§ 6. Arten der legitimen Ordnung: Konvention und Recht


Die Legitimität einer Ordnung kann garantiert sein:

I. rein innerlich und zwar

1. rein affektuell: durch gefühlsmäßige Hingabe;

2. wertrational: durch Glauben an ihre absolute Geltung als Ausdruck letzter verpflichtender Werte (sittlicher, ästhetischer oder irgendwelcher anderer);

3. religiös: durch den Glauben an die Abhängigkeit eines Heilsgüterbesitzes von ihrer Innehaltung;

II. auch (oder: nur) durch Erwartungen spezifischer äußerer Folgen, also: durch Interessenlage; aber: durch Erwartungen von besonderer Art.

Eine Ordnung soll heißen:

a) Konvention, wenn ihre Geltung äußerlich garantiert ist durch die Chance, bei Abweichung innerhalb eines angebbaren Menschenkreises auf eine (relativ) allgemeine und praktisch fühlbare Mißbilligung zu stoßen;

b) Recht, wenn sie äußerlich garantiert ist durch die Chance physischen oder psychischen Zwanges durch eine auf Erzwingung der Innehaltung oder auf Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen.

1. Konvention9) soll die innerhalb eines Menschenkreises als »geltend« gebilligte und durch Mißbilligung gegen Abweichungen garantierte »Sitte« heißen. Im Gegensatz zum Recht (im hier gebrauchten Sinn des Worts) fehlt der speziell auf die Erzwingung eingestellte Menschenstab. Wenn Stammler die Konvention vom Recht durch die absolute »Freiwilligkeit« der Unterwerfung scheiden will, so ist das nicht im Einklang mit dem üblichen Sprachgebrauch und auch für seine eigenen Beispiele nicht zutreffend. Die Befolgung der »Konvention« (im üblichen Wortsinn) – etwa: des üblichen Grüßens, der als anständig geltenden Bekleidung, der Schranken des Verkehrs nach Form und Inhalt – wird dem Einzelnen als verbindlich oder vorbildlich durchaus ernstlich »zugemutet« und durchaus nicht – wie etwa die bloße »Sitte«, seine Speisen in bestimmter Art zu bereiten, – freigestellt. Ein Verstoß gegen die Konvention (»Standessitte«) wird oft durch die höchst wirksame und empfindliche Folge des sozialen Boykotts der Standesgenossen stärker geahndet, als irgendein Rechtszwang dies vermöchte. Was fehlt, ist lediglich der besondere, auf ein spezifisches, die Innehaltung garantierendes Handeln eingestellte Stab von Menschen (bei uns: Richter, Staatsanwälte, Verwaltungsbeamte, Exekutoren usw.). Aber der Übergang ist flüssig. Der Grenzfall der konventionellen Garantie einer Ordnung im Übergang zur Rechtsgarantie ist die Anwendung des förmlichen, angedrohten und organisierten Boykotts. Dieser wäre für unsre Terminologie bereits ein Rechtszwangsmittel. Daß die Konvention außer durch die bloße Mißbilligung auch durch andre Mittel (etwa: Gebrauch des Hausrechts bei konventionswidrigem Verhalten) geschützt wird, interessiert hier nicht. Denn entscheidend ist: daß eben dann der Einzelne, und zwar infolge der konventionellen Mißbilligung, diese (oft drastischen) Zwangsmittel anwendet, nicht: ein Stab von Menschen eigens dafür bereit steht.

2. Uns soll für den Begriff »Recht« (der für andre Zwecke ganz anders abgegrenzt werden mag) die Existenz eines Erzwingungs- Stabes entscheidend sein. Dieser braucht natürlich in keiner Art dem zu gleichen, was wir heute gewohnt sind. Insbesondere ist es nicht nötig, daß eine »richterliche« Instanz vorhanden sei. Auch die Sippe (bei der Blutrache und Fehde) ist ein solcher Stab, wenn für die Art ihres Reagierens Ordnungen irgendwelcher Art tatsächlich gelten. Allerdings steht dieser Fall auf der äußersten Grenze dessen, was gerade noch als »Rechtszwang« anzusprechen ist. Dem »Völkerrecht« ist bekanntlich die Qualität als »Recht« immer wieder bestritten worden, weil es an einer überstaatlichen Zwangsgewalt fehle.

Für die hier (als zweckmäßig) gewählte Terminologie würde in der Tat eine Ordnung, die äußerlich lediglich durch Erwartungen der Mißbilligung und der Repressalien des Geschädigten, also konventionell und durch Interessenlage, garantiert ist, ohne daß ein Stab von Menschen existiert, dessen Handeln eigens auf ihre Innehaltung eingestellt ist, nicht als »Recht« zu bezeichnen sein. Für die juristische Terminologie kann dennoch sehr wohl das Gegenteil gelten. Die Mittel des Zwangs sind irrelevant. Auch die »brüderliche Vermahnung«, welche in manchen Sekten als erstes Mittel sanften Zwangs gegen Sünder üblich war, gehört – wenn durch eine Regel geordnet und durch einen Menschenstab durchgeführt – dahin. Ebenso z.B. die zensorische Rüge als Mittel, »sittliche« Normen des Verhaltens zu garantieren. Erst recht also der psychische Zwang durch die eigentlichen kirchlichen Zuchtmittel. Es gibt also natürlich ganz ebenso ein hierokratisch wie ein politisch oder ein durch Vereinsstatuten oder durch Hausautorität oder durch Genossenschaften und Einungen garantiertes »Recht«. Auch die Regeln eines »Komments« gelten dieser Begriffsbestimmung als »Recht«. Der Fall des § 888 Abs. 2 RZPO. (unvollstreckbare Rechte) gehört selbstverständlich dahin. Die »leges imperfectae« und die »Naturalobligationen« sind Formen der Rechtssprache, in welchen indirekt Schranken oder Bedingungen der Zwangsanwendung ausgedrückt werden. Eine zwangsmäßig oktroyierte »Verkehrssitte« ist insoweit Recht (§§ 157, 242 DBGB.)10.

3. Nicht jede geltende Ordnung hat notwendig generellen und abstrakten Charakter. Geltender »Rechtssatz« und »Rechtsentscheidung« eines konkreten Falles z.B. waren keineswegs unter allen Umständen so voneinander geschieden, wie wir dies heute als normal ansehen. Eine »Ordnung« kann also auch als Ordnung lediglich eines konkreten Sachverhalts auftreten. Alles Nähere gehört in die Rechtssoziologie. Wir werden vorerst, wo nichts andres gesagt ist, zweckmäßigerweise mit der modernen Vorstellungsweise über die Beziehung von Rechtssatz und Rechtsentscheidung arbeiten.

4. »Äußerlich« garantierte Ordnungen können außerdem auch noch »innerlich« garantiert sein. Die Beziehung zwischen Recht, Konvention und »Ethik« ist für die Soziologie kein Problem. Ein »ethischer« Maßstab ist für sie ein solcher, der eine spezifische Art von wertrationalem Glauben von Menschen als Norm an menschliches Handeln legt, welches das Prädikat des »sittlich Guten« in Anspruch nimmt, ebenso wie Handeln, welches das Prädikat »schön« in Anspruch nimmt, dadurch an ästhetischen Maßstäben sich mißt. Ethische Normvorstellungen in diesem Sinn können das Handeln sehr tiefgehend beeinflussen und doch jeder äußeren Garantie entbehren. Letzteres pflegt dann der Fall zu sein, wenn durch ihre Verletzung fremde Interessen wenig berührt werden. Sie sind andrerseits sehr oft religiös garantiert. Sie können aber auch (im Sinn der hier gebrauchten Terminologie) konventionell: durch Mißbilligung der Verletzung und Boykott, oder auch noch rechtlich, durch strafrechtliche oder polizeiliche Reaktion oder zivilrechtliche Konsequenzen, garantiert sein. Jede tatsächlich – im Sinn der Soziologie – »geltende« Ethik pflegt weitgehend durch die Chance der Mißbilligung ihrer Verletzung, also: konventionell, garantiert zu sein. Andrerseits beanspruchen aber nicht (mindestens: nicht notwendig) alle konventionell oder rechtlich garantierten Ordnungen den Charakter ethischer Normen, die rechtlichen – oft rein zweckrational gesatzten – im Ganzen noch weit weniger als die konventionellen. Ob eine unter Menschen verbreitete Geltungsvorstellung als dem Bereich der »Ethik« angehörig anzusehen ist oder nicht ([dann] also »bloße« Konvention oder »bloße« Rechtsnorm ist), kann für die empirische Soziologie nicht anders als nach demjenigen Begriff des »Ethischen« entschieden werden, der in dem in Frage stehenden Menschenkreis tatsächlich galt oder gilt. Allgemeines läßt sich darüber deshalb für sie nicht aussagen.


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