§ 3. Die soziale Beziehung


Soziale »Beziehung« soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen. Die soziale Beziehung besteht also durchaus und ganz ausschließlich: in der Chance, daß in einer (sinnhaft) angebbaren Art sozial gehandelt wird, einerlei zunächst: worauf diese Chance beruht.

1. Ein Mindestmaß von Beziehung des beiderseitigen Handelns aufeinander soll also Begriffsmerkmal sein. Der Inhalt kann der allerverschiedenste sein: Kampf, Feindschaft, Geschlechtsliebe, Freundschaft, Pietät, Marktaustausch, »Erfüllung« oder »Umgehung« oder »Bruch« einer Vereinbarung, ökonomische oder erotische oder andre »Konkurrenz«, ständische oder nationale oder Klassengemeinschaft (falls diese letzteren Tatbestände über bloße Gemeinsamkeiten hinaus »soziales Handeln« erzeugen, – wovon später). Der Begriff besagt also nichts darüber: ob »Solidarität« der Handelnden besteht oder das gerade Gegenteil.

2. Stets handelt es sich um den im Einzelfall wirklich oder durchschnittlich oder im konstruierten »reinen« Typus von den Beteiligten gemeinten, empirischen, Sinngehalt, niemals um einen normativ »richtigen« oder metaphysisch »wahren« Sinn. Die soziale Beziehung besteht, auch wenn es sich um sogenannte »soziale Gebilde«, wie »Staat«, »Kirche«, »Genossenschaft«, »Ehe« usw. handelt, ausschließlich und lediglich in der Chance, daß ein seinem Sinngehalt nach in angebbarer Art aufeinander eingestelltes Handeln stattfand, stattfindet oder stattfinden wird. Dies ist immer festzuhalten, um eine »substanzielle« Auffassung dieser Begriffe zu vermeiden. Ein »Staat« hört z.B. soziologisch zu »existieren« dann auf, sobald die Chance, daß bestimmte Arten von sinnhaft orientiertem sozialem Handeln ablaufen, geschwunden ist. Diese Chance kann eine sehr große oder eine verschwindend geringe sein. In dem Sinn und Maße, als sie tatsächlich (schätzungsweise) bestand oder besteht, bestand oder besteht auch die betreffende soziale Beziehung. Ein anderer klarer Sinn ist mit der Aussage: daß z.B. ein bestimmter »Staat« noch oder nicht mehr »existiere«, schlechthin nicht zu verbinden.

3. Es ist in keiner Art gesagt: daß die an dem aufeinander eingestellten Handeln Beteiligten im Einzelfall den gleichen Sinngehalt in die soziale Beziehung legen oder sich sinnhaft entsprechend der Einstellung des Gegenpartners innerlich zu ihm einstellen, daß also in diesem Sinn »Gegenseitigkeit« besteht. »Freundschaft«, »Liebe«, »Pietät«, »Vertragstreue«, »nationales Gemeinschaftsgefühl« von der einen Seite kann auf durchaus andersartige Einstellung der anderen Seite stoßen. Dann verbinden eben die Beteiligten mit ihrem Handeln einen verschiedenen Sinn: die soziale Beziehung ist insoweit von beiden Seiten objektiv »einseitig«. Aufeinander bezogen ist sie aber auch dann insofern, als der Handelnde vom Partner (vielleicht ganz oder teilweise irrigerweise) eine bestimmte Einstellung dieses letzteren ihm (dem Handelnden) gegenüber voraussetzt und an diesen Erwartungen sein eigenes Handeln orientiert, was für den Ablauf des Handelns und die Gestaltung der Beziehung, Konsequenzen haben kann und meist [haben] wird. Objektiv »beiderseitig« ist sie natürlich nur insoweit, als der Sinngehalt einander – nach den durchschnittlichen Erwartungen jedes der Beteiligten – »entspricht«, also z.B. der Vatereinstellung die Kindeseinstellung wenigstens annähernd so gegenübersteht, wie der Vater es (im Einzelfall oder durchschnittlich oder typisch) erwartet. Eine völlig und restlos auf gegenseitiger sinnentsprechender Einstellung ruhende soziale Beziehung ist in der Realität nur ein Grenzfall. Fehlen der Beiderseitigkeit aber soll, nach unserer Terminologie, die Existenz einer »sozialen Beziehung« nur dann ausschließen, wenn sie die Folge hat: daß ein Aufeinanderbezogensein des beiderseitigen Handelns tatsächlich fehlt. Alle Arten von Übergängen sind hier wie sonst in der Realität die Regel.

4. Eine soziale Beziehung kann ganz vorübergehenden Charakters sein oder aber auf Dauer, d.h. derart eingestellt sein: daß die Chance einer kontinuierlichen Wiederkehr eines sinnentsprechenden (d.h. dafür geltenden und demgemäß erwarteten) Verhaltens besteht. Nur das Vorliegen dieser Chance: – der mehr oder minder großen Wahrscheinlichkeit also, daß ein sinnentsprechendes Handeln stattfindet, und nichts darüber hinaus – bedeutet der »Bestand« der sozialen Beziehung, was zur Vermeidung falscher Vorstellungen stets gegenwärtig zu halten ist. Daß eine »Freundschaft« oder daß ein »Staat« besteht oder bestand, bedeutet also ausschließlich und allein: wir (die Betrachtenden) urteilen, daß eine Chance vorliegt oder vorlag: daß auf Grund einer bestimmt gearteten Einstellung bestimmter Menschen in einer einem durchschnittlich gemeinten Sinn nach angebbaren Art gehandelt wird, und sonst gar nichts (vgl. Nr. 2 a. E.). Die für die juristische Betrachtung unvermeidliche Alternative: daß ein Rechtssatz bestimmten Sinnes entweder (im Rechtssinn) gelte oder nicht, ein Rechtsverhältnis entweder bestehe oder nicht, gilt für die soziologische Betrachtung also nicht.

5. Der Sinngehalt einer sozialen Beziehung kann wechseln: – z.B. eine politische Beziehung aus Solidarität in Interessenkollision umschlagen. Es ist dann nur eine Frage der terminologischen Zweckmäßigkeit und des Maßes von Kontinuität [in] der Wandlung, ob man in solchen Fällen sagt: daß eine »neue« Beziehung gestiftet sei, oder: daß die fortbestehende alte einen neuen »Sinngehalt« erhalten habe. Auch kann der Sinngehalt zum Teil perennierend, zum Teil wandelbar sein.

6. Der Sinngehalt, welcher eine soziale Beziehung perennierend konstituiert, kann in »Maximen« formulierbar sein, deren durchschnittliche oder sinnhaft annähernde Innehaltung die Beteiligten von dem oder den Partnern erwarten und an denen sie ihrerseits (durchschnittlich und annähernd) ihr Handeln orientieren. Je rationaler – zweckrationaler oder wertrationaler – orientiert das betreffende Handeln seinem allgemeinen Charakter nach ist, desto mehr ist dies der Fall. Bei einer erotischen oder überhaupt affektuellen (z.B. einer »Pietäts«-) Beziehung ist die Möglichkeit einer rationalen Formulierung des gemeinten Sinngehalts z.B. naturgemäß weit geringer als etwa bei einem geschäftlichen Kontraktverhältnis.

7. Der Sinngehalt einer sozialen Beziehung kann durch gegenseitige Zusage vereinbart sein. Dies bedeutet: daß die daran Beteiligten für ihr künftiges Verhalten (sei es zueinander, sei es sonst) Versprechungen machen. Jeder daran Beteiligte zählt dann – soweit er rational erwägt – zunächst (mit verschiedener Sicherheit) normalerweise darauf, daß der andre sein Handeln an einem von ihm (dem Handelnden) selbst verstandenen Sinn der Vereinbarung orientieren werde. Er orientiert sein eignes Handeln teils zweckrational (je nachdem mehr oder minder sinnhaft »loyal«) an dieser Erwartung, teils wertrational an der »Pflicht«, auch seinerseits die eingegangene Vereinbarung dem von ihm gemeinten Sinn gemäß zu »halten«. Soviel hier vorweg5).


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