Staatsmorphium
Neulich mittag saß auf einer deutschen Anklagebank – also einem durchaus reputierlichen Ort – ein Ding, das der ziemlich guten Nachahmung eines Menschen glich. Es war ein ehemaliger Soldat.
Als der Stumpf noch ein Mensch war, hatte er während des Krieges derart schwere Verletzungen erlitten, dass die jahrelangen ununterbrochen anhaltenden Schmerzen nicht anders zu dämpfen waren als mit Morphium. Der Staat, der seinem entlaufenen Kaiser monatlich 30000 Mark zahlen kann, ungerechnet die Werte, die er sich hat über die Grenze schieben lassen – der Staat hatte für das Bündel Schmerzen kein Geld, aber Morphium in natura. Der Mann bekam also, wie im Gerichtssaal angegeben wurde, ›Staatsmorphium‹. Alle paar Tage ein paar Gramm.
Immer, wenn die Nerven dumpf aufheulen wollten, piekte die kleine Spritze in die schmutzige Haut, und dann legten sie sich wieder zu scheinbarer Ruhe. Wie hinter Watte tat es nur noch weh.
Sie hatten den Stumpf wegen Bettelei angeklagt, was gleichgültig ist, und der Staatsanwalt kam zu irgendeinem juristischen Resultat, die Einstellung des Verfahrens betreffend, was noch gleichgültiger ist, Verwaltungsmaßnahmen sind auch dann nicht der Nachprüfung wert, wenn sie sich Urteile nennen. Der Mensch ging im Dämmerzustand heraus. Er wußte gar nichts von sich. Er lebt ständig im Dusel: voll von Staatsmorphium.
Er ist nicht allein, sondern hat Kollegen: 60 Millionen.
Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 17.11.1925, Nr. 46, S. 775.