V.6. Der jetzige Zustand der Menschen ist wahrscheinlich das verbindende Mittelglied zweier Welten
4. Ich kann mir also auch nicht vorstellen, daß, da wir eine Mittelgattung von zwei Klassen und gewissermaßen die Teilnehmer beider sind, der künftige Zustand von dem jetzigen so fern und ihm so ganz unmitteilbar sein sollte, als das Tier im Menschen gern glauben möchte; vielmehr werden mir in der Geschichte unseres Geschlechts manche Schritte und Erfolge ohne höhere Einwirkung unbegreiflich. Daß z.B. der Mensch sich selbst auf den Weg der Kultur gebracht und ohne höhere Anleitung sich Sprache und die erste Wissenschaft erfunden, scheint mir unerklärlich und immer unerklärlicher, je einen längern rohen Tierzustand man bei ihm voraussetzt. Eine göttliche Haushaltung hat gewiß über dem menschlichen Geschlecht von seiner Entstehung an gewaltet und hat es auf die ihm leichteste Weise zu seiner Bahn geführt. Je mehr aber die menschliche Kräfte selbst in Übung waren, desto weniger bedorften sie teils dieser höhern Beihülfe oder desto minder wurden sie ihrer fähig, obwohl auch in spätern Zeiten die größesten Wirkungen auf der Erde durch unerklärliche Umstände entstanden sind oder mit ihnen begleitet gewesen. Selbst Krankheiten waren dazu oft Werkzeuge; denn wenn das Organ aus seiner Proportion mit andern gesetzt und also für den gewöhnlichen Kreis des Erdelebens unbrauchbar worden ist, so scheint's natürlich, daß die innere rastlose Kraft sich nach andern Seiten des Weltalls kehre und vielleicht Eindrücke empfange, deren eine ungestörte Organisation nicht fähig war, deren sie aber auch nicht bedorfte. Wie dem aber auch sei, so ist's gewiß ein wohltätiger Schleier, der diese und jene Welt absondert, und nicht ohne Ursach ist's so still und stumm um das Grab eines Toten. Der gewöhnliche Mensch auf dem Gange seines Lebens wird von Eindrücken entfernt, deren ein einziger den ganzen Kreis seiner Ideen zerrütten und ihn für diese Welt unbrauchbar machen würde. Kein nachahmender Affe höherer Wesen sollte der zur Freiheit erschaffene Mensch sein, sondern, auch wo er geleitet wird, im glücklichen Wahn stehen, daß er selbst handle. Zu seiner Beruhigung und zu dem edlen Stolz, auf dem seine Bestimmung liegt, wurde ihm der Anblick edlerer Wesen entzogen; denn wahrscheinlich würden wir uns selbst verachten, wenn wir diese kennten. Der Mensch also soll in seinen künftigen Zustand nicht hineinschauen, sondern sich hineinglauben.
5. So viel ist gewiß, daß in jeder seiner Kräfte eine Unendlichkeit liegt, die hier nur nicht entwickelt werden kann, weil sie von andern Kräften, von Sinnen und Trieben des Tiers unterdrückt wird und zum Verhältnis des Erdelebens gleichsam in Banden lieget. Einzelne Beispiele des Gedächtnisses, der Einbildungskraft, ja gar der Vorhersagung und Ahnung haben Wunderdinge entdeckt von dem verborgenen Schatz, der in menschlichen Seelen ruht; ja sogar die Sinne sind davon nicht ausgeschlossen Daß meistens Krankheiten und gegenseitige Mängel diese Schätze zeigten, ändert in der Natur der Sache nichts, da eben diese Disproportion erfordert wurde, dem einen Gewicht seine Freiheit zu geben und die Macht desselben zu zeigen. Der Ausdruck Leibniz', daß die Seele ein Spiegel des Weltalls sei, enthält vielleicht eine tiefere Wahrheit, als die man aus ihm zu entwickeln pflegt; denn auch die Kräfte eines Weltalls scheinen in ihr verborgen, und sie bedarf nur einer Organisation oder einer Reihe von Organisationen, diese in Tätigkeit und Übung setzen zu dörfen. Der Allgütige wird ihr diese Organisationen nicht versagen, und er gängelt sie als ein Kind, sie zur Fülle des wachsenden Genusses, im Wahn eigen erworbener Kräfte und Sinne allmählich zu bereiten. Schon in ihren gegenwärtigen Fesseln sind ihr Raum und Zeit leere Worte: sie messen und bezeichnen Verhältnisse des Körpers, nicht aber ihres innern Vermögens, das über Raum und Zeit hinaus ist, wenn es in seiner vollen innigen Freude wirkt. Um Ort und Stunde deines künftigen Daseins gib dir also keine Mühe; die Sonne, die deinem Tage leuchtet, misset dir deine Wohnung und dein Erdengeschäft und verdunkelt dir so lange alle himmlischen Sterne. Sobald sie untergeht, erscheint die Welt in ihrer größern Gestalt; die heilige Nacht, in der du einst eingewickelt lagest und einst eingewickelt liegen wirst, bedeckt deine Erde mit Schatten und schlägt dir dafür am Himmel die glänzenden Bücher der Unsterblichkeit auf. Da sind Wohnungen, Welten und Räume -
In voller Jugend glänzen sie,
Da schon Jahrtausende vergangen:
Der Zeiten Wechsel raubt nie
Das Licht von ihren Wangen.
Hier aber unter unserm Blick
Verfällt, vergeht, verschwindet alles:
Der Erde Pracht, der Erde Glück
Droht eine Zeit des Falles.
Sie selbst wird nicht mehr sein, wenn du noch sein wirst und in andern Wohnplätzen und Organisationen Gott und seine Schöpfung genießest. Du hast auf ihr viel Gutes genossen. Du gelangtest auf ihr zu der Organisation, in der du als ein Sohn des Himmels um dich her und über dich schauen lerntest. Suche sie also vergnügt zu verlassen und segne ihr als der Aue nach, wo du als ein Kind der Unsterblichkeit spieltest, und als der Schule nach, wo du durch Leid und Freude zum Mannesalter erzogen wurdest. Du hast weiter kein Anrecht an sie, sie hat kein Anrecht an dich; mit dem Hut der Freiheit gekrönt und mit dem Gurt des Himmels gegürtet, setze fröhlich deinen Wanderstab weiter.
Wie also die Blume dastand und in aufgerichteter Gestalt das Reich der unterirdischen, noch unbelebten Schöpfung schloß, um sich im Gebiet der Sonne des ersten Lebens zu freuen, so steht über allen zur Erde Gebückten der Mensch wieder aufrecht da. Mit erhabnem Blick und aufgehobnen Händen steht er da, als ein Sohn des Hauses den Ruf seines Vaters erwartend.