3. Die dichtende Subjektivität
Von dem künstlerischen Talent und Genius, von der Begeisterung und Originalität usf. habe ich schon im ersten Teile weitläufiger gesprochen und will deshalb hier in bezug auf Poesie nur noch einiges andeuten, was, der subjektiven Tätigkeit im Kreise der bildenden Künste und Musik gegenüber, von Wichtigkeit ist.
a) Der Architekt, Bildhauer, Maler, Musiker ist auf ein ganz konkretes, sinnliches Material angewiesen, in welches er seinen Inhalt vollständig hineinarbeiten soll. Die Beschränktheit dieses Materials nun bedingt die bestimmte Form für die ganze Konzeptionsweise und künstlerische Behandlung. Je spezifischer deshalb die Bestimmtheit ist, zu welcher der Künstler sich konzentrieren muß, desto spezieller wird auch das gerade zu dieser und keiner anderen Darstellungsart erforderliche Talent und die hiermit parallellaufende Geschicklichkeit des technischen Aus-führens. Das Talent zur Dichtkunst, insofern dieselbe sich der gänzlichen Verkörperung ihrer Gebilde in einem besonderen Material enthebt, ist solchen bestimmten Bedingungen weniger unterworfen und dadurch allgemeiner und unabhängiger. Es bedarf nur der Gabe phantasiereicher Gestaltung überhaupt und ist nur dadurch begrenzt, daß die Poesie, da sie in Worten sich äußert, weder auf der einen Seite die sinnliche Vollständigkeit darf erreichen wollen, in welcher der bildende Künstler seinen Inhalt als äußere Gestalt zu fassen hat, noch auf der anderen Seite bei der wortlosen Innigkeit stehenbleiben kann, deren Seelentöne das Bereich der Musik ausmachen. In dieser Rücksicht läßt sich die Aufgabe des Dichters, im Vergleich zu den übrigen Künstlern, als leichter und als schwerer ansehen. Als leichter, weil der Dichter, ob-schon die poetische Behandlung der Sprache einer ausgebildeten Geschicklichkeit bedarf, doch der relativ vielfacheren Besiegung technischer Schwierigkeiten überhoben ist; als schwerer, weil die Poesie, je weniger sie es zu einer äußeren Verkörperung zu bringen vermag, um desto mehr den Ersatz für diesen sinnlichen Mangel in dem inneren eigentlichen Kern der Kunst, in der Tiefe der Phantasie und der echt künstlerischen Auffassung als solcher zu suchen hat.
b) Dadurch wird der Dichter zweitens befähigt, in alle Tiefen des geistigen Gehalts einzudringen und, was in ihnen verborgen liegt, an das Licht des Bewußtseins hervorzuführen. Denn wie sehr in anderen Künsten auch das Innere aus seiner leiblichen Form herausscheinen muß und wirklich herausscheint, so ist doch das Wort das verständlichste und dem Geiste gemäßeste Mitteilungsmittel, das alles zu fassen und kundzugeben vermag, was sich irgend durch die Höhen und Tiefen des Bewußtseins hindurchbewegt und innerlich präsent wird. Hierdurch sieht sich der Dichter jedoch in Schwierigkeiten verwickelt, und es werden ihm Aufgaben gestellt, welche zu überwinden und denen zu genügen die übrigen Künste in geringerem Grade genötigt sind. Indem sich nämlich die Poesie rein im Bereiche des innerlichen Vorstellens aufhält und nicht darauf bedacht sein darf, ihren Gebilden eine von dieser Innerlichkeit unabhängige äußerliche Existenz zu verschaffen, so bleibt sie dadurch in einem Elemente, in welchem auch das religiöse, wissenschaftliche und sonstige prosaische Bewußtsein tätig sind, und muß sich deshalb hüten, an jene Gebiete und deren Auffassungsweise heranzustreifen oder sich mit ihnen zu vermischen. Das ähnliche Beisammensein findet zwar in Rücksicht auf jede Kunst statt, da alle künstlerische Produktion aus dem einen Geiste hervorgeht, der alle Sphären des selbstbewußten Lebens in sich faßt; in den übrigen Künsten aber unterscheidet sich die ganze Art der Konzeption, weil sie bei ihrem inneren Schaffen schon in steter Beziehung auf die Ausführung ihrer Gebilde in einem bestimmten sinnlichen Material bleibt, von Hause aus sowohl von den Formen der religiösen Vorstellung als auch des wissenschaftlichen Denkens und des prosaischen Verstandes. Die Poesie dagegen bedient sich auch in betreff auf äußere Mitteilung desselben Mittels als diese übrigen Gebiete, der Sprache nämlich, mit der sie sich deshalb nicht, wie die bildenden Künste und die Musik, auf einem anderen Boden des Vorstellens und der Äußerung befindet.
c) Drittens endlich darf von dem Dichter, weil die Poesie am tiefsten die ganze Fülle des geistigen Gehalts auszuschöpfen imstande ist, auch die tiefste und reichhaltigste innere Durchlebung des Stoffes gefordert werden, den er zur Darstellung bringt. Der bildende Künstler hat sich gleichsam auf die Durchlebung des geistigen Ausdrucks in der Außengestalt der architektonischen, plastischen und malerischen Formen vornehmlich hinzuwenden, der Musiker auf die innere Seele der konzentrierten Empfindung und Leidenschaft und deren Erguß in Melodien, obschon die einen wie die anderen gleichfalls von dem innersten Sinn und der Substanz ihres Inhalts erfüllt sein müssen. Der Kreis dessen, was der Dichter in sich durchzumachen hat, reicht weiter, weil er sich nicht nur eine innere Welt des Gemüts und der selbstbewußten Vorstellung auszubilden, sondern für dies Innere sich auch eine entsprechende äußere Erscheinung zu finden hat, durch welche jene ideelle Totalität in erschöpfenderer Vollständigkeit als in den übrigen Kunstgestaltungen hindurchblickt. Nach innen und außen muß er das menschliche Dasein kennen und die Breite der Welt und ihrer Erscheinungen in sein Inneres hineingenommen und dort durchfühlt, durchdrungen, vertieft und verklärt haben. - Um nun aus seiner Subjektivität heraus, selbst bei der Beschränkung auf einen ganz engen und besonderen Kreis, ein freies Ganzes, das nicht von außen her determiniert erscheint, schaffen zu können, muß er sich aus der praktischen oder sonstigen Befangenheit in solchem Stoffe losgerungen haben und mit freiem, das innere und äußere Dasein überschauendem Blicke darüberstehen. Von selten des Naturells können wir in dieser Beziehung besonders die morgenländischen, mohammedanischen Dichter rühmen. Sie treten von Hause aus in diese Freiheit ein, welche in der Leidenschaft selbst von der Leidenschaft unabhängig bleibt und in aller Mannigfaltigkeit der Interessen als eigentlichen Kern doch nur immer die eine Substanz festhält, gegen welche dann das übrige klein und vergänglich erscheint und der Leidenschaft und Begierde nichts Letztes bleibt. Dies ist eine theoretische Weltanschauung, ein Verhältnis des Geistes zu den Dingen dieser Welt, das dem Alter näherliegt als der Jugend. Denn im Alter sind zwar die Lebensinteressen noch vorhanden, aber nicht in der drängenden Jugendgewalt der Leidenschaft, sondern mehr in der Form von Schatten, so daß sie sich leichter den theoretischen Bezügen gemäß ausbilden, welche die Kunst verlangt. Gegen die gewöhnliche Meinung, daß die Jugend in ihrer Wärme und Glut das schönste Alter für die dichterische Produktion sei, läßt sich deshalb nach dieser Seite hin gerade das Entgegengesetzte behaupten und das Greisenalter, wenn es sich nur die Energie der Anschauung und Empfindung noch zu bewahren weiß, als die reifste Epoche hinstellen. Erst dem blinden Greise Homer werden die wunderbaren Gedichte zugeschrieben, die unter seinem Namen auf uns gekommen sind, und auch von Goethe kann man sagen, daß er im Alter erst, nachdem es ihm gelungen war, sich von allen beschränkenden Partikularitäten frei zu machen, das Höchste geleistet hat.