9. Handeln

 

9. Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eignen Verhaltens gibt es für uns stets nur als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen.

Für andre Erkenntniszwecke mag es nützlich oder nötig sein, das Einzelindividuum z.B. als eine Vergesellschaftung von »Zellen« oder einen Komplex biochemischer Reaktionen, oder sein »psychisches« Leben als durch (gleichviel wie qualifizierte) Einzelelemente konstituiert aufzufassen. Dadurch werden zweifellos wertvolle Erkenntnisse (Kausalregeln) gewonnen. Allein wir verstehen dies in Regeln ausgedrückte Verhalten dieser Elemente nicht. Auch nicht bei psychischen Elementen, und zwar: je naturwissenschaftlich exakter sie gefaßt werden, desto weniger: zu seiner Deutung aus einem gemeinten Sinn ist gerade dies niemals der Weg. Für die Soziologie (im hier gebrauchten Wortsinn, ebenso wie für die Geschichte) ist aber gerade der Sinnzusammenhang des Handelns Objekt der Erfassung. Das Verhalten der physiologischen Einheiten, etwa: der Zellen oder irgendwelcher psychischer Elemente, können wir (dem Prinzip nach wenigstens) zu beobachten oder aus Beobachtungen zu erschließen suchen, Regeln (»Gesetze«) dafür gewinnen und Einzelvorgänge mit deren Hilfe kausal »erklären«, d.h.: unter Regeln bringen. Die Deutung des Handelns nimmt jedoch von diesen Tatsachen und Regeln nur soweit und nur in dem Sinn Notiz, wie von irgendwelchen anderen (z.B. von physikalischen, astronomischen, geologischen, meteorologischen, geographischen, botanischen, zoologischen, physiologischen, anatomischen, von sinnfremden psychopathologischen oder von den naturwissenschaftlichen Bedingungen von technischen) Tatbeständen.

Für wiederum andere (z.B. juristische) Erkenntniszwecke oder für praktische Ziele kann es andererseits zweckmäßig und geradezu unvermeidlich sein: soziale Gebilde (»Staat«, »Genossenschaft«, »Aktiengesellschaft«, »Stiftung«) genau so zu behandeln, wie Einzelindividuen (z.B. als Träger von Rechten und Pflichten oder als Täter rechtlich relevanter Handlungen). Für die verstehende Deutung des Handelns durch die Soziologie sind dagegen diese Gebilde lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen, da diese allein für uns verständliche Träger von sinnhaft orientiertem Handeln sind. Trotzdem kann die Soziologie auch für ihre Zwecke jene kollektiven Gedankengebilde anderer Betrachtungsweisen nicht etwa ignorieren. Denn die Deutung des Handelns hat zu jenen Kollektivbegriffen folgende drei Beziehungen: a) Sie selbst ist oft genötigt, mit ganz ähnlichen (oft mit ganz gleichartig bezeichneten) Kollektivbegriffen zu arbeiten, um überhaupt eine verständliche Terminologie zu gewinnen. Die Juristen- sowohl wie die Alltagssprache bezeichnet z.B. als »Staat« sowohl den Rechtsbegriff wie jenen Tatbestand sozialen Handelns, für welchen die Rechtsregeln gelten wollen. Für die Soziologie besteht der Tatbestand »Staat« nicht notwendig nur oder gerade aus den rechtlich relevanten Bestandteilen. Und jedenfalls gibt es für sie keine »handelnde« Kollektivpersönlichkeit. Wenn sie von »Staat« oder von »Nation« oder von »Aktiengesellschaft« oder von »Familie« oder von »Armeekorps« oder von ähnlichen »Gebilden« spricht, so meint sie damit vielmehr lediglich einen bestimmt gearteten Ablauf tatsächlichen, oder als möglich konstruierten sozialen Handelns Einzelner, schiebt also dem juristischen Begriff, den sie um seiner Präzision und Eingelebtheit willen verwendet, einen gänzlich anderen Sinn unter. – b) Die Deutung des Handelns muß von der grundlegend wichtigen Tatsache Notiz nehmen: daß jene dem Alltagsdenken oder dem juristischen (oder anderem Fach-)Denken angehörigen Kollektivgebilde Vorstellungen von etwas teils Seiendem, teils Geltensollendem in den Köpfen realer Menschen (der Richter und Beamten nicht nur, sondern auch des »Publikums«) sind, an denen sich deren Handeln orientiert und daß sie als solche eine ganz gewaltige, oft geradezu beherrschende, kausale Bedeutung für die Art des Ablaufs des Handelns der realen Menschen haben. Vor allem als Vorstellungen von etwas Gelten- (oder auch: Nicht-Gelten-) Sollendem. (Ein moderner »Staat« besteht zum nicht unerheblichen Teil deshalb in dieser Art: – als Komplex eines spezifischen Zusammenhandelns von Menschen, – weil bestimmte Menschen ihr Handeln an der Vorstellung orientieren, daß er bestehe oder so bestehen solle: daß also Ordnungen von jener juristisch-orientierten Art gelten. Darüber später.) Während für die eigene Terminologie der Soziologie (litt. a) es möglich, wennschon äußerst pedantisch und weitläufig, wäre: diese von der üblichen Sprache nun einmal nicht nur für das juristische Geltensollen, sondern auch für das reale Geschehen gebrauchten Begriffe ganz zu eliminieren und durch ganz neu gebildete Worte zu ersetzen, so wäre, wenigstens für diesen wichtigen Sachverhalt, natürlich selbst dies ausgeschlossen. – c) Die Methode der sogenannten »organischen« Soziologie (klassischer Typus: Schäffles geistvolles Buch: Bau und Leben des sozialen Körpers) sucht das gesellschaftliche Zusammenhandeln durch Ausgehen vom »Ganzen« (z.B. einer »Volkswirtschaft«) zu erklären, innerhalb dessen dann der Einzelne und sein Verhalten ähnlich gedeutet wird, wie etwa die Physiologie die Stellung eines körperlichen »Organs« im »Haushalt« des Organismus (d.h. vom Standpunkt von dessen »Erhaltung« aus) behandelt. (Vgl. das berühmte Kolleg- Diktum eines Physiologen: »§ x: Die Milz. Von der Milz wissen wir nichts, meine Herren. Soweit die Milz!« Tatsächlich »wußte« natürlich der Betreffende von der Milz ziemlich viel: Lage, Größe, Form usw. – nur die »Funktion« konnte er nicht angeben, und dies Unvermögen nannte er »Nichtswissen«). Inwieweit bei anderen Disziplinen diese Art der funktionalen Betrachtung der »Teile« eines »Ganzen« (notgedrungen) definitiv sein muß, bleibe hier unerörtert: es ist bekannt, daß die biochemische und biomechanische Betrachtung sich grundsätzlich nicht damit begnügen möchte. Für eine deutende Soziologie kann eine solche Ausdrucksweise: 1. praktischen Veranschaulichungs- und provisorischen Orientierungszwecken dienen (und in dieser Funktion höchst nützlich und nötig – aber freilich auch, bei Überschätzung ihres Erkenntniswerts und falschem Begriffsrealismus: höchst nachteilig – sein). Und 2.: Sie allein kann uns unter Umständen dasjenige soziale Handeln herausfinden helfen, dessen deutendes Verstehen für die Erklärung eines Zusammenhangs wichtig ist. Aber an diesem Punkt beginnt erst die Arbeit der Soziologie (im hier verstandenen Wortsinn). Wir sind ja bei »sozialen Gebilden« (im Gegensatz zu »Organismen«) in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionellen Zusammenhängen und Regeln (»Gesetzen«) hinaus etwas aller »Naturwissenschaft« (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln für Geschehnisse und Gebilde und der »Erklärung« der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das »Verstehen« des Verhaltens der beteiligten Einzelnen, während wir das Verhalten z.B. von Zellen nicht »verstehen«, sondern nur funktionell erfassen und dann nach Regeln seines Ablaufs feststellen können. Diese Mehrleistung der deutenden gegenüber der beobachtenden Erklärung ist freilich durch den wesentlich hypothetischeren und fragmetarischeren Charakter der durch Deutung zu gewinnenden Ergebnisse erkauft. Aber dennoch: sie ist gerade das dem soziologischen Erkennen Spezifische.

 


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