Siebentes Kapitel.
[Unenthaltsamkeit bezüglich Lust und Zorn]
Wie haben gesehen, dass Unenthaltsamkeit und Enthaltsamkeit es ausschließlich mit denselben Dingen zu tun haben wie Unmäßigkeit und Mäßigkeit, und dass es den anderen Dingen gegenüber eine andere Art von Unenthaltsamkeit gibt, die nur metaphorisch und nicht schlechthin so heißt. Betrachten wir nun auch, dass die Unenthaltsamkeit im Zorn weniger schimpflich ist als die in den Begierden.
Der Zorn scheint nämlich noch in etwa ein Ohr für die Vernunft zu haben, nur dass er nicht richtig hört, gleich einem behenden Diener, der, ohne seinen Herrn ganz ausreden zu lassen, hinausläuft und dann den Befehl verkehrt ausführt, oder gleich einem Hund, der wenn es bloß klopft, gleich Laut gibt, ohne achtzugeben, ob es ein Freund ist: gerade so stürmt der Zorneseifer aus Hitze und Lebhaftigkeit der Natur auf die Rache los: er hat zwar gehört, aber nicht das Befohlene gehört. Der Verstand oder die Einbildung haben ihm gesagt, es liege übermütige oder geringschätzige Behandlung vor, der Zorn aber, gleichsam schlußfolgernd, dass man sich gegen ein solches Verhalten wehren müsse, läßt sich nun ohne weiteres gehen. Die Begierde dagegen stürmt, wenn nur Verstand oder Sinn anzeigen, dass etwas angenehm sei, zum Genuß, (1149b) und so folgt der Zorn gewissermaßen der Vernunft, die Begierde aber nicht, und darum ist sie schimpflicher, d. h. sittlich häßlicher. Denn der im Zorn Unenthaltsame unterliegt in gewissem Sinne der Vernunft, der Sinnenmensch aber wird nicht von der Vernunft, sondern von der Begierde überwunden.
Ferner, es ist verzeihlicher dem natürlichen Verlangen zu folgen, wie es auch eher verzeihlich ist, den allen Menschen gemeinsamen sinnlichen Begierden, insofern sie gemeinsame sind, nachzugeben. Der Zorn aber und die Heftigkeit ist naturgemäßer als die Begierden nach dem Übermaß und nach dem, was nicht notwendig ist, und, in diesem Sinne auf die ererbte Natur sich berufend, suchte jener Mensch, der seinen Vater schlug, sich zu rechtfertigen, indem er sagte: »Auch er hat den seinigen geschlagen und der wieder den seinen, und« – auf seinen Sohn zeigend – »der wird mich schlagen, wenn er ein Mann geworden ist; denn es liegt uns im Blute.« Ebenso sagte ein anderer zu seinem Sohne, der ihn an den Haaren fortschleifte, er solle ihn nicht weiter als bis zur Türe schleifen, denn er habe auch seinen Vater nur so weit geschleift.
Ferner, die Größe des Unrechts wächst mit dem Grade der Hinterlistigkeit. Nun ist aber der Zornmütige und der Zorn nicht hinterlistig, sondern offen, wohl aber ist es die Begierde. Darum heißt Aphrodite bei den Dichtern »die ränkesüchtige Tochter Zyperns«, und Homer sagt von ihrem gestickten Gürtel, es wohne darin
»Schmeichelnde Bitte, die auch des Verständigsten Sinne betöret.«
Wenn also diese Unenthaltsamkeit ungerechter und häßlicher ist als die im Zorn, so ist sie auch Unenthaltsamkeit schlechthin und gewissermaßen ein Laster.
Endlich verübt niemand mit Trauer Frevel und Unrecht; jeder aber, der im Zorn handelt, handelt mit Trauer, dagegen der Frevler mit Lust. Wenn nun also die Dinge, worüber wir uns mit Recht am ärgsten entrüsten, auch die Gerechtigkeit ärger verletzen, so muß das auch von der aus der Begierde entspringenden Unenthaltsamkeit gelten, da sie zu Frevel und eigentlicher Ungerechtigkeit verleitet, was der Zorn nicht tut.
So haben wir denn gesehen, dass die Unenthaltsamkeit des Lüstlings schimpflicher ist als die des Zornmütigen, und dass die Enthaltsamkeit und die Unenthaltsamkeit es mit den körperlichen Begierden und Lüsten zu tun hat. Nehmen wir nun auch die Unterschiede dieser letzteren in betracht.
Wie anfangs gesagt worden, sind die Begierden und Lüste teils nach Art und Grad menschlich und natürlich, teils sind sie tierischer Art oder endlich drittens auch Folgeerscheinungen von körperlichen Defekten oder von Krankheiten. Von diesen drei Arten ist es nur die erste, womit die Mäßigkeit und die Unmäßigkeit es zu tun hat. Daher nennen wir auch die Tiere nicht mäßig oder unmäßig, es müßte denn im übertragenen Sinne sein, oder wenn eine Tiergattung es der anderen ganz und gar in Wildheit, Geilheit und Gefräßigkeit zuvortut. Denn das Tier hat nicht Willenswahl und Vernunft, sondern es fällt wohl einmal von seiner Natur ab wie ein rasender Mensch. (1150a)
Vertiertheit ist im Vergleich zur Schlechtigkeit ein Minus, aber furchtbarer. Denn bei ihr ist nicht das Beste verderbt, wie bei dem, der noch Mensch bleibt, sondern man hat es nicht. Es ist also ähnlich, wie wenn man Unbeseeltes und Beseeltes mit Rücksicht darauf vergleicht, was schlechter ist. Die Schlechtigkeit dessen, was kein seiner selbst mächtiges Prinzip hat, ist immer harmloser, ein solches Prinzip ist aber der Verstand. Es ist also ähnlich, wie wenn man die Ungerechtigkeit und den Ungerechten vergleicht; beides ist in gewissem Sinne schlechter; denn ein schlechter Mensch kann tausendmal mehr Schlechtes tun als ein Tier.