II. Über Verstärkungen des psychischen Hermaphroditismus.
Der männliche Protest als Endziel 7)
Wir haben oben als Ausgangspunkt für die weiblichen Tendenzen des Nervösen das Schwächegefühl des Kindes gegenüber den Erwachsenen hingestellt, aus dem ein Anlehnungsbedürfnis, ein Verlangen nach Zärtlichkeit erwächst, eine physiologische und seelische Unselbständigkeit und Unterordnung. Auch darauf wurde oben bereits hingewiesen, wie diese Züge bei frühzeitig und subjektiv empfundener Organminderwertigkeit (motorische Schwäche, Ungeschicklichkeit, Kränklichkeit, Kinderfehler, verlangsamte Entwicklung usw.) intensiver zum Ausdruck kommen; wie dadurch die Unselbständigkeit wächst, die dieses verstärkt empfundene Gefühl der eigenen Kleinheit und Schwäche (Wurzel des Kleinheitswahns) zur Aggressionshemmung und damit zur Erscheinung der Angst führt, wie die Unsicherheit bezüglich des eigenen Könnens den Zweifel auslöst, ein Schwanken einleitet, das bald mehr von den »weiblichen« Tendenzen (Angst und verwandte Erscheinungen), bald mehr von den »männlichen« (Aggression, Zwangserscheinungen) beeinflußt wird, läßt sich von diesem Gesichtspunkt aus leicht nachweisen. Die Struktur der Neurosen (Neurasthenie, Hysterie, Phobie, Zwangsneurose, Paranoia usw.) zeigt uns, am schönsten die Zwangsneurose, die vielfach verschlungenen »weiblichen« Linien, sorgsam verdeckt und überbaut durch hypertrophisch »männliche« Wünsche und Bestrebungen. Dieser männliche Protest erfolgt zwangsmäßig, als Überkompensation, weil die »weibliche« Tendenz vom kindlichen Urteil etwa wie ein Kinderfehler abfällig gewertet und nur in sublimierter Form und wegen äußerer Vorteile (Liebe der Angehörigen, Straffreiheit, Belobung des Gehorsams, der Unterordnung usw.) festgehalten wird. Jede Form von innerem Zwang bei Normalen und Neurotikern ist aus diesem Versuch eines männlichen Protestes abzuleiten. Wo er sich durchzusetzen vermag, verstärkt er natürlich die männlichen Tendenzen ganz ungemein, steckt sich die höchsten, oft unerreichbaren Ziele, entwickelt eine Gier nach Befriedigung und Triumph, peitscht alle Fähigkeiten und egoistischen Triebe, steigert den Neid, den Geiz, den Ehrgeiz und führt eine innere Unruhe herbei, die jeden äußeren Zwang, Unbefriedigung, Herabsetzung und Beeinträchtigung als unerträglich empfinden läßt. Trotz, Rachsucht, Nachträglichkeit sind seine steten Begleiter, und durch maßlose Steigerung der Empfindlichkeit führt er zu fortwährenden Konflikten. Normale und krankhafte Größenphantasien und Tagträume werden von solchem überstarken männlichen Protest erzwungen und als vorläufige Surrogate der Triebbefriedigung empfunden. Aber auch das Traumleben gerät ganz unter die Herrschaft dieses männlichen Protestes, und jeder Traum zeigt uns bei seiner Analyse die Tendenz, von der weiblichen Linie zur männlichen abzurücken.
Sieht sich der Patient von jedem persönlichen Erfolg abgeschnitten, ist ihm die Befriedigung seines meist zu weitgehenden männlichen Protestes8) auf einer Hauptlinie, die immer auch vom Sexualtrieb konstituiert wird, mißlungen, dann kommt es zum Ausbruch der längst vorbereiteten Neurose. Dann versucht er die Befriedigung seines männlichen Ehrgeizes auf Nebenlinien, durch Verschiebung auf andere Personen, andere Ziele. Oder die Hemmung und Sperrung wirkt intensiver, und es kommt zu jenen Verwandlungen des Aggressionstriebes, die ich in der Arbeit über den »Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose« beschrieben habe. Für die Struktur der Neurose gewinnen alle diese Variationen große Bedeutung, die (im Sinne des Patienten) weibliche, masochistische Tendenz schlägt vor und schafft das weibliche, masochistische Bild der Neurose, während gleichzeitig der Patient mit der äußersten Empfindlichkeit gegen jedes Versinken in die »Weiblichkeit«, gegen jede Herabsetzung, Unterdrückung, Beeinträchtigung, Beschmutzung ausgestattet wird. Der schwache Punkt, das Gefühl der Minderwertigkeit, die weiblichen Linien werden verdeckt oder durch Kompromißbildung maskiert oder durch Sublimierung und Symbolisierung unkenntlich gemacht, gewinnen aber an Breite und Intensität, dauernd oder anfallsweise, und präsentieren sich in der Abulie, in der Verstimmung, in der Depression, in der Angst, in den Schmerzen, im Gefühl der bangen Erwartung, im Zweifel, in Lähmungen, Impotenz, Insuffizienz usw.
Das Gefühl der Minderwertigkeit peitscht also das Trieblehen, steigert die Wünsche ins Ungemessene, ruft die Überempfindlichkeit hervor und erzeugt eine Gier nach Befriedigung, die keine Anspannung verträgt und in ein dauerndes Überhitztes Gefühl der Erwartung und Erwartungsangst ausmündet. In dieser hypertrophischen Gier, der Sucht nach Erfolg, in dem sich toll gebärdenden männlichen Protest liegt der Keim des Mißerfolges, allerdings auch die Prädestination zu den genialen und künstlerischen Leistungen. Die Neurose setzt nun ein beim Scheitern des männlichen Protestes auf einer Hauptlinie. Die weiblichen Züge erhalten scheinbar das Übergewicht, allerdings nur unter fortwährenden Steigerungen des männlichen Protestes und unter krankhaften Versuchen eines Durchbruchs auf männlichen Nebenlinien. Das Schicksal dieser Versuche ist verschieden. Entweder gelingen sie, ohne daß eine rechte Befriedigung und Harmonie eintritt, oder sie mißlingen gleichfalls, wie oft in der Neurose, und drängen den Patienten immer weiter in die weibliche Rolle, in die Apathie, in die Angst, in die geistige, körperliche, sexuelle Insuffizienz usw., die weiterhin als Mittel zur Macht ausgenützt werden.
Die Untersuchung der fertigen Neurose wird demnach stets folgende Züge aufdecken und ihre dynamische Wertigkeit feststellen müssen:
A. Weiblich gewertete Züge.
B. Hypertrophischen männlichen Protest.
C. Kompromißbildung zwischen A und B.
Das Scheitern des männlichen Protestes bei psychischem Hermaphroditismus wird durch folgende Faktoren begünstigt, ja geradezu herbeigeführt:
1. Durch die Überspannung des Protestes. Das Ziel ist im allgemeinen oder für die Kräfte des Patienten unerreichbar.
2. Durch die Überschätzung des Zieles. Diese Überschätzung (Don Quichoterie z. B.) geschieht unbewußt tendenziös, um die Heldenrolle des Patienten nicht zu stören. Auf diesem Wege ergeben sich Enttäuschungen von selbst.
3. Die weiblichen Tendenzen schlagen vor und hemmen die Aggression. Oft im wichtigsten Moment oder vor der beabsichtigten Leistung erwacht das »weibliche« Gefühl im Sinne eines übertriebenen Autoritätsglaubens, des Zweifels, der Angst und führt zur Demütigung und Unterwerfung unter andauernder Protestbildung oder macht aus dem Zweifel, der Angst usw. eine Waffe und führt so die Unterwerfung ad absurdum.
4. Ein aus der Kindheil überkommenes, reges, leicht verschiebliches Schuldgefühl,9) ein Abkömmling der Gemeinschaftsgefühls, protegiert die weiblichen Züge und schreckt den Patienten mit möglichen Polgen seiner Tat. (Hamletnaturen.}
Ich muß noch weiterer Verstärkungen der weiblichen Linien beim Kinde gedenken, die mehr oder weniger über das physiologische Maß hinausgehen und die regelmäßigen Veranlassungen darstellen, um den männlichen Protest in der geschilderten Weise zu übertreiben. Ein nicht unbeträchtliches, sorgfältig analysiertes Material von männlichen und weiblichen Neurotikern ließ mich regelmäßig diese Ursprünge und den gleichen Mechanismus erkennen, so daß ich wohl von einer allgemeinen Geltung dieser Befunde sprechen darf, um so mehr, als durch Aufdeckung derselben die Heilung der Neurose eingeleitet wird.
Zur Verstärkung der weiblichen Züge, damit aber auch zum sekundären, verstärkten männlichen Protest auf Umwegen, tragen folgende Momente bei:
1. Furcht vor Strafe. Als begünstigend wirken besondere Wehleidigkeit und Hauthyperästhesien, Strenge der Erzieher, Prügelstrafe. Als männliche Reaktion ist zu verstehen: Gleichgültigkeit gegen Strafe, trotzige Gleichgültigkeit, Ertragen von Schmerzen, oft Aufsuchen von Qualen (scheinbarer Masochismus) und demonstrativer Hinweis des Patienten, wie viel er vertragen könne, Erektion und aktive Sexualbetätigung, wenn Strafe droht, was zuweilen durch individuelle Eigenart physiologisch vorgebildet sein könnte. (Siehe Asnaourow, »Sadismus und Masochismus«, E. Reinhardt, München.)
2. Aufsuchen des Mitleids durch Demonstration der eigenen Schwäche, des eigenen Leidens. Männlicher Protest: Größenideen (zur Kompensation des weiblichen Kleinheitswahns), Empörung gegen das Mitleid der anderen, Lachen statt Weinen, Zynismus, Kampf gegen Zärtlichkeitsregungen usw. — (»Sich lustig machen über sich selbst«). Mischbildungen treten regelmäßig auf. — Kinderfehler wie Enuresis, Stottern, aber auch Kränklichkeit, Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit usw. können durch Spekulation auf das Mitleid oder trotzig fixiert werden. Fast regelmäßig kommt es aber zur Kompromißbildung. Die männliche Reaktion verwendet die Schwäche zum Ärgernis der Eltern und trotzt mit Beibehaltung des Fehlers, um nicht nachgeben zu müssen. Deutlich geht dies aus der Festhaltung der Enuresis und anderer Kinderfehler hervor. Viele enuretische Träume zeigen den Versuch des oder der Träumenden, sich wie ein Mann zu gebärden. (Stehend zu urinieren, männliches Pissoir, großer Bogen des Urinstrahls, Ziffern in den Sand urinieren.) — Gleichzeitig als männliche Reaktion gegen 1., oft unter tendenziöser Anwendung von Fiktionen, als ob der Topf, das Klosett bereit stünden. —
3. Falsche Auffassung der Sexualrollen, Unkenntnis des Unterschiedes zwischen Mann und Trau, Gedanken über die Möglichkeit einer Verwandlung der Knaben in Mädchen und umgekehrt bei Kindern. Häufig besteht ein mehr oder weniger dunkles Gefühl, ein Zwitter zu sein. Körperliche Eigenschaften, Erziehungsfehler, mißverstandene Äußerungen der Umgebung (Mädchenkleider bei Knaben, lange Haare bei Knaben, kurze bei Mädchen, Bäder in Gemeinschaft mit dem anderen Geschlecht, Unzufriedenheit der Eltern mit dem Geschlecht des Kindes usw.) wecken oder steigern den Zweifel des Kindes, solange ihm der Sexualunterschied unklar ist. In gleicher Weise rufen Märchen über die Geburt der Kinder oder falsche Vorstellungen davon (Geburt durch den After, Empfängnis durch den Mund, infolge eines Kusses, durch Gift oder durch Berührung) Verwirrung hervor. Perverse frühzeitige Sexualerfahrungen oder Phantasien, bei denen der Mund oder After die Rolle des Sexualorgans spielen, helfen den Unterschied zwischen Mann und Frau verwischen und können tendenziös zur Fixierung gelangen.
Die Homosexualität geht oft aus von der Unsicherheit der Geschlechtsrolle. Homosexuelle Männer hatten in der Kindheit die Gabe, sich in eine Mädchenrolle hineinzudenken. Erfolgt, wie immer, der männliche Protest, so geht die Verwandlung in den Homosexuellen bei bleibender Unsicherheit vor sich als Ausweichung vor der gefürchteten Frau.
Überhaupt kann das Verständnis nur erlangt werden, wenn man den männlichen Protestversuchen nachgeht. So beim Onaniezwang, der wie jeder Zwang den Versuch, sich quasi männlich zu gebärden und doch seiner Aufgabe auszuweichen bedeutet. Die gleiche Tendenz findet sich bei Pollutionen und bei der Ejaculatio praecox. Die Hast sowie die begleitenden Erscheinungen (mangelhafte Erektion, zuweilen homosexuelle Träume) verraten uns den dahinter verborgenen schwachen Punkt. Bei der Analyse von Träumen achte man auf Alpträume, auf Träume von Gehemmtsein, auf Fallträume und Angstträume, die einer Ausmalung der weiblichen Linie, einer Niederlage, angehören; dabei bricht doch fast regelmäßig die männliche Tendenz durch (Schreien, Flucht, Aufwachen), — als Protest.
Exhibitionistische Züge werden begünstigt durch die Tendenz, sich trotz des Gefühls der Unsicherheit als Mann zu zeigen. Bei Mädchen und Frauen scheint für diesen Zweck die Lossagung vom weiblichen Schamgefühl, die Ablehnung von weiblichen Kleidungsstücken zu genügen. Die gleiche Tendenz zur Macht charakterisiert den Narzißmus. Im Fetischismus kommt regelmäßig die unmännliche Linie zur Geltung (Vorliebe für Dessous, Blusen, Schürzen, Schmuck, Zöpfe usw. statt des Partners), aber stets begleitet von der männlichen Tendenz, nicht vom Partner beherrscht zu werden. Ursprünglich Ausdruck des Hermaphroditismus wie jeder Autoerotismus, richtet sich der Hand- oder Schuhfetischismus auf die Nebensache und gewinnt durch seine Distanz von der männlichen Rolle sein weibliches, masochistisches Gepräge. Immer zeigt sich das Ausweichen vor einer vermeintlichen Gefahrenzone.
Ursprünglich masochistische Züge, ebenso Hypochondrie und übertriebene Schmerzempfindlichkeit liegen im Bereiche der »weiblichen« Züge des Duldens. Wie jede psychische Erscheinung entbehren sie nie weiterer Nebendeterminationen, die Größe des Leidens usw. zu zeigen und sich der Erfüllung der Lebensaufgaben im Vorgefühl einer Niederlage zu entziehen. Es ist leicht begreiflich, daß sich das Kind zur Darstellung seiner weiblichen Linien der Züge der Mutter bedient, zur Darstellung der männlichen Züge des Vaters (»Vom Vater hab ich die Statur« usw.). Der männliche Protest peitscht die Wünsche des Kindes auf, es sucht den Vater in jeder Hinsicht zu übertreffen, gerät in Konflikte mit ihm, und so kommen manchmal sekundär jene Züge zustande, die auf die Mutter gerichteten Begehrungsvorstellungen entsprechen. (Ödipusgleichnis.)
Sache der Pädagogik und der Neurosentherapie ist es, diese Dynamik aufzudecken und bewußt zu machen. Damit verschwindet die tendenziöse Hypertrophie und kämpferische Antithetik der »weiblichen und männlichen Züge«, die kindliche Wertung macht einer gereifteren Weltanschauung Platz.10) Die Überempfindlichkeit weicht und der Patient lernt die Anspannungen der Außenwelt ertragen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Er, der früher »ein Spielball dunkler, unbewußter Regungen war, wird zum bewußten Beherrscher oder Dulder seiner Gefühle«.
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7) Siehe Schiller, Männerwürde: »Ich bin ein Mann« usw.
8) Gilt natürlich in gleicher Weise für weibliche wie männliche Personen. Der männliche Protest des Weibes geht nur meist verdeckt und verwandelt und sucht den Triumph mit weiblichen Mitteln. Sehr häufig findet man in der Analyse den Wunsch, sich in einen Mann zu verwandeln; Vaginismus, sexuelle Anästhesie und viele bekannte neurotische Erscheinungen stammen aus dieser egoistischen Tendenz — Folgt man der von mir hier angeregten »dynamischen Betrachtungsweise«, so wird man bald erkennen, daß allen diesen Erscheinungen das Streben gemeinsam ist, sich von der weiblichen Linie irgendwie zu entfernen, um die männliche zu gewinnen, so daß man als psychische Lokalisationsstelle der neurotischen Symptome bald mehr die weibliche, bald mehr die männliche Seite erkennen kann. Demnach stellt jedes neurotische Symptom einen Hermaphroditen vor. Der neurotische Zwang zeigt den männlichen Protest, dem Zwang erliegen, ist weiblich. — Beim Zwangserröten (Erythrophobie) z. B. reagiert der Patient mit (männlicher) Wut und Unmut auf gefühlte oder befürchtete Herabsetzungen. Aber die Reaktion geschieht mit weiblichen Mitteln, mit Erröten oder Furcht vor Erröten. Und der Sinn des Anfalles ist: »Ich bin ein Weib und will ein Mann sein«. So sichert sich der Nervöse vor gefahrvoll scheinenden Entscheidungen, u. a. indem er einen eigenen Zwang statt des fremden setzt. Siehe Furtmüller, Psychoanalyse und Ethik. München 1912.
9) Siehe Adler, die vorige Arbeit ›Uber neurotische Disposition‹.
10) Ebenso hören die dissoziativen Prozesse, die Bewußtseinsspaltung, die double vie auf.