Glückliches Kopenhagen, eine Oase in der Wüste
Ein Mann fiel vom Mond. Die Deutschen legten ihn sofort herüber auf die rechte Straßenseite; die Franzosen fragten: »Vous venez de la part de qui?«; die Italiener zogen sich scheu zurück, denn sie hielten ihn für einen Spitzel Mussolinis. Eine dänische Dame näherte sich, beschnupperte ihn und sagte flüsternd: »Ist das nicht Frau Johansens geschiedener Mann?« … Hierauf begab sich der Mann wieder zurück zum Mond.
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Heiligabend saß ich in einem Restaurant im Kopenhagener Hauptbahnhof. Vergnügte Junggesellen aßen dort und auch einige Hausfrauen, die an diesem 24. ohne Haushaltsarbeiten sein wollten. Sie saßen wie auf einer Insel, umspült vom Meer kinderreicher Familien. In diesem Bahnhof bin ich oft angekommen. Und nun sitze ich da und denke darüber nach, warum ich so gerne hier ankomme.
Für den Fremden ist der Hotelportier der Bürgermeister der Stadt. Der Gast weiß nur wenig von den Sorgen seines Wirtes. Er geht nur herum, versucht Geschäfte zu machen, und das gelingt nicht immer; er versucht sich zu amüsieren, und das gelingt meistens, wenn er Geld hat. Was ist das Besondere an Kopenhagen?
Die schönen Frauen? Die haben bestimmt nicht auf Herrn Panter gewartet, der ihnen mitteilt, dass sie schön sind. Sie sind genauso, wie sich die Germanen eine Französin vorstellen, die wiederum viel hausbackener ist als ihr Ruf. Die Dänin ist reizend konsequent inkonsequent. Ihre Treue reicht sogar zur gleihen Zeit für mehrere aus.
Geh durch die Straßen dieser Stadt, und du bemerkst Heiterkeit und Leichtigkeit und siehst so viele Vorkriegszeit-Gesichter. Hier sehen die Menschen aus, wie sie aussahen, als es noch ein Europa gab, das richtige Europa, durch das man ohne Paß reisen konnte. Aber das ist schon lange her, das klingt wie ein Märchen. Kopenhagen ist eine Stadt, die ihren Kopf in der hellsten Gegenwart trägt, während die Beine sachgemäß in dänische Erde gepflanzt sind. Die ist noch, und die ist schon. Kopenhagen ist Gestern, Heute und Morgen.
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Die Möwen schweben über dem Fischmarkt, einige von ihnen haben sich auf Krügen und Tellern der Porzellanmanufaktur niedergelassen, und dort führen sie ein dekoratives Dasein. In vielen alten Häusern schreibt man viel moderne Literatur, große Schiffe segeln durch die hochgezogenen Brücken, und die Radfahrer warten mit einem Bein auf dem Boden, bis sie vorbeigefahren sind. Liva Weel nimmt, hoppla, ihr Publikum zur Brust und spielt virtuos auf ihrer Gefühlsharmonika. Dort sitzen vier Damen in einem Zimmer und erzählen sich Klatschgeschichten. Klatsch, sage ich Ihnen, der einem eine vierfache Gänsehaut den Rücken herunterlaufen läßt. Und plötzlich stößt die eine der anderen eine lange Stricknadel der Boshaftigkeit ins Herz. Wenn Witze töten könnten, ganz Kopenhagen wäre eine tote Stadt.
Sind die Menschen hier boshafter als anderenorts? Nein, aber etwas, das ich »soziale Verknüpfung« nennen möchte, ist hier dichter als in anderen Städten, fast so dicht wie in Paris. In Berlin leben die Leute gegeneinander, in Paris leben sie ineinander, in Kopenhagen leben sie miteinander. »Aha, Sie wollen uns auch erzählen, dass wir kleine Engel sind und Choräle singen?« Nein, Herr Kopenhagener, keine Engel. Aber das gesellige Interesse unter denen, die zum gleichen Kreis gehören, ist sehr groß. Ihr habt eine sehr homogene Bevölkerung, die nicht in so feindliche Kasten oder Klassen aufgeteilt ist, wie man es in vielen anderen Ländern antrifft.
Das kann man hervorragend im Theater beobachten. Welch ein Publikum! Das ist, als ob alle nur einen Nerv hätten, als ob dort unten nur ein Ding säße und reagierte … Und wie es reagiert! Die Engländer lachen schon, wenn ein Kellner über die Bühne geht. Der Franzose ist so unnaiv wie ein Kind. Aber die Dänen erfühlen den Schauspieler mit den Nervenspitzen, das ganze Parkett zittert leicht, und der, der etwas kann, hat die Leute in seiner Hand; sie folgen ihm, und jeder Zuschauer ist eine Taste auf der Orgel der Schauspielkunst. Welch ein Publikum!
Das ist nur möglich, weil die Leute einander so nah sind; sie verstehen einander. Es ist nicht weit von einem Dänen zum anderen. Angeblich soll es Leute geben, wo der eine so weit von dem anderen entfernt ist, dass sie sich nur mit einem Maschinengewehr erreichen können. In Kopenhagen genügt ein Witz …
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Ein Reisender, der die Sonntage seines Lebens in einer fremden Stadt verbringt – er müßte den Alltag ganz und gar kennen, um mitreden zu können.
Was ist es, das durch die Straßen Kopenhagens flattert? Was ist es, das hier vor sich geht?
Sie kommen mir vor wie ein Volk, das gerne lacht, weil sie sich schämen zu weinen, worüber der Nachbar anschließend lachen könnte! Die Krise schleicht sich durch Europa, ja, es ist wahr, niemandem von uns geht es besonders gut. Ist Dänemark davon ausgenommen? Es entsteht ein leises Geräusch: das sind die Kaufleute, die sich um Forellen prügeln; nein, sie sind nicht von der Krise ausgenommen; sie leiden noch viel stärker unter ihr. Und doch haben sie es viel besser als die Londoner, die nun Europa vollständig den Rücken gekehrt haben; denn England, jenes große Venedig, interessiert sich jetzt für seine Kolonien, und Neuseeland liegt für sie viel näher als unser ganzer Kontinent.
In Paris heben die Menschen den Kopf, weil einige Räder nicht mehr surren: die Amerikaner fehlen an der Riviera, die Engländer bevölkern nicht länger die Hotels so zahlreich wie zuvor, und die Deutschen kommen einfach nicht. Das kostet den Franzosen viel Geld; sein Ehrgeiz ist es nicht, in so hohem Maße viel zu verdienen – er will weniger ausgeben als andere. Und das gelingt ihm ja auch hervorragend. Aber in Dänemark hält sich das alte Gleichgewicht so einigermaßen.
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Sind die großen Städte so verschieden? Reise durch Europa, geh durch die großen Städte London, Paris, Berlin, Stockholm – schneller, schneller – immer noch schneller. Ein Wirbel bleibt in deinem Kopf zurück, überall wird gekämpft und geliebt, gekauft und bestochen, zerstört und wieder aufgebaut. Die Börsen murmeln in jeder Stadt, die gleichen Dummheiten flimmern über die Kinoleinwände – sind die Städte so verschieden voneinander, wie sie glauben? Sie sind es nicht. Wir hatten ein Europa. Leichtsinnig zerstörten wir dieses Europa, weil unsere Technik vom Jahrgang 1932 ist und die Staaten erst von 1850.
Aber in diesem ganzen grauen Tumult gibt es einige lichte Flecken, in der Wüste gibt es einige Oasen – Kopenhagen, Europas Insel – sei gegrüßt!
»Was habt ihr nur gemacht, dass es euch so gut geht?«
Ihr habt das Herz der Demokratie bewahrt, und deshalb: Danke, Dänemark!
Peter Panter
Politiken, 03.01.1932, Nr. 94, S. 9.