IV.4. Der Mensch ist zu feinern Trieben, mithin zur Freiheit organisiert
Um die Hoheit dieser Bestimmung zu fühlen, lasst uns bedenken, was in den großen Gaben Vernunft und Freiheit liegt und wieviel die Natur gleichsam wagte, da sie dieselbe einer so schwachen, vielfachgemischten Erdorganisation, als der Mensch ist, anvertraute. Das Tier ist nur ein gebückter Sklave, wenngleich einige edlere derselben ihr Haupt emporheben oder wenigstens mit vorgerecktem Halse sich nach Freiheit sehnen. Ihre noch nicht zur Vernunft gereifte Seele muß notdürftigen Trieben dienen und in diesem Dienst sich erst zum eignen Gebrauch der Sinne und Neigungen von fern bereiten. Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen. Wie die Natur ihm zwo freie Hände zu Werkzeugen gab und ein überblickendes Auge, seinen Gang zu leiten, so hat er auch in sich die Macht, nicht nur die Gewichte zu stellen, sondern auch, wenn ich so sagen darf, selbst Gewicht zu sein auf der Waage. Er kann dem trüglichsten Irrtum Schein geben und ein freiwillig Betrogener werden; er kann die Ketten, die ihn, seiner Natur entgegen, fesseln, mit der Zeit lieben lernen und sie mit mancherlei Blumen bekränzen. Wie es also mit der getäuschten Vernunft ging, geht's auch mit der mißbrauchten oder gefesselten Freiheit; sie ist bei den meisten das Verhältnis der Kräfte und Triebe, wie Bequemlichkeit oder Gewohnheit sie festgestellt haben. Selten blickt der Mensch über diese hinaus und kann oft, wenn niedrige Triebe ihn fesseln und abscheuliche Gewohnheiten ihn binden, ärger als ein Tier werden.
Indessen ist er, auch seiner Freiheit nach, und selbst im ärgsten Mißbrauch derselben, ein König. Er darf doch wählen, wenn er auch das Schlechteste wählte; er kann über sich gebieten, wenn er sich auch zum Niedrigsten aus eigner Wahl bestimmte. Vor dem Allsehenden, der diese Kräfte in ihn legte, ist freilich sowohl seine Vernunft als Freiheit begrenzt; und sie ist glücklich begrenzt, weil, der die Quelle schuf, auch jeden Ausfluß derselben kennen, vorhersehen und so zu lenken wissen mußte, daß der ausschweifendste Bach seinen Händen nimmer entrann; in der Sache selbst aber und in der Natur des Menschen wird dadurch nichts geändert. Er ist und bleibt für sich ein freies Geschöpf, obwohl die all umfassende Güte ihn auch in seinen Torheiten umfasset und diese zu seinem und dem allgemeinen Besten lenkt. Wie kein getriebenes Geschoß der Atmosphäre entfliehen kann, aber auch, wenn es zurückfällt, nach einen und denselben Naturgesetzen wirkt, so ist der Mensch im Irrtum und in der Wahrheit, im Fallen und Wiederaufstehen Mensch, zwar ein schwaches Kind, aber doch ein Freigeborner; wenn noch nicht vernünftig, so doch einer bessern Vernunft fähig; wenn noch nicht zur Humanität gebildet, so doch zu ihr bildbar. Der Menschenfresser in Neuseeland und Fenelon, der verworfene Pescherei und Newton sind Geschöpfe einer und derselben Gattung.
Nun scheint es zwar, daß auf unserer Erde alle ihr mögliche Verschiedenheit auch im Gebrauch dieser Gaben stattfinden sollte, und es wird ein Stufengang sichtbar vom Menschen, der zunächst ans Tier grenzt, bis zum reinsten Genius im Menschenbilde. Wir dörfen uns auch hierüber nicht wundern, da wir die große Gradation der Tiere unter uns sehen und welch einen langen Weg die Natur nehmen mußte, um die kleine aufsprossende Blüte von Vernunft und Freiheit in uns organisierend vorzubereiten. Es scheint, daß auf unserer Erde alles sein sollte, was auf ihr möglich war; und nur denn werden wir uns die Ordnung und Weisheit dieser reichen Fülle gnugsam erklären können, wenn wir, einen Schritt weiter, den Zweck übersehen, wozu so mancherlei in diesem großen Garten der Natur sprossen mußte. Hier sehen wir meistens nur Gesetze der Notdurft obwalten; denn die ganze Erde, auch in ihren wildesten Entlegenheiten, sollte bewohnt werden; und nur der, der sie so fern streckte, weiß die Ursach, warum er auch Peschereis und Neuseeländer in dieser seiner Welten zuließ. Dem größesten Verächter des Menschengeschlechts ist's indessen unleugbar, daß, in so viel wilde Ranken Vernunft und Freiheit unter den Kindern der Erde aufgeschossen sind, diese edeln Gewächse unter dem Licht der himmlischen Sonne auch schöne Früchte getragen haben. Fast unglaublich wäre es, wenn es uns die Geschichte nicht sagte, in welche Höhen sich der menschliche Verstand gewagt und der schaffenden, erhaltenden Gottheit nicht nur nachzuspähen, sondern auch ordnend nachzufolgen bemüht hat. Im Chaos der Wesen, das ihm die Sinne zeigen, hat er Einheit und Verstand, Gesetze der Ordnung und Schönheit gesucht und gefunden. Die verborgensten Kräfte, die er von innen gar nicht kennt, hat er in ihrem äußern Gange belauscht und der Bewegung, der Zahl, dem Maß, dem Leben, sogar dem Dasein nachgespürt, wo er dieselbe im Himmel und auf Erden nur wirken sah. Alle seine Versuche hierüber, selbst wo er irrte oder nur träumen konnte, sind Beweise seiner Majestät, einer gottähnlichen Kraft und Hoheit. Das Wesen, das alles schuf, hat wirklich einen Strahl seines Lichts, einen Abdruck der ihm eigensten Kräfte in unsere schwache Organisation gelegt, und so niedrig der Mensch ist, kann er zu sich sagen: »Ich habe etwas mit Gott gemein; ich besitze Fähigkeiten, die der Erhabenste, den ich in seinen Werken kenne, auch haben muß: denn er hat sie rings um mich offenbart.« Augenscheinlich war diese Ähnlichkeit mit ihm selbst die Summe aller seiner Erdeschöpfung. Er konnte auf diesem Schauplatz nicht höher hinauf; er unterließ aber auch nicht, bis zu ihr hinaufzusteigen und die Reihe seiner Organisationen zu diesem höchsten Punkt hinaufzuführen. Deswegen wurde auch der Gang zu ihm bei aller Verschiedenheit der Gestalten so einförmig.
Gleicherweise hat auch die Freiheit im Menschengebilde edle Früchte getragen und sich sowohl in dem, was sie verschmähte, als was sie unternahm, ruhmwürdig gezeigt. Daß Menschen dem unsteten Zuge blinder Triebe entsagten und freiwillig den Bund der Ehe, einer geselligen Freundschaft, Unterstützung und Treue auf Leben und Tod knüpften; daß sie ihrem eignen Willen entsagten und Gesetze über sie herrschen lassen wollten, also den immer unvollkommenen Versuch einer Regierung durch Menschen über Menschen feststellten und ihn mit eignem Blut und Leben schützten; daß edle Männer für ihr Vaterland sich hingaben und nicht nur in einem stürmischen Augenblick ihr Leben, sondern, was weit edler ist, die ganze Mühe ihres Lebens durch lange Nächte und Tage, durch Lebensjahre und Lebensalter unverdrossen für nichts hielten, um einer blinden undankbaren Menge, wenigstens nach ihrer Meinung, Wohlsein und Ruhe zu schenken; daß endlich gotterfüllte Weise aus edlem Durst für die Wahrheit, Freiheit und Glückseligkeit unsers Geschlechts Schmach und Verfolgung, Armut und Not willig übernahmen und an dem Gedanken festhielten, daß sie ihren Brüdern das edelste Gut, dessen sie fähig wären, verschafft oder befördert hätten: wenn dieses alles nicht große Menschentugenden und die kraftvollesten Bestrebungen der Selbstbestimmung sind, die in uns lieget, so kenne ich keine andere. Zwar waren nur immer wenige, die hierin dem großen Haufen vorgingen und ihm als Ärzte heilsam aufzwangen, was dieser noch nicht selbst zu erwählen wußte; eben diese wenigen aber waren die Blüte des Menschengeschlechts, unsterbliche freie Göttersöhne auf Erden. Ihre einzelnen Namen gelten statt Millionen.