III..6. Organischer Unterschied der Tiere und Menschen


Man hat unserm Geschlecht ein sehr unwahres Lob gemacht, wenn man behauptete, daß sich jede Kraft und Fähigkeit aller andern Geschlechter dem höchsten Grad nach in ihm finde. Das Lob ist unerweislich und sich selbst widersprechend; denn offenbar hübe sodenn eine Kraft die andere auf, und das Geschöpf hätte ganz und gar keinen Genuß seines Wesens. Wie besteht es zusammen, daß der Mensch wie die Blume blühen, wie die Spinne tasten, wie die Biene bauen, wie der Schmetterling saugen könnte und zugleich die Muskelkraft des Löwen, den Rüssel des Elefanten, die Kunst des Bibers besäße? Und besitzt, ja begreift er nur eine dieser Kräfte mit der Innigkeit, mit der sie das Geschöpf genießet und übt?

Von der andern Seite hat man ihn, ich will nicht sagen zum Tier erniedrigen, sondern ihm einen Charakter seines Geschlechts gar absprechen und ihn zu einem ausgearteten Tier machen wollen, das, indem es höhern Vollkommenheiten nachgestrebt, ganz und gar die Eigenheit seiner Gattung verloren. Dies ist nun offenbar auch gegen die Wahrheit und Evidenz seiner Naturgeschichte Augenscheinlich hat er Eigenschaften, die kein Tier hat, und hat Wirkungen hervorgebracht, die im Guten und Bösen ihm eigen bleiben. Kein Tier frißt seinesgleichen aus Leckerei; kein Tier mordet sein Geschlecht auf den Befehl eines Dritten mit kaltem Blut. Kein Tier hat Sprache, wie der Mensch sie hat, noch weniger Schrift, Tradition, Religion, willkürliche Gesetze und Rechte. Kein Tier endlich hat auch nur die Bildung, die Kleidung, die Wohnung, die Künste, die unbestimmte Lebensart, die ungebundnen Triebe, die flatterhaften Meinungen, womit sich beinah jedes Individuum der Menschen auszeichnet. Wir untersuchen noch nicht, ob alle dies zum Vorteil oder Schaden unserer Gattung sei; gnug, es ist der Charakter unserer Gattung. Da jedes Tier der Art seines Geschlechts im ganzen treu bleibt und wir allein nicht die Notwendigkeit, sondern die Willkür zu unserer Göttin erwählt haben, so muß dieser Unterschied als Tatsache untersucht werden; denn solche ist er unleugbar. Die andere Frage: wie der Mensch dazu gekommen, ob dieser Unterschied ihm ursprünglich sei oder ob er angenommen und affektiert worden, ist von einer andern nämlich von bloß historischer Art; auch hier müßte die Perfektibilität oder Korruptibilität, in der es ihm bisher noch kein Tier nachgetan hat, doch auch zum auszeichnenden Charakter seiner Gattung gehört haben. Wir setzen also alle Metaphysik beiseite und halten uns an Physiologie und Erfahrung.

1. Die Gestalt des Menschen ist aufrecht; er ist hierin einzig auf der Erde. Denn ob der Bär gleich einen breiten Fuß hat und sich im Kampf aufwärts richtet, obgleich der Affe und Pygmäe zuweilen aufrecht gehen oder laufen, so ist doch seinem Geschlecht allein dieser Gang beständig und natürlich. Sein Fuß ist fester und breiter; er hat einen längern großen Zeh, da der Alle nur einen Daumen hat; auch seine Ferse ist zum Fußblatt gezogen. Zu dieser Stellung sind alle dahin wirkende Muskeln bequemt. Die Wade ist vergrößert; das Becken zurück-, die Hüften auseinandergezogen; der Rücken ist weniger gekrümmt, die Brust erweitert; er hat Schlüsselbeine und Schultern, an den Händen feinfühlende Finger; der hinsinkende Kopf ist auf den Muskeln des Halses zur Krone des Gebäudes erhoben: der Mensch ist anthrôpos, ein über sich, ein weit um sich schauendes Geschöpf.

Nun muß es zugegeben werden, daß dieser Gang dem Menschen nicht so wesentlich sei, daß etwa jeder andere ihm so unmöglich wie das Fliegen würde. Nicht nur Kinder zeigen das Gegenteil, sondern die Menschen, die unter die Tiere gerieten, haben's durch Erfahrung bewiesen. Eilf bis zwölf Personen21) dieser Art sind bekannt, und obwohl nicht alle hinlänglich beobachtet und beschrieben worden, so ergeben doch einige Beispiele deutlich, daß der biegsamen Natur des Menschen auch der für ihn ungemäßeste Gang nicht ganz unmöglich werde. Sein Kopf sowohl als sein Unterleib liegen mehr vorwärts; der Körper kann also auch vorwärts fallen, wie der Kopf im Schlummer sinkt. Kein toter Körper kann aufrecht stehen, und nur durch eine zahllose Menge angestrengter Tätigkeiten wird unser künstliche Stand und Gang möglich.

Also ist eben auch begreiflich, daß mit dem tierartigen Gange viele Glieder des menschlichen Körpers ihre Gestalt und ihr Verhältnis zueinander ändern müssen, wie abermals das Beispiel der verwilderten Menschen zeigt. Der irländische Knabe, den Tulpius beschrieben, hatte eine flache Stirn, ein erhöhtes Hinterhaupt, eine weite blökende Kehle, eine dicke, an den Gaum gewachsene Zunge, eine stark einwärts gezogene Herzgrube; gerade wie es der vierfüßige Gang geben mußte. Das niederländische Mädchen, die noch aufrecht ging und bei der sich die weibliche Natur so weit erhalten hatte, daß es sich mit einer Strohschürze deckte, hatte eine braune, rauche, dicke Haut, ein langes und dickes Haar. Das Mädchen, das zu Songi in Champagne gefangen wurde, hatte ein schwarzes Ansehen, starke Finger, lange Nägel, und besonders waren die Daumen so stark und verlängert, daß sie sich damit wie ein Eichhörnchen von Baum zu Baum schwang. Ihr schneller Lauf war kein Gehen, sondern ein fliegendes Trippeln und Fortgleiten, wobei an den Füßen fast gar keine Bewegung zu unterscheiden war. Der Ton ihrer Stimme war fein und schwach, ihr Geschrei durchdringend und erschrecklich. Sie hatte ungewöhnliche Leichtigkeit und Stärke und war von ihrer vorigen Nahrung des blutigen und rohen Fleisches, der Fische, der Blätter und Wurzeln so schwer zu entwöhnen, daß sie nicht nur zu entfliehen suchte, sondern auch in eine tödliche Krankheit fiel, aus der sie nur durch Saugen des warmen Bluts, das sie wie ein Balsam durchdrang, zurückgebracht werden konnte. Ihre Zähne und Nägel fielen aus, da sie sich zu unsern Speisen gewöhnen sollte; unerträgliche Schmerzen zogen ihr Magen und Eingeweide, besonders die Gurgel zusammen, die lechzend und ausgetrocknet war. Lauter Erweise, wie sehr sich die biegsame menschliche Natur, selbst da sie von Menschen geboren und eine Zeitlang unter ihnen erzogen worden, in wenigen Jahren zu der niedrigen Tierart gewöhnen konnte, unter die sie ein unglücklicher Zufall setzte.

Nun könnte ich auch den häßlichen Traum ausmalen, was aus der Menschheit hätte werden müssen, wenn sie, zu diesem Lose verdammt, in einem vierfüßigen Mutterleibe zu einem Tierfötus gebildet wäre; welche Kräfte sich damit hätten stärken und schwächen, welches der Gang der Menschentiere, ihre Erziehung, ihre Lebensart, ihr Gliederbau hätte sein müssen u. s. f. Aber fliehe, unseliges und abscheuliches Bild, häßliche Unnatur des natürlichen Menschen! Du bist weder in der Natur da, noch sollst du durch einen Strich meiner Farben vorgestellt werden. Denn:

2. Der aufrechte Gang des Menschen ist ihm einzig natürlich: ja er ist die Organisation zum ganzen Beruf seiner Gattung und sein unterscheidender Charakter.

Kein Volk der Erde hat man vierfüßig gefunden; auch die wildesten haben aufrechten Gang, sosehr sich manche an Bildung und Lebensart den Tieren nähern. Selbst die Unfühlbaren des Diodors samt andern Fabelgeschöpfen alter und mittlerer Schriftsteller gehen auf zwei Beinen; und ich begreife nicht, wie das Menschengeschlecht, wenn es je diese niedrige Lebensweise als Natur gehabt hätte, sich zu einer andern, so zwang-, so kunstvollen, jemals würde erhoben haben. Welche Mühe kostete es, die Verwilderten, die man fand, zu unserer Lebensart und Nahrung zu gewöhnen! Und sie waren nur verwildert, nur wenige Jahre unter diesen Unvernünftigen gewesen. Das eskimoische Mädchen hatte sogar noch Begriffe ihres vorigen Zustandes, Reste der Sprache und Instinkte zu ihrem Vaterlande, und doch lag ihre Vernunft in Tierheit gefangen; sie hatte von ihren Reisen, von ihrem ganzen wilden Zustande keine Erinnerung. Die andern besaßen nicht nur keine Sprache, sondern waren zum Teil auch auf immer zur menschlichen Sprache verwahrloset. - Und das Menschentier sollte, wenn es äonenlang in diesem niedrigen Zustande gewesen, ja im Mutterleibe schon durch den vierfüßigen Gang zu demselben nach ganz andern Verhältnissen wäre gebildet worden, ihn freiwillig verlassen und sich aufrecht erhoben haben? Aus Kraft des Tiers, die ihn ewig herabzog, sollte er sich zum Menschen gemacht und menschliche Sprache erfunden haben, ehe er ein Mensch war? Wäre der Mensch ein vierfüßiges Tier, wäre er's jahrtausendelang gewesen, er wäre es sicher noch, und nur ein Wunder der neuen Schöpfung hätte ihn zu dem, was er jetzt ist und wie wir ihn aller Geschichte und Erfahrung nach allein kennen, umgebildet.

Warum wollen wir also unerwiesne, ja völlig widersprechende Paradoxa annehmen, da der Bau des Menschen, die Geschichte seines Geschlechts und endlich, wie mich dünkt, die ganze Analogie der Organisation unserer Erde uns auf etwas anderes führt? Kein Geschöpf, das wir kennen, ist aus seiner ursprünglichen Organisation gegangen und hat sich ihr zuwider eine andere bereitet, da es ja nur mit den Kräften wirkte, die in seiner Organisation lagen, und die Natur Wege gnug wußte, ein jedes der Lebendigen auf dem Standpunkt festzuhalten, den sie ihm anwies. Beim Menschen ist auf die Gestalt, die er jetzt hat, alles eingerichtet; aus ihr ist in seiner Geschichte alles, ohne sie nichts erklärlich; und da auf diese, als auf die erhabne Göttergestalt und künstlichste Hauptschönheit der Erde, auch alle Formen der Tierbildung zu konvergieren scheinen und ohne jene sowie ohne das Reich des Menschen die Erde ihres Schmucks und ihrer herrschenden Krone beraubt bliebe: warum wollten wir dies Diadem unserer Erwählung in den Staub werfen und gerade den Mittelpunkt des Kreises nicht sehen wollen, in welchem alle Radien zusammenzulaufen scheinen? Als die bildende Mutter ihre Werke vollbracht und alle Formen erschöpft hatte, die auf dieser Erde möglich waren, stand sie still und übersann ihre Werke; und als sie sah, daß bei ihnen allen der Erde noch ihre vornehmste Zierde, ihr Regent und zweiter Schöpfer fehlte: siehe, da ging sie mit sich zu Rat, drängte die Gestalten zusammen und formte aus allen ihr Hauptgebilde, die menschliche Schönheit. Mütterlich bot sie ihrem letzten künstlichen Geschöpf die Hand und sprach: »Steh auf von der Erde! Dir selbst überlassen, wärest du Tier wie andere Tiere; aber durch meine besondre Huld und Liebe gehe aufrecht und werde der Gott der Tiere!« Lasst uns bei diesem heiligen Kunstwerk, der Wohltat, durch die unser Geschlecht ein Menschengeschlecht wurde, mit dankbarem Blick verweilen; mit Verwundrung werden wir sehen, welche neue Organisation von Kräften in der aufrechten Gestalt der Menschheit anfange und wie allein durch sie der Mensch ein Mensch wurde.


 © textlog.de 2004 • 15.11.2024 11:25:40 •
Seite zuletzt aktualisiert: 26.10.2004 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright