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Titelmoden

Früher, als ich meiner Mama die ersten Leihbibliotheksbände aus dem Schrank stibitzte, las ich zuerst immer den Titel – und dann wunderte ich mich. Warum hieß wohl dieses Buch ›Herbststürme‹? Auf der ersten Seite stand etwas vom Frühling … Und jedesmal, bei jedem Buch, dachte ich: Wirst du auch verstehen, warum, warum dieses Werk nun grade so heißt, wie es heißt? Manchmal verstand ich es nicht, denn der Titel war das, was Wilhelm Bendow früher zu sagen pflegte, wenn er eine besonders gesalzene Sache gesagt hatte: »Symbolisch«.

Wie heißen Bücher –? Kleine Kinder heißen Emma oder Horst, Lydia oder Lottchen … woher die Leute nur immer wissen, wie die Kinder heißen … aber wie heißen Bücher, und warum heißen sie so –?

Thomas Mann ist es gewesen, der, wenn ich nicht irre, einmal gesagt hat, der anständigste Titel sei noch immer ein Eigenname. Dann heißt das Buch nach der Hauptperson seiner Handlung wie ein Mensch – und den symbolischen Gehalt darf sich der Leser selbst heraussuchen.

Büchertitel sind der Mode unterworfen, wie alles andre auch.

In grauer Vorzeit hießen Bücher etwa: ›Von der grausamen Türken-Schlacht / so bei Konstantinopul in diesem Jahre stattgeffunden / und mehr denn dreihundert tausend Menschen erschröcklich umgekommen / Gettrukkt in diesem Jahre /‹. Aber solch ein Buch brauchte man nicht telefonisch zu bestellen.

Ferne sei es von mir, die Damen mit einer Doktorarbeit zu langweilen: ›Zur Geschichte des deutschen Büchertitels von Karl dem Großen bis auf die Gegenwart‹, denn so heißen wieder nur Doktorarbeiten. Aber wenn man in der Zeit zurückblättert …

Bei den Klassikern und ihren Epigonen des neunzehnten Jahrhunderts hießen die Bücher: ›Lucinde‹ oder ›Wilhelm Meister‹, ›Des Knaben Wunderhorn‹ oder ›Die Räuber‹. Sie trugen also Eigennamen oder eine Etikettenbezeichnung, auf der genau zu lesen war, was den Leser erwartete. Er wußte, was in der Flasche drin war. Das änderte sich.

Es änderte sich, als das Buch in den scharfen Konkurrenzkampf seiner Mitbücher trat. Der Titel war nun mehr als nur Etikettenaufschrift: er sollte anlocken, neugierig machen, das Buch aus den Bücherballen der Saison herausheben. Die Titelmode wurde bewegter und bunter.

Das begann, um von den letzten deutschen Jahrzehnten zu sprechen, damit, dass die Eigennamen in den Titeln einen Artikel bekamen. ›Das Tagebuch der Susanne Oevelgönne‹. – ›Der Weg des Thomas Truck‹, und so fort und so fort. Die Figur wurde damit deutlicher bezeichnet, sie wurde herausgehoben, es war nicht mehr irgendeine Regina, sondern diese Regina, einmalig und nie wiederkehrend. Diese Mode hatte von Anfang an etwas Pretiöses und verfiel rasch, wie alle solche Moden, und da, nach einem Worte Rodas, nicht nur Kleider, sondern auch geistige Moden im Hinterhause aufgetragen werden, so findet man solche ›Dies‹ und solche ›Ders‹ heute nur noch bei schlechten und murksigen Romanen aus vierter Hand.

Neben solchen Moden lief natürlich stets die Schar der Bücher, die eine ganz brave und sachliche Bezeichnung trugen: ›Der Pfefferhandel in Nord-Guayana‹ oder: ›Das Schiffereiwesen in Tibet‹ und so. Die Mode der Titel aber wandelte sich.

Einen gewaltigen Einschnitt gab es, als einer, nein: eine, darauf verfiel, dass man ja als Titel auch einen halben Satz nehmen könnte. Dieses Buch, dessen Titel heute noch herumspukt, hieß: ›Briefe, die ihn nicht erreichten‹. Was dieser Titel angerichtet hat, das ist nicht zu blasen.

›Frauen, die den Kranz verloren … ‹ – ›Winzer, die im Herbste winzen‹ – (Hans Reimann: ›Männer, die im Keller husten‹) – ›Wollwesten, wie wir sie lieben‹… ein Meer von Relativsätzen ergoß sich über den Leser. Kompliziert noch durch die drei Punkte, die man ehedem überall setzte, damals, als die ›Skizzen‹ in den Tageszeitungen keinen Eigennamen enthielten, sondern so anfingen: »Er sah trübe auf seine ungereinigten Fingernägel und dachte sich sein Teil … « – in dieser Dreipunkte-Zeit hatten auch die Titel drei Punkte. »Mädchen, die … « – »Büßer … « – »Sünde … ?« Und was der Mensch so braucht.

Bis auch dieses eines Tages nicht mehr genügte.

Die neue Entwicklung begann damit, dass die Titel lockender wurden. Der ausgezeichnete Titel ›Mit Blitzlicht und Büchse durch Afrika‹ ist gradezu ein Musterbeispiel geworden, und ausnahmsweise ein gutes. Es knallte aber noch nicht genug – und da kam ein ganz Findiger auf den Gedanken: Ein Titel? Ein Titel kann auch ein ganzer Satz ein. Und nun ging es los.

›Finden Sie, dass Juckenack sich richtig verhält?‹ – ›Wer weint um Constanze?‹ – ›Blonde Frauen sehn dich an‹ – ›Gentlemen prefer beasts‹ – die Titel wurden immer lauter, immer frecher, immer schreiender, immer lyrischer … Hierzu Alfred Polgar: »Ich liebe es nicht, wenn man auf dem Menü Proben der Gerichte sieht.« Da ungefähr halten wir.

Der Rückschlag ist schon spürbar.

Über ein kleines, und die ruhigeren Titel werden wieder modern werden; die lauten, krachenden werden dann wieder nach unten versickern. Noch heißen viele Bücher: ›Ich stehe Kopf – was tun Sie?‹, aber das wird sich legen. Die großen Schriftsteller haben übrigens diese Mode niemals mitgemacht, und das ist gut so. Literatur ist keine Würfelbude.

Moden, Moden. Einmal trug man » … als Erzieher«; einmal: »Goethe und … «; einmal lange Titel und lange Kleider, einmal kurze Kleider und kurze Titel. Das Tagesbuch, das es so gut gibt wie die Tageszeitung, unterliegt der Titelmode; das gute Buch unterliegt dem Zeitgeist, und bei dem großen Kunstwerk ist der Titel Hekuba.

Peter Panter
Die losen Blätter der »Dame«, 1930, Nr. 10, S. 156.