Vorrede

 

 Doch ich habe mich unvermerkt zu weit von dem entfernt, worauf ich anfangs ausging; es sollte nämlich die Geschichte sein, wie ich zur Bearbeitung dieser Materie gekommen und unter ganz andern Beschäftigungen und Pflichten auf sie zurückgekommen bin. Schon in ziemlich frühen Jahren, da die Auen der Wissenschaften noch in alle dem Morgenschmuck vor mir lagen, von dem uns die Mittagssonne unsres Lebens so viel entzieht, kam mir oft der Gedanke ein: ob denn, da alles in der Welt seine Philosophie und Wissenschaft habe, nicht auch das, was uns am nächsten angeht, die Geschichte der Menschheit, im ganzen und großen eine Philosophie und Wissenschaft haben sollte? Alles erinnerte mich daran, Metaphysik und Moral, Physik und Naturgeschichte, die Religion endlich am meisten. Der Gott, der in der Natur alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet, der darnach das Wesen der Dinge, ihre Gestalt und Verknüpfung, ihren Lauf und ihre Erhaltung eingerichtet hat, so daß vom großen Weltgebäude bis zum Staubkorn, von der Kraft, die Erden und Sonnen hält, bis zum Faden eines Spinnegewebes nur eine Weisheit, Güte und Macht herrscht, Er, der auch im menschlichen Körper und in den Kräften der menschlichen Seele alles so wunderbar und göttlich überdacht hat, daß, wenn wir dem Allein-Weisen nur fernher nachzudenken wagen, wir uns in einem Abgrunde seiner Gedanken verlieren: wie, sprach ich zu mir, dieser Gott sollte in der Bestimmung und Einrichtung unsres Geschlechts im ganzen von seiner Weisheit und Güte ablassen und hier keinen Plan haben? Oder er sollte uns denselben verbergen wollen, da er uns in der niedrigern Schöpfung, die uns weniger angeht, so viel von den Gesetzen seines ewigen Entwurfs zeigte? Was ist das menschliche Geschlecht im ganzen als eine Herde ohne Hirten? Oder, wie jener klagende Weise sagt: »Lässest du sie gehen wie Fische im Meer und wie Gewürm, das keinen Herrn hat?« - Oder hatten sie nicht nötig, den Plan zu wissen? Ich glaube es wohl; denn welcher Mensch übersieht nur den kleinen Entwurf seines eignen Lebens? Und doch sieht er, so weit er sehen soll, und weiß gnug, um seine Schritte zu leiten; indessen, wird nicht auch eben dieses Nichtwissen zum Vorwande großer Mißbräuche? Wie viele sind, die, weil sie keinen Plan sehen, es geradezu leugnen, daß irgendein Plan sei, oder die wenigstens mit scheuem Zittern daran denken und zweifelnd glauben und glaubend zweifeln. Sie wehren sich mit Macht, das menschliche Geschlecht nicht als einen Ameishaufen zu betrachten, wo der Fuß eines Stärkern, der unförmlicherweise selbst Ameise ist, Tausende zertritt, Tausende in ihren klein-großen Unternehmungen zernichtet, ja wo endlich die zwei größten Tyrannen der Erde, der Zufall und die Zeit, den ganzen Haufen ohne Spur fortführen und den leeren Platz einer andern fleißigen Zunft überlassen, die auch so fortgeführt werden wird, ohne daß eine Spur bleibe. - Der stolze Mensch wehrt sich, sein Geschlecht als eine solche Brut der Erde und als einen Raub der alleszerstörenden Verwesung zu betrachten; und dennoch, dringen Geschichte und Erfahrung ihm nicht dieses Bild auf? Was ist denn Ganzes auf der Erde vollführt? Was ist auf ihr Ganzes? Sind also die Zeiten nicht geordnet, wie die Räume geordnet sind? Und beide sind ja die Zwillinge eines Schicksals. Jene sind voll Weisheit; diese voll scheinbarer Unordnung; und doch ist offenbar der Mensch dazu geschaffen, daß er Ordnung suchen, daß er einen Fleck der Zeiten übersehen, daß die Nachwelt auf die Vergangenheit bauen soll: denn dazu hat er Erinnerung und Gedächtnis. Und macht nun nicht eben dies Bauen der Zeiten aufeinander das Ganze unsres Geschlechts zum unförmlichen Riesengebäude, wo einer abträgt, was der andre anlegte, wo stehenbleibt, was nie hätte gebaut werden sollen, und in Jahrhunderten endlich alles ein Schutt wird, unter dem, je brüchiger er ist, die zaghaften Menschen desto zuversichtlicher wohnen? - Ich will die Reihe solcher Zweifel nicht fortsetzen und die Widersprüche des Menschen mit sich selbst, untereinander und gegen die ganze andre Schöpfung nicht verfolgen. Gnug, ich suchte nach einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, wo ich suchen konnte.

 Ob ich sie gefunden habe? Darüber mag dieses Werk, aber noch nicht sein erster Teil entscheiden. Dieser enthält nur die Grundlage, teils im allgemeinen Überblick unsrer Wohnstätte, teils im Durchgange der Organisationen, die unter und mit uns das Licht dieser Sonne genießen. Niemanden, hoffe ich, wird dieser Gang zu fern hergeholt und zu lang dünken: denn da, um das Schicksal der Menschheit aus dem Buch der Schöpfung zu lesen, es keinen andern als ihn gibt, so kann man ihn nicht sorgsam, nicht vielbetrachtend gnug gehen. Wer bloß metaphysische Spekulationen will, hat sie auf kürzerm Wege; ich glaube aber, daß sie, abgetrennt von Erfahrungen und Analogien der Natur, eine Luftfahrt sind, die selten zum Ziel führt. Gang Gottes in der Natur, die Gedanken, die der Ewige uns in der Reihe seiner Werke tätlich dargelegt hat: sie sind das heilige Buch, an dessen Charakteren ich zwar minder als ein Lehrling, aber wenigstens mit Treue und Eifer buchstabiert habe und buchstabieren werde. Wäre ich so glücklich, nur einem meiner Leser etwas von dem süßen Eindruck mitzuteilen, den ich über die ewige Weisheit und Güte des unerforschten Schöpfers in seinen Werken mit einem Zutrauen empfunden habe, dem ich keinen Namen weiß, so wäre dieser Eindruck von Zuversicht das sichere Band, mit welchem wir uns im Verfolg des Werks auch in die Labyrinthe der Menschengeschichte wagen könnten. Überall hat mich die große Analogie der Natur auf Wahrheiten der Religion geführt, die ich nur mit Mühe unterdrücken mußte, weil ich sie mir selbst nicht zum voraus rauben und Schritt vor Schritt nur dem Licht treu bleiben wollte, das mir von der verborgenen Gegenwart des Urhebers in seinen Werken allenthalben zustrahlt. Es wird ein um so größeres Vergnügen für meine Leser und für mich sein, wenn wir, unsern Weg verfolgend, dies dunkelstrahlende Licht zuletzt als Flamme und Sonne werden aufgehen sehen.

 Niemand irre sich daher auch daran, daß ich zuweilen den Namen der Natur personifiziert gebrauche. Die Natur ist kein selbständiges Wesen, sondern Gott ist alles in seinen Werken; indessen wollte ich diesen hochheiligen Namen, den kein erkenntliches Geschöpf ohne die tiefste Ehrfurcht nennen sollte, durch einen öftern Gebrauch, bei dem ich ihm nicht immer Heiligkeit gnug verschaffen konnte, wenigstens nicht mißbrauchen. Wem der Name »Natur« durch manche Schriften unsres Zeitalters sinnlos und niedrig geworden ist, der denke sich statt dessen jene allmächtige Kraft, Güte und Weisheit und nenne in seiner Seele das unsichtbare Wesen, das keine Erdensprache zu nennen vermag.

 Ein gleiches ist's, wenn ich von den organischen Kräften der Schöpfung rede; ich glaube nicht, daß man sie für qualitates occultas ansehen werde, da wir ihre offenbaren Wirkungen vor uns sehen und ich ihnen keinen bestimmtern, reinern Namen zu geben wußte. Ich behalte mir über sie und über manche andre Materien, die ich nur winkend anzeigen mußte, künftig eine weitere Erörterung vor.

 Und freue mich dagegen, daß meine Schülerarbeit in Zeiten trifft, da in so manchen einzelnen Wissenschaften und Kenntnissen, aus denen ich schöpfen mußte, Meisterhände arbeiten und sammlen. Von diesen bin ich gewiß, daß sie den exoterischen Versuch eines Fremdlings in ihren Künsten nicht verachten, sondern verbessern werden: denn ich habe es immer bemerkt, daß, je reeller und gründlicher eine Wissenschaft ist, desto weniger herrscht eitler Zank unter denen, die sie anbauen und lieben. Sie überlassen das Wortgezänk den Wortgelehrten In den meisten Stücken zeigt mein Buch, daß man anjetzt noch keine Philosophie der menschlichen Geschichte schreiben könne, daß man sie aber vielleicht am Ende unsres Jahrhunderts oder Jahrtausends schreiben werde.

 Und so lege ich, großes Wesen, Du unsichtbarer hoher Genius unsers Geschlechts, das unvollkommenste Werk, das ein Sterblicher schrieb und in dem er Dir nachzusinnen, nachzugehen wagte, zu Deinen Füßen. Seine Blätter mögen verwehn und seine Charaktere zerstieben; auch die Formen und Formeln werden zerstieben, in denen ich Deine Spur sah und für meine Menschenbrüder auszudrücken strebte; aber Deine Gedanken werden bleiben, und Du wirst sie Deinem Geschlecht von Stufe zu Stufe mehr enthüllen und in herrlichern Gestalten darlegen. Glücklich, wenn alsdenn diese Blätter im Strom der Vergessenheit untergegangen sind und dafür hellere Gedanken in den Seelen der Menschen leben.

Weimar, den 23. April 1784

Herder

 


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