Dreizehntes Kapitel.
[Auseinandersetzung mit den Gegnern der Lust]


Dass sich aber aus diesem mitnichten ergibt, die Lust sei kein Gut oder nicht das höchste Gut, erhellt aus folgendem.

Fürs erste, es gibt ein zweifaches Gutes, eines schlechthin und eines beziehungsweise oder für den oder jenen, und hiernach werden sich also die Naturen und die habituellen Beschaffenheiten und ihnen entsprechend denn auch die verschiedenen Arten von Bewegung und Werden richten, und von denen, die als schlecht erscheinen, werden es die einen einfachhin sein, aber für ein bestimmtes Individuum nicht, vielmehr für den und den begehrenswert; einige andere aber auch nicht für den und den, außer in einem singulären Fall und für kurze Zeit, und auch dann nicht eigentlich begehrenswert; noch andere endlich sind überhaupt keine Lust, sondern scheinen dies nur zu sein, wenn sie nämlich mit Unlust verbunden sind und der Heilung dienen wie bei Kranken. Sodann, das Gute ist teils Tätigkeit teils Habitus, und demnach sind die Arten von Bewegung und Werden, die den Menschen in den naturgemäßen Habitus versetzen, mitfolgend lustbringend. Die Tätigkeit vollzieht sich da als das Streben nach Wiederherstellung eines Habitus und einer Natur, denen es irgendwie mangelt, (1153a) während es auch Lustempfindungen, wie die Tätigkeiten des Denkens, ohne Unlust und Begehren gibt, indem die Natur von Mangel frei ist. Ein Zeichen dafür ist, dass man sich nicht an demselben Lustbringenden erfreut, wenn und während die Natur sich erst vollendet, und wenn sie ihren vollkommenen Stand erreicht hat, da man vielmehr nach der Erreichung desselben an dem schlechthin Lustbringenden Gefallen hat, über der Vollendung der Natur aber auch am Gegenteil. Denn da erfreut man sich auch an sauren und bitteren Dingen, deren keines von Natur und schlechthin angenehm ist, weshalb es auch die Lustgefühle nicht sind. Denn wie sich die angenehmen Dinge zueinander verhalten, so auch die aus ihnen entspringenden Lustgefühle. Drittens, es besteht keine Notwendigkeit, dass ein anderes besser sei als die Lust, wie einige Philosophen behaupten, dass das Ziel besser sei als das Werden. Denn die Lüste sind nicht alle ein Werden, sondern manche sind auch Tätigkeiten und Ziel; auch stellen diese sich ein, nicht wenn ein Habitus in uns wird, sondern wenn wir aus ihm heraus handeln; und nicht alle Lüste haben ihr Ziel in einem anderen, sondern nur die Lüste derer, die zur Vollendung der Natur geführt werden. Darum ist es auch nicht zutreffend, wenn man sagt, die Lust sei ein fühlbares Werden; man muß vielmehr sagen, sie sei Tätigkeit des naturgemäßen Habitus, und statt »fühlbar« muß man sagen »ungehemmt«. Sie scheint eine Art Werden zu sein, weil sie im eigentlichen Sinne gut ist. Man meint nämlich, die Tätigkeit sei Werden, sie ist aber etwas anderes.

Dass die Lüste schlecht sein sollen, weil manches Lustbringende krank macht, heißt grade soviel, wie wenn manche Kuren darum schlecht sein sollten, weil sie die Kasse angreifen. In dieser Beziehung sind ja beide schlecht, aber doch wohl nicht insofern, als sie erfreuen oder heilen; denn auch das Denken schadet einem zuweilen an der Gesundheit, dagegen wird weder die Klugheit noch sonst ein Habitus durch die aus ihm selbst fließende Lust gehemmt, sondern nur durch fremde Lustempfindungen; denn diejenigen, die aus dem Denken und Lernen entspringen, können nur bewirken, dass man umsomehr denkt und lernt.

Dass aber keine Lust ein Werk der Kunst ist, hat seinen guten Grund; denn es gibt auch für sonst keine Tätigkeit eine Kunst, sondern nur für ein Vermögen; immerhin hat scheints die Salbenbereitungskunst und die Kochkunst es mit der Lust zu tun.

Für die Einwürfe ferner, dass der Mäßige die Lust fliehe, der Kluge nur nach einem schmerzlosen Leben trachte und Kinder und Tiere der Lust nachgehen, gilt insgesamt eine und dieselbe Widerlegung. Wir haben erklärt, inwiefern die Lüste schlechthin gut und inwiefern sie dies nicht alle sind. Solchen nun gehen die Tiere und die Kinder nach – und vor ihnen will der Kluge Ruhe haben –, den mit Begierde und Unlust verbundenen und den sinnlichen Lüsten – denn diese sind eben nicht schlechthin gut – und ihrem Übermaß, das den Unmäßigen zum Unmäßigen macht. Darum flieht der Mäßige diese Lust; es gibt dafür andere, die auch für ihn vorhanden sind.


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