Einer pfeift sich einen
Die rue de Vaugirard ist so lang wie ein Satz von Proust. Ich gehe schon eine dreiviertel Stunde – das macht aber gar keinen Spaß. »Hepp!« Kein halber Pogromruf – so ruft der feine Mann in Paris einen Wagen. Das Automobil schnurrt ab.
Während ich mich von einer Backe auf die andre setze und mich freue, wie rasch der Wagen bremsen und wieder anfahren kann, und wie haargenau er die Kurven nimmt, höre ich ein leises Pfeifen. Wahrscheinlich ein Straßenjunge – huit, vorbei. Hier in der Buchhandlung bin ich einmal gewesen; da habe ich die herrlichen ›Holzkreuze‹ von Dorgelès gekauft, ein ausgezeichnetes Kriegsbuch, ein guter Führer für den nächsten. Ich weiß noch genau, wie der Verkäufer erst gesucht hat … inzwischen darf man sich den halben Laden ansehen, alles umkramen, aufblättern … Wieder das leise Pfeifen. Merkwürdig, wie die Gassenjungen in Paris pfeifen. Wie die Mäuse. Das ist eine feine Beobachtung, ich werde sie mir merken. Ja, da stand ich in dem Buchladen, draußen in der Straßenauslage wühlten die Leute in den Ständen; es wird wenig gestohlen: man berechnet den täglichen Verlust bei einer Buchhandlung auf etwa zwanzig Francs, das geht an. Und ist zum Beispiel die Ladentür geschlossen, so gehen, ausprobiert, viel weniger Kunden in den Laden. Sie wollen wohl empfangen sein. Aber wer pfeift denn da –? Das können doch keine Jungen sein, so viel pfeifende Jungen gibt es doch gar nicht. Radelt einer hinter mir her? Ich seht durch das kleine Fensterchen rückwärts: da fährt ein bockbeiniger Ford-Wagen – Ford pfeift nicht, davon steht nichts in seinem Buch. Also wer ist es dann? Immer noch dauert das leise Pfeifen an. Ich bin es nicht. Also –?
Der Chauffeur pfeift. Er lenkt, hupt, tritt in die Bremsen, gibt Gas und Saures – und pfeift sich einen. Wie denn? Im Dienst? Er hat gar keinen Dienst. Er pfeift, weil er zufrieden ist, weils ihm Spaß macht, auf der Welt zu sein, weil er gut gegessen hat, weil er nicht mehr Sorgen hat, als zum notwendigen Betrieb und zur Aufrechterhaltung des Schwergewichts absolut nötig sind. Der Mann wird gut und gern seine achthundert Francs verdienen, wahrscheinlich mehr. Aber er kommt damit aus, manchmal drückt manches, aber es geht doch. Essen, Wein, Kleidung, nur die Wohnung liegt qualitativ – wie bei allen Parisern – mehrere Stufen unter der übrigen Lebensführung, es ist, als wohnten sie in der Wohnung eines minderbemittelten Freundes. Jedenfalls pfeift er. Wupp, um die Ecken und dabei einen sehr komplizierten Java ausstoßend – es geht gut mit dem Tempo des Wagens. Ob er Sonne im Herzen hat? Ich kann ihn nicht danach fragen: das kann man nicht übersetzen. Er ist weder Optimist noch Mitglied des französischen Reichsbundes Allgemeiner Droschkenchauffeure noch Arbeitnehmer und als solcher … er ist: natürlich. Ist dem nahe, was andre Leute beinahe vergessen haben: dem Leben und der Natur, dem Ding, das man nicht nennen kann.
Gott weiß, was hier kommen wird. Umlauert von baisselüsternen Bankiers, von händel- und handel-süchtigen Politikern, fast überrundet von einer besser organisierten Welt, rings umwimpelt von Nationalfähnchen, diesen Schnupfentüchern unartiger Kinder, liegt Frankreich und arbeitet unter dem grauen Seehimmel des Nordens und der hellen Sonne im Süden. Die andern haben Probleme. Der pariser Chauffeur läßt die Bremse los, fährt an, nimmt die Straßenecke, dass es nur so glitscht, und pfeift.
Peter Panter
Die Weltbühne, 24.03.1925, Nr. 12, S. 453.