9. Handeln
Inwieweit auch das Verhalten von Tieren uns sinnhaft »verständlich« ist und umgekehrt: – beides in höchst unsicherrn Sinn und problematischem Umfang –, und inwieweit also theoretisch es auch eine Soziologie der Beziehungen des Menschen zu Tieren (Haustieren, Jagdtieren) geben könne (viele Tiere »verstehen« Befehl, Zorn, Liebe, Angriffsabsicht und reagieren darauf offenbar vielfach nicht ausschließlich mechanisch-instinktiv, sondern irgendwie auch bewußt sinnhaft und erfahrungsorientiert), bleibt hier völlig unerörtert. An sich ist das Maß unsrer Einfühlbarkeit bei dem Verhalten von »Naturmenschen« nicht wesentlich größer. Wir haben aber sichere Mittel, den subjektiven Sachverhalt beim Tier festzustellen, teils gar nicht, teils in nur sehr unzulänglicher Art: die Probleme der Tierpsychologie sind bekanntlich ebenso interessant wie dornenvoll. Es bestehen insbesondere bekanntlich Tiervergesellschaftungen der verschiedensten Art: monogame und polygame »Familien«, Herden, Rudel, endlich funktionsteilige »Staaten«. (Das Maß der Funktionsdifferenzierung dieser Tiervergesellschaftungen geht keineswegs parallel mit dem Maß der Organ- oder der morphologischen Entwicklungs-Differenzierung der betreffenden Tiergattung. So ist die Funktionsdifferenzierung bei den Termiten und sind infolgedessen deren Artefakte weit differenzierter als bei den Ameisen und Bienen). Hier ist selbstverständlich die rein funktionale Betrachtung: die Ermittlung der für die Erhaltung, d.h. die Ernährung, Verteidigung, Fortpflanzung, Neubildung der betreffenden Tiergesellschaften entscheidenden Funktionen der einzelnen Typen von Individuen (»Könige«, »Königinnen«, »Arbeiter«, »Soldaten«, »Drohnen«, »Geschlechtstiere«, »Ersatz-Königinnen« usw.) sehr oft mindestens für jetzt das Definitive, mit dessen Feststellung sich die Forschung begnügen muß. Was darüber hinausging, waren lange Zeit lediglich Spekulationen oder Untersuchungen über das Maß, in welchem Erbgut einerseits, Umwelt andererseits an der Entfaltung dieser »sozialen« Anlagen beteiligt sein könnten. (So namentlich die Kontroversen zwischen Weismann – dessen »Allmacht der Naturzüchtung« in ihrem Unterbau stark mit ganz außerempirischen Deduktionen arbeitete – und Götte.)
Darüber aber, daß es sich bei jener Beschränkung auf die funktionale Erkenntnis eben um ein notgedrungenes und, wie gehofft wird, nur provisorisches Sichbegnügen handelt, ist sich die ernste Forschung natürlich völlig einig. (S. z.B. für den Stand der Termiten- Forschung die Schrift von Escherich, 1909.) Man möchte eben nicht nur die ziemlich leicht erfaßbare »Erhaltungswichtigkeit« der Funktionen jener einzelnen differenzierten Typen einsehen und die Art, wie, ohne Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften oder umgekehrt im Falle dieser Annahme (und dann: bei welcher Art von Deutung dieser Annahme), jene Differenzierung erklärlich ist, dargelegt erhalten, sondern auch wissen: 1. was denn den Ausschlag der Differenzierung aus dem noch neutralen, undifferenzierten, Anfangsindividuum entscheidet, – 2. was das differenzierte Individuum veranlaßt, sich (im Durchschnitt) so zu verhalten, wie dies tatsächlich dem Erhaltungsinteresse der differenzierten Gruppe dient. Wo immer die Arbeit in dieser Hinsicht fortschritt, geschah dies durch Nachweis (oder Vermutung) von chemischen Reizen oder physiologischen Tatbeständen (Ernährungsvorgänge, parasitäre Kastration usw.) bei den Einzelindividuen auf experimentellem Wege. Inwieweit die problematische Hoffnung besteht, experimentell auch die Existenz »psychologischer« und »sinnhafter« Orientierung wahrscheinlich zu machen, könnte heute wohl selbst der Fachmann kaum sagen. Ein kontrollierbares Bild der Psyche dieser sozialen Tierindividuen auf der Basis sinnhaften »Verstehens« erscheint selbst als ideales Ziel wohl nur in engen Grenzen erreichbar. Jedenfalls ist nicht von da aus das »Verständnis« menschlichen sozialen Handelns zu erwarten, sondern grade umgekehrt: mit menschlichen Analogien wird dort gearbeitet und muß gearbeitet werden. Erwartet darf vielleicht werden, daß diese Analogien uns einmal für die Fragestellung nützlich werden: wie in den Frühstadien der menschlichen sozialen Differenzierung der Bereich rein mechanischinstinktiver Differenzierung im Verhältnis zum individuell sinnhaft Verständlichen und weiter zum bewußt rational Geschaffenen einzuschätzen ist. Die verstehende Soziologie wird sich selbstverständlich klar sein müssen: daß für die Frühzeit auch der Menschen die erstere Komponente schlechthin überragend ist und auch für die weiteren Entwicklungsstadien sich ihrer steten Mitwirkung (und zwar: entscheidend wichtigen Mitwirkung) bewußt bleiben. Alles »traditionale« Handeln (§ 2) und breite Schichten des »Charisma«3) als des Keims psychischer »Ansteckung« und dadurch Trägers soziologischer »Entwicklungsreize« stehen solchen nur biologisch begreifbaren, nicht oder nur in Bruchstücken verständlich deutbaren und motivationsmäßig erklärbaren, Hergängen mit unmerklichen Übergängen sehr nahe. Das alles entbindet aber die verstehende Soziologie nicht von der Aufgabe: im Bewußtsein der engen Schranken, in die sie gebannt ist, zu leisten, was eben wieder nur sie leisten kann.
Die verschiedenen Arbeiten von Othmar Spann, oft reich an guten Gedanken neben freilich gelegentlichen Mißverständnissen und, vor allem, Argumentationen auf Grund nicht zur empirischen Untersuchung gehöriger reiner Werturteile, haben also unzweifelhaft recht mit der freilich von niemand ernstlich bestrittenen Betonung der Bedeutung der funktionalen Vorfragestellung (er nennt dies: »universalistische Methode«) für jede Soziologie. Wir müssen gewiß erst wissen: welches Handeln funktional, vom Standpunkt der »Erhaltung« (aber weiter und vor allem eben doch auch: der Kultureigenart!) und: einer bestimmt gerichteten Fortbildung eines sozialen Handelnstyps wichtig ist, um dann die Frage stellen zu können: wie kommt dies Handeln zustande? welche Motive bestimmen es? Man muß erst wissen: was ein »König«, »Beamter«, »Unternehmer«, »Zuhälter«, »Magier« leistet: – welches typische »Handeln« (das allein ja ihn zu einer dieser Kategorien stempelt) also für die Analyse wichtig ist und in Betracht kommt, ehe man an diese Analyse gehen kann (»Wertbezogenheit« im Sinn H. Rickerts). Aber erst diese Analyse leistet ihrerseits das, was das soziologische Verstehen des Handelns von typisch differenzierten einzelnen Menschen (und: nur bei den Menschen) leisten kann und also: soll. Das ungeheure Mißverständnis jedenfalls, als ob eine »individualistische« Methode eine (in irgendeinem möglichen Sinn) individualistische Wertung bedeute, ist ebenso auszuschalten, wie die Meinung: der unvermeidlich (relativ) rationalistische Charakter der Begriffsbildung bedeute den Glauben an das Vorwalten rationaler Motive oder gar: eine positive Wertung des »Rationalismus«. Auch eine sozialistische Wirtschaft müßte soziologisch genau so »individualistisch«, d.h.: aus dem Handeln der Einzelnen: – der Typen von »Funktionären«, die in ihr auftreten, – heraus deutend verstanden werden, wie etwa die Tauschvorgänge durch die Grenznutzlehre (oder eine zu findende »bessere«, aber in diesem Punkt ähnliche Methode). Denn stets beginnt auch dort die entscheidende empirisch-soziologische Arbeit erst mit der Frage: welche Motive bestimmten und bestimmen die einzelnen Funktionäre und Glieder dieser »Gemeinschaft«, sich so zu verhalten, daß sie entstand und fortbesteht? Alle funktionale (vom »Ganzen« ausgehende) Begriffsbildung leistet nur Vorarbeit dafür, deren Nutzen und Unentbehrlichkeit – wenn sie richtig geleistet wird – natürlich unbestreitbar ist.