Ein Beitrag zur Psychologie der ärztlichen Berufswahl
Ein Arzt erzählt folgendes:
»Anläßlich des schrecklichen Schiffsunglücks der »Titanic« konnte ich an mir die Ergriffenheit deutlich beobachten. In meinen freien Stunden fand ich mich oft im Gespräch über das Unglück, und vorwiegend war es die Frage, die von mir immer wieder aufgenommen wurde, ob man nicht doch ein Mittel hätte finden können, um die Untergehenden zu retten. Eines Nachts wache ich aus dem Schlaf auf. Als richtiger Psychologe lege ich mir die Frage vor: warum ich, der sonst ein guter Schläfer ist, diesmal aufgewacht sei? Ich fand aber keine befriedigende Antwort, fand mich vielmehr kurze Zeit darauf in emsigem Nachdenken, wie man die Untergehenden der Titanic hätte retten können. Bald nachher, — es war 3 Uhr — schlief ich ein.
In der nächsten Nacht wachte ich wieder auf. Ich sah auf die Uhr, es war ½3 Uhr. Flüchtig kamen mir Gedanken über die sonstigen Theorien der Schlaflosigkeit, unter anderem fiel mir auch die Meinung eines Autors ein, daß man, einmal an ein Aufwachen aus dem Schlaf gewöhnt, leicht wieder um die gleiche Zeit erwachen kann. Aber mit einem Male wußte ich intuitiv, wie es sich mit meinem Aufwachen verhielt. Um ½3 Uhr war die Titanic untergegangen. Ich hatte die Fahrt im Schlaf mitgemacht, hatte mich in die schreckliche Situation des Untergangs eingefühlt und war also schon zweimal des Nachts erwacht, als das Schiff unterging.
Auch in der zweiten Nacht nahmen meine Gedanken die Richtung, ein Mittel zu finden, wie man sich in einer solchen Situation retten könnte, sich und die anderen. Fast gleichzeitig erriet ich, daß hier der vorbeugende und vorbereitende Versuch einer Sicherung am Werke war, der in gleicher Weise der Vorsicht wie dem Ehrgeiz dienen sollte. Ich verstand auch ohne weiteres, daß die Amerikafahrt — ein altes Ziel meiner Sehnsucht — in sinnreicher Weise den Kampf um meine wissenschaftliche Repräsentation symbolisierte. Und wie im Wachen, so tat ich auch im Schlafe. Ich war auf der Suche nach einem Mittel zur Rettung, und ich stellte die sinnfälligste Situation her, um mich zur Gegenwehr zu rüsten und zu mobilisieren: Einfühlung in die stärkste Gefahr und Nachdenken!
Leicht war auch zu verstehen, daß diese Art, auf Gefahren meiner Person und mir Nahestehender zu reagieren, meine persönliche Attitüde sein mußte. Und bald fand ich den Zusammenhang.
Ich bin ja Arzt. Es gehört also zu meinen Obliegenheiten, gegen den Tod ein Mittel zu finden. Damit aber war ich schon auf mir bekanntem Boden. Der Kampf gegen den Tod gehörte nämlich zu den stärksten Antrieben meiner Berufswahl. Wie so viele von den Ärzten, bin auch ich Arzt geworden, um den Tod zu überwinden.
Aus meiner Jugendgeschichte erinnere ich mich an mehrere Ereignisse, in denen mir der Tod nahe schien. So hatte ich aus einer Rachitis außer einer Schwerbeweglichkeit jene gemilderte Form von Stimmritzenkrampf erworben, die ich später als Arzt oft bei Kindern antraf, wo Verschluß der Glottis beim Weinen eintritt, so daß ein Zustand von Atemnot und Stimmlosigkeit das Weinen unterbricht, bis sich nach Lösung des Krampfes das Weinen wieder fortsetzt. Der Zustand der dabei eintretenden Atemnot ist höchst unangenehm, wie ich aus meiner Erinnerung weiß; ich dürfte damals noch nicht zwei Jahre gewesen sein. Die übertriebene Furcht meiner Eltern und die Besorgnis des Hausarztes waren mir nicht entgangen und erfüllten mich, abgesehen von der Peinlichkeit der Atemnot, mit einem Gefühl, das ich heute als Gefühl der Unruhe und der Unsicherheit bezeichnen möchte. Ferner erinnere ich mich, daß ich eines Tages kurz nach einem solchen Keuchanfall Gedanken hatte, wie ich, da bisher kein Mittel gefruchtet hatte, dieses lästige Leiden beseitigen könnte. Auf welchem Wege ich dazu kam, ob die Anregung von außen kam oder ob ich allein die Idee ausheckte, kann ich nicht sagen: ich beschloß, das Weinen ganz einzustellen, und so oft ich die erste Regung zum Weinen verspürte, gab ich mir einen Ruck, hielt mit dem Weinen inne und das Keuchen verschwand. Ich hatte ein Mittel gegen das Leiden, vielleicht auch gegen die Todesfurcht gefunden.
Kurze Zeit später, ich war drei Jahre geworden, starb mir ein jüngerer Bruder. Ich glaube, die Bedeutung des Sterbens verstanden zu haben, war fast bis zu seiner Auflösung bei ihm und wußte, als man mich zu meinem Großvater schickte, daß ich das Kind nimmer sehen werde, daß es im Friedhof begraben würde. Meine Mutter holte mich nach dem Leichenbegängnis ab, um mich nach Hause zu bringen. Sie war sehr traurig und verweint, lächelte aber ein wenig, als mein Großvater, um sie zu trösten, einige scherzende Worte zu ihr sagte, die sie wahrscheinlich auf weiteren Kindersegen verweisen sollten. Dieses Lächeln konnte ich meiner Mutter lange nicht verzeihen und ich darf aus diesem Groll wohl schließen, daß ich mir der Schauer des Todes sehr wohl bewußt gewesen bin.
Im vierten Lebensjahr kam ich zweimal unter einen Wagen. Ich entsinne mich, daß ich mit Schmerzen auf einem Diwan erwachte, ohne daß ich wußte, wie ich dorthin gekommen war. Ich muß also wohl in Ohnmacht gefallen sein.
Mit fünf Jahren erkrankte ich an einer Lungenentzündung und wurde vom Arzte aufgegeben. Ein zweiter Arzt schlug doch eine Behandlung vor, und ich war in wenigen Tagen gesund. Man hatte in der Freude über meine Genesung noch lange Zeit über die Todesgefahr gesprochen, in der ich angeblich geschwebt hatte; seit dieser Zeit entsinne ich mich, daß ich mir stets meine Zukunft als Arzt vorgestellt habe, d. h. ich habe ein Ziel festgesetzt, von dem ich erwarten durfte, daß es meiner kindlichen Not, meiner Furcht vor dem Tod ein Ende machen konnte. Es ist klar, daß ich von dieser Berufswahl mehr erwartet habe, als sie leisten konnte: den Tod, die Todesfurcht überwinden, das hätte ich eigentlich von menschlichen Leistungen nicht erwarten dürfen; bloß von göttlichen. Die Realität gebietet aber zu handeln. Und so war ich gezwungen, im Formenwechsel der leitenden Fiktion so weit mein Ziel abzuwandeln, bis es der Realität zu genügen schien. Da kam ich zur ärztlichen Berufswahl, um den Tod und die Todesfurcht zu überwinden.1)
Aus der Berufswahlphantasie eines etwas zurückgebliebenen Knaben, die sich auf ähnlichen Eindrücken — Tod einer Schwester und Kränklichkeit in früher Kindheit, Bekanntschaft mit dem Tod — aufbaute, erfuhr ich, daß dieser Knabe beschlossen hatte, Totengräber zu werden, um, wie er sagte, die anderen einzugraben und nicht selbst eingegraben zu werden. Das »starre, gegensätzliche Denken dieses später neurotischen Knaben, — oben oder unten, aktiv oder passiv, Hammer oder Amboß, flectere si nequeo superos, Acheronta mo-vebo! — hat mittlere Möglichkeiten nicht zugelassen, seine kindische rettende Fiktion ging im Nebensächlichen auf das Gegenteil.
Aus jener Zeit meiner Berufswahl, etwa aus dem fünften Lebensjahre, datiert folgendes Erlebnis: Der Vater eines Spielkameraden fragte mich, was ich werden wollte. Ich gab zur Antwort: »Ein Doktor!« Der Mann, der vielleicht schlechte Erfahrungen mit Ärzten gemacht hatte, erwiderte darauf: »Da soll man dich gleich an dem nächsten Laternenpfahl aufhängen!« Selbstverständlich ließ mich, — eben wegen meiner regulativen Idee —, diese Äußerung völlig kalt. Ich glaube, ich dachte damals, daß ich ein guter Arzt werden wolle, dem niemand feindlich gesinnt sein sollte.
Kurz nachher kam ich in die Volksschule. Meine Erinnerung sagte mir, daß ich auf dem Weg in die Volksschule über einen Friedhof gehen mußte. Da hatte ich nun jedesmal Furcht und sah es mit großem Mißbehagen, wie die andern Kinder harmlos den Friedhofsweg gingen, während ich ängstlich und mit Grauen Schritt vor Schritt setzte. Abgesehen von der Unerträglichkeit der Angst quälte mich der Gedanke, an Mut den andern nachzustehen. Eines Tages faßte ich den Entschluß, dieser Todesangst ein Ende zu machen. Als Mittel wählte ich wieder die Abhärtung. (Todesnähe!) Ich blieb eine Strecke hinter den andern Kindern zurück, legte meine Schultasche an der Friedhofsmauer auf die Erde und lief wohl ein dutzendmal über den Friedhof hin und zurück, bis ich dachte, der Furcht Herr geworden zu sein. Später glaube ich den Weg ohne Angst gegangen zu sein.
Dreißig Jahre später traf ich einen ehemaligen Schulkameraden, mit dem ich Kindheitserinnerungen aus der Volksschule austauschte. Es fiel mir dabei ein, daß derzeit jener Friedhof nicht mehr bestehe, und ich fragte, was aus dem Friedhof, der mir solche Beschwerden gemacht hatte, geworden sei. Verwundert antwortete mir mein ehemaliger Kamerad, der länger als ich in jener Gegend gewohnt hatte, daß auf dem Weg zu unserer Schule niemals ein Friedhof gewesen sei. Da erkannte ich, daß die Erinnerung an die Friedhofsgeschichte eine dichterische Einkleidung für meine Sehnsucht war, die Angst vor dem Tod zu überwinden. Sie sollte mir ähnlich wie in anderen Lebenslagen zeigen, daß man den Tod und die Todesangst überwinden könnte, daß es ein Mittel geben müsse, und dies wirkte wie ein kraftvoller Zuspruch, daß es mir gelingen könnte, in schwierigen Lebenslagen ein solches Mittel gegen den Tod zu finden. So kämpfte ich gegen meine Kindheitsfurcht, so bin ich Arzt geworden und so sinne ich auch jetzt noch Problemen nach, die mich gemäß dieser psychischen Eigenart anziehen, was bei der Titanic-Katastrophe in hervorragendem Maße der Fall war.
Ja mein Ehrgeiz ist so sehr durch diese leitende Fiktion, den Tod zu überwinden, festgelegt, daß ihn andere Ziele wenig aufstacheln können. Es kann vielmehr leicht der Eindruck erweckt werden, als ob mir in den meisten Beziehungen des Lebens der Ehrgeiz fehlte. Die Erklärung für diese double vie, für diese Spaltung der Persönlichkeit, wie es die Autoren nennen würden, liegt darin, daß der Ehrgeiz ja nur ein Mittel darstellt, keinen Zweck, so daß er bald benützt, bald beiseite geschoben wird, je nachdem das vorschwebende Ziel bald mit diesem Charakterzug, bald ohne ihn leichter zu erreichen ist.«
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1) Über die Bedeutung des Todes für das Philosophieren siehe P. Schrecker, Bergsons Persönlichkeitsphilosophie. München 1912.