Vierzehntes Kapitel.
[Die Lust ist wahrscheinlich das höchste Gut]
(1153b) Es ist aber auch ohne Zweifel zugestanden, dass die Unlust ein Übel und zu fliehen ist. Sie ist teils schlechthin ein Übel, teils nur insofern, als sie für ein anderes in irgendeiner Hinsicht hinderlich ist. Das Gegenteil dessen aber, was zu fliehen ist, insofern es zu fliehen und ein Übel ist, ist das Gute. Mithin muß die Lust ein Gut sein. Die Weise, wie Speusippus dieser Folgerung zu entgehen suchte, indem er sagte, das Größere sei das Gegenteil vom Kleineren und vom Gleichen, ist unzulässig, da er doch nicht sagen kann, die Lust sei wesentlich ein Übel. Dass aber eine bestimmte Lust das höchste Gut sei, verträgt sich mit der Tatsache, dass manche Lüste schlecht sind, sehr wohl, wie ja auch eine Wissenschaft die beste sein kann, wenn auch manches Wissen und Können schlecht ist.
Vielleicht ist es aber auch notwendig, dass, wenn anders es ungehemmte Tätigkeiten eines jeden Habitus gibt, sei nun die ungehemmte Tätigkeit ihrer aller die Glückseligkeit oder die eines einzelnen unter ihnen, diese am begehrenswertesten ist. Das ist aber Lust. Und so wäre denn eine Lust das höchste Gut, mögen auch die meisten Lüste einfachhin schlecht sein. Darum halten alle Menschen das glückselige Leben für lustvoll und verbinden die Glückseligkeit mit der Lust: mit Recht, denn keine Tätigkeit ist vollkommen, wenn sie gehemmt ist, die Glückseligkeit ist aber etwas Vollkommenes. Daher bedarf der Glückselige auch noch der leiblichen und der äußerlichen und Glücksgüter, auf dass die Tätigkeit und die Glückseligkeit nicht gehindert werde. Die aber erklären, ein Mensch, der aufs Rad geflochten werde oder der ins größte Elend gerate, sei glückselig, wenn er tugendhaft sei, stellen absichtlich oder unabsichtlich eine nichtige Behauptung auf. Weil es aber zum glückseligen Leben auch noch der Glücksgüter bedarf, so scheint manchen das zufällige äußere Glück dasselbe zu sein wie die Glückseligkeit; dies ist jedoch nicht der Fall; denn es hindert dieselbe sogar, wenn es im Übermaße vorhanden ist, und dann ist es wohl gar nicht mehr richtig, es Glück zu nennen; denn es hat seinem Begriffe nach eine Beziehung zur Glückseligkeit.
Auch der Umstand, dass alles, Tier und Mensch, nach der Lust verlangt und strebt, ist ein Zeichen, dass sie in gewissem Sinne das höchste Gut ist.
»Nicht kann völlig ersterben die Kunde, welche die Völker
Melden von Munde zu Mund.«
Weil aber nicht dieselbe Natur und derselbe Habitus für alle ohne Unterschied der beste ist oder dafür gehalten wird, so trachten auch nicht alle nach derselben Lust, und doch ist die Lust es, nach der alle trachten. Vielleicht trachten sie auch nicht nach der, die sie zu begehren meinen oder auch zu begehren vorgeben würden, sondern in Wirklichkeit immer nach einer und derselben. Denn alle Wesen haben von Natur etwas Göttliches. Jedoch ist ihr Name wie durch Erbschaft auf die körperlichen Lüste übergegangen, weil wir zu ihnen uns so oft verleiten lassen und alle an ihnen teil haben, und so hält man diese allein für Lüste, weil sie allein die allbekannten sind.
(1155a) Offenbar könnte auch, wenn Lust und lustbringende Tätigkeit kein Gut wäre, das Leben des Glückseligen nicht mit Lust verbunden sein. Denn weswegen bedürfte er ihrer, da sie doch kein Gut sein soll? – Aber der Glückselige würde auch mit Unlust leben können. Denn sie wäre weder ein Übel noch ein Gut, wenn auch die Lust es nicht wäre. Warum sollte er sie also fliehen? – Auch kann gewiß das Leben des Tugendhaften nicht lustbringender sein als das des Lasterhaften, wenn nicht auch seine Tätigkeiten es sind.
In bezug auf die körperlichen Lüste nun aber gilt es acht zu geben, wenn man Wort haben will, dass einige Lüste sehr begehrenswert sind, nämlich die schönen, die sittlich guten, aber nicht die körperlichen, mit denen es der Unmäßige zu tun hat. – Warum sind denn die diesen entgegengesetzten Unlustgefühle schlecht, da doch dem Schlechten das Gute entgegengesetzt ist? Oder sind die notwendigen Lustgefühle gut wie das, was nicht schlecht ist? Oder sind sie bis zu einer bestimmten Grenze gut? Denn ist in einem Habitus oder einer Bewegung kein Überschreiten des rechten Maßes möglich, so ist auch in der entsprechenden Lust kein Übermaß möglich; überall aber, wo der Habitus oder die Bewegung ein Übermaß zuläßt, da läßt auch die Lust eines zu. Nun gibt es aber in den sinnlichen Gütern ein Übermaß, und der Schlechte ist schlecht, weil er das Übermaß und nicht die notwendige Lust begehrt. Denn alle Menschen erfreuen sich einigermaßen an guten Speisen, Weinen und Geschlechtsgenuß, aber nicht alle in gebührender Weise. Mit der Unlust ist es entgegengesetzt: nicht ihr Übermaß flieht der Unmäßige, sondern er flieht sie gänzlich. Denn die Unlust ist nicht dem Übermaß entgegengesetzt, außer für den, der das Übermaß begehrt.