V.6. Der jetzige Zustand der Menschen ist wahrscheinlich das verbindende Mittelglied zweier Welten

 

Alles ist in der Natur verbunden: ein Zustand strebt zum andern und bereitet ihn vor. Wenn also der Mensch die Kette der Erdorganisation als ihr höchstes und letztes Glied schloß, so fängt er auch eben dadurch die Kette einer höhern Gattung von Geschöpfen als ihr niedrigstes Glied an; und so ist er wahrscheinlich der Mittelring zwischen zwei ineinandergreifenden Systemen der Schöpfung. Auf der Erde kann er in keine Organisation mehr übergehen, oder er müßte rückwärts und sich im Kreise umhertaumeln; stillstehen kann er nicht, da keine lebendige Kraft im Reich der wirksamsten Güte ruht; also muß ihm eine Stufe bevorstehn, die so dicht an ihm und doch über ihm so erhaben ist, als er, mit dem edelsten Vorzuge geschmückt, ans Tier grenzt. Diese Aussicht, die auf allen Gesetzen der Natur ruht, gibt uns allein den Schlüssel seiner wunderbaren Erscheinung, mithin die einzige Philosophie der Menschengeschichte. Denn nun wird

1. der sonderbare Widerspruch klar, in dem sich der Mensch zeigt. Als Tier dienet er der Erde und hangt an ihr als seiner Wohnstätte; als Mensch hat er den Samen der Unsterblichkeit in sich, der einen andern Pflanzgarten fodert. Als Tier kann er seine Bedürfnisse befriedigen, und Menschen, die mit ihnen zufrieden sind, befinden sich sehr wohl hienieden. Sobald er irgendeine edlere Anlage verfolgt, findet er überall Unvollkommenheiten und Stückwerk; das Edelste ist auf der Erde nie ausgeführt worden, das Reinste hat selten Bestand und Dauer gewonnen; für die Kräfte unsers Geistes und Herzens ist dieser Schauplatz immer nur eine Übungs- und Prüfungsstätte. Die Geschichte unsers Geschlechts mit ihren Versuchen, Schicksalen, Unternehmungen und Revolutionen beweist dies sattsam. Hie und da kam ein Weiser, ein Guter und streute Gedanken, Ratschläge und Taten in die Flut der Zeiten; einige Wellen kreisten sich umher, aber der Strom riß sie hin und nahm ihre Spur weg; das Kleinod ihrer edlen Absichten sank zu Grunde. Narren herrschten über die Ratschläge der Weisen, und Verschwender erbten die Schätze des Geistes ihrer sammlenden Eltern. Sowenig das Leben des Menschen hienieden auf eine Ewigkeit berechnet ist, sowenig ist die runde, sich immer bewegende Erde eine Werkstätte bleibender Kunstwerke, ein Garten ewiger Pflanzen, ein Lustschloß ewiger Wohnung. Wir kommen und gehen; jeder Augenblick bringt Tausende her und nimmt Tausende hinweg von der Erde: sie ist eine Herberge für Wanderer, ein Irrstern, auf dem Zugvögel ankommen und Zugvögel wegeilen. Das Tier lebt sich aus, und wenn es auch höhern Zwecken zufolge sich den Jahren nach nicht auslebt, so ist doch sein innerer Zweck erreicht; seine Geschicklichkeiten sind da, und es ist, was es sein soll. Der Mensch allein ist im Widerspruch mit sich und mit der Erde; denn das ausgebildetste Geschöpf unter allen ihren Organisationen ist zugleich das unausgebildetste in seiner eignen neuen Anlage, auch wenn er lebenssatt aus der Welt wandert. Die Ursache ist offenbar die, daß sein Zustand, der letzte für diese Erde, zugleich der erste für ein anderes Dasein ist, gegen den er wie ein Kind in den ersten Übungen hier erscheint. Er stellt also zwo Welten auf einmal dar; und das macht die anscheinende Duplizität seines Wesens.

2. Sofort wird klar, welcher Teil bei den meisten hienieden der herrschende sein werde. Der größeste Teil der Menschen ist Tier; zur Humanität hat er bloß die Fähigkeit auf die Welt gebracht, und sie muß ihm durch Mühe und Fleiß erst angebildet werden. Wie wenigen ist es nun auf die rechte Weise angebildet worden! Und auch bei den Besten, wie fein und zart ist die ihnen aufgepflanzte göttliche Blume, Lebenslang will das Tier über den Menschen herrschen, und die meisten lassen es nach Gefallen über sich regieren. Es zieht also unaufhörlich nieder, wenn der Geist hinauf, wenn das Herz in einen freien Kreis will; und da für ein sinnliches Geschöpf die Gegenwart immer lebhafter ist als die Entfernung und das Sichtbare mächtiger auf dasselbe wirkt als das Unsichtbare, so ist leicht zu erachten, wohin die Waage der beiden Gewichte überschlagen werde. Wie wenig reiner Freuden, wie wenig reiner Erkenntnis und Tugend ist der Mensch fähig! Und wenn er ihrer fähig wäre, wie wenig ist er an sie gewöhnt! Die edelsten Verbindungen hienieden werden von niedrigen Trieben, wie die Schiffahrt des Lebens von widrigen Winden, gestört, und der Schöpfer, barmherzigstrenge, hat beide Verwirrungen ineinander geordnet, um eine durch die andere zu zähmen und die Sprosse der Unsterblichkeit mehr durch rauhe Winde als durch schmeichelnde Weste in uns zu erziehen. Ein vielversuchter Mensch hat viel gelernt; ein träger und müßiger weiß nicht, was in ihm liegt, noch weniger weiß er mit selbstgefühlter Freude, was er kann und vermag Das Leben ist also ein Kampf, und die Blume der reinen, unsterblichen Humanität eine schwererrungene Krone. Den Läufern steht das Ziel am Ende; den Kämpfern um die Tugend wird der Kranz im Tode.

3. Wenn höhere Geschöpfe also auf uns blicken, so mögen sie uns wie wir die Mittelgattungen betrachten, mit denen die Natur aus einem Element ins andere übergeht. Der Strauß schwingt matt seine Flügel nur zum Lauf, nicht zum Fluge; sein schwerer Körper zieht ihn zum Boden. Indessen, auch für ihn und für jedes Mittelgeschöpf hat die organisierende Mutter gesorget: auch sie sind in sich vollkommen und scheinen nur unserm Auge unförmlich. So ist's auch mit der Menschennatur hienieden: ihr Unförmliches fällt einem Erdengeist schwer auf; ein höherer Geist aber, der in das Inwendige blickt und schon mehrere Glieder der Kette sieht, die füreinander gemacht sind, kann uns zwar bemitleiden, aber nicht verachten. Er sieht, warum Menschen in so vielerlei Zuständen aus der Welt gehen müssen, jung und alt, töricht und weise, als Greise, die zum zweitenmal Kinder wurden, oder gar als Ungeborne. Wahnsinn und Mißgestalten, alle Stufen der Kultur, alle Verirrungen der Menschheit umfaßte die allmächtige Güte und hat Balsam gnug in ihren Schätzen, auch die Wunden, die nur der Tod lindern konnte, zu heilen. Da wahrscheinlich der künftige Zustand so aus dem jetzigen hervorsproßt wie der unsere aus dem Zustande niedrigerer Organisationen, so ist ohne Zweifel auch das Geschäft desselben näher mit unserm jetzigen Dasein verknüpft, als wir denken. Der höhere Garte blüht nur durch die Pflanzen, die hier keimten und unter einer rauhen Hülle die ersten Sprößchen trieben. Ist nun, wie wir gesehen haben, Geselligkeit, Freundschaft, wirksame Teilnehmung beinahe der Hauptzweck, worauf die Humanität in ihrer ganzen Geschichte der Menschheit angelegt ist, so muß diese schönste Blüte des menschlichen Lebens notwendig dort zu der erquickenden Gestalt, zu der umschattenden Höhe gelangen, nach der in allen Verbindungen der Erde unser Herz vergebens dürstet. Unsere Brüder der höhern Stufe lieben uns daher gewiß mehr und reiner, als wir sie suchen und lieben können; denn sie übersehen unsern Zustand klärer; der Augenblick der Zeit ist ihnen vorüber, alle Disharmonien sind aufgelöst, und sie erziehen an uns vielleicht unsichtbar ihres Glückes Teilnehmer, ihres Geschäfts Brüder. Nur einen Schritt weiter, und der gedrückte Geist kann freier atmen, das verwundete Herz ist genesen; sie sehen den Schritt herannahn und helfen dem Gleitenden mächtig hinüber.

 


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