, dass Rußland am Schlesischen Bahnhof anfange, fängt es heute bei Saarbrücken an. Sie haben heimgefunden. Es sieht also günstig für Sie aus –? Sie werden also Erfolg haben –? Sie werden also Deutschland zu einem mächtigen Staat machen –? Zu dem mächtigsten Ost-Europas, Vor-Asiens –?
Sie werden, glücklicherweise, keinen Erfolg haben.
Der Gedanke, die Deutschen, die im Westen nicht einmal die fünfte Stelle hinnehmen können, zu den Engländern des Ostens zu machen, ist nicht so schlecht. Da gibt es viele Klingelleitungen zu legen, viele Fabriken zu errichten, viel zu organisieren. Da kann man noch eine Rolle spielen, Predigten aufsagen, die im Westen keiner mehr wissen will, imponieren, womit man sonst nur Gelächter geerntet hat. Da ist ein weites Feld.
Aber Sie kennen die Welt nicht. Sie vergessen, dass die Welt heute noch und in den nächsten zehn Jahren einem großen Saal gleicht, in dem eine mächtige Schlägerei aufgeflammt ist, mit großem Krach, Hinauswurf von hundert Leuten, mit einer Galerie, die eingestürzt ist, und einem Polizeiaufgebot, das Verhaftungen vorgenommen hat. Und weil Sie immer nur in einer (heute erweiterten) Kaste gelebt haben, weil Sie schlau, aber nicht klug sind, gewitzt, aber nicht weise, gerissen, aber nicht vernünftig – deshalb machen Sie sich einen falschen Begriff von den Dingen, die Deutschland schon einmal an den Rand des Untergangs gebracht haben: von den Imponderabilien. Gibt es in diesem Saal jetzt wieder einen Ruhestörer – und sei es selbst einer, der Skandal macht, weil man ihm seine Brieftasche gestohlen hat, also einer, der im Recht ist –: seien Sie überzeugt, dass eine Welt aufsteht und ruft: »Ruhe!«
Halten Sie es für einen Zufall, dass damals aus Kaledonien und Kalifornien die Leute nach Europa gefahren sind, um Sie und Ihresgleichen zur Räson zu bringen? »Propaganda« sagen Sie. Ach, man kann nichts durch Propaganda aus den Menschen herausholen, was nicht in ihnen ist – und davon verstehen Sie nichts. Sie glauben nicht, wie Abneigung eint. Sie glauben nicht, wie heute, heute noch, die absolute, über alle wirtschaftlichen Erwägungen hinauslangende Einheit der ganzen Welt vorhanden ist für den Fall, ›dass Deutschland wieder anfängt‹. Schon ist der polnische Außenminister Skrzynski nach Paris gefahren, weil er weiß, was ihm da blüht – Frankreich hat sicherlich zur Zeit andre Sorgen, als sich um die Weichsel zu kümmern, und man kann nicht einmal sagen, dass etwa das Land dem Fremden, der da um Hilfe bittet, zujubelt.
Triumphieren Sie nicht zu früh. Sie haben ja viel für sich, das ist wahr. Sie haben einen Völkerbund, der den Territorialbestand seiner Mitglieder nicht gut ausbalanciert hat, der noch nicht sieht, dass man große Teile der Souveränität an das über den Völkern stehende Gebilde abgeben muß, dass unbehauene Steine nicht regelmäßig in einen Kasten aufgeschichtet werden können – Sie haben vorläufig noch einen Völkerbund ohne die Realisierung seiner Idee. Daß den Polen der versprochene Zugang zum Meer nur gewährt werden konnte, indem man einen andern Staat schädigte, und indem man einen Fall konstruierte, wo beide Recht und beide Unrecht haben – das beweist, dass sich Europa noch nicht gefunden hat. Es ist weniger vorhanden als jemals.
Aber triumphieren Sie nicht zu früh. Versuchen Sie den künstlich verstopften Abzug jener entsetzlichen deutschen Expansionstüchtigkeit mit Waffengewalt zu öffnen, so werden Sie späterhin das gleiche Weltwunder erleben wie anno 1914. Sie und Ihre Freunde werden sich andre Wege suchen müssen.
Das tiefe Unverständnis, dass Sie heute noch in England den Freund erblicken, in England, wo der Deutsche viel weniger gern gesehen ist, viel niedriger notiert als in Frankreich, das, wenn man es nur in Ruhe ließe, durchaus zu einer Zusammenarbeit bereit wäre; die vollkommene Instinktlosigkeit, dass Sie immer noch nicht ahnen, wie sehr Sie als Beauftragter andrer Leute handeln – Ressort: Krieg –; die übermächtige Neigung, jetzt Deutschland – Ihr Deutschland, nicht das unsre – in den Balkan zu verwickeln, es in die Gemeindeschule statt auf die Universität des Westens zu schicken: das alles zeigt, welche Führer das deutsche Volk gebiert. Vergeblich sagt grade jetzt Thomas Mann den Franzosen, wie nötig der Anschluß Deutschlands an den Westen wäre – er hat in Deutschland den Beifall gebildeter Händler nur, solange er ihre Geschäfte nicht stört. Deutschland könnte sich heute dem Westen angliedern – es mag ihn nicht, es hat ihn nie gemocht, und es wird zurückgehen in den Osten.
Sie setzen auf die richtige Seite – für die erste halbe Stunde. Sie tippen falsch – für den Endspurt. Und Sie tippen richtig, wenn Sie auf nahe und ferne Sicht mit Ihrem Treiben immer nur Innenpolitik machen wollen, bei allen außenpolitischen Fragen – in Polen, Rußland, Tschechoslowakei und Österreich – immer nur Innenpolitik. Da werden Sie Meister sein. Da werden Sie (gegen niemand) siegen.
Mögen Sie den Konsum der andern erzwingen und die eigne Produktion noch erhöhen; mögen Sie Territorien, auf denen man Deutsch spricht, für sich als Absatzgebiete in Anspruch nehmen; mögen Sie aus dem nahen Osten ein einziges Rittergut für demokratische Industrieherren machen – es gibt eine Klasse, die dabei auf alle Fälle, noch im Produktionssegen, schwer verlieren wird; die mit Steuern, Löhnen, Blut und Müttern bezahlen wird, was Sie einstecken wollen; die verlieren wird, während Sie Schlachten gewinnen und Verhandlungen: das ist die deutsche Arbeiterschaft. Aber deren Führer sind blind, taub und stumm.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 24.03.1925, Nr. 12, S. 426.