Erziehungsberatungsstellen
(1922)
Der Geist eines Volkes und seiner Zeit drückt sich nirgends so klar und deutlich aus als in der Kindererziehung. Die Bedürfnisse der einem Volke eigentümlichen Kultur drängen Eltern, Erzieher und Schule ununterbrochen zu erzieherischen Maßnahmen, ihnen zu genügen. Auch der ganze kleinere oder größere Kreis des Lebens, der das Kind umgibt, stellt ihm seine logischen Forderungen oder Schranken. Das Ideal eines Volkes, wie es sich aus seiner Position im Völkerleben und aus seiner geistigen Reife ergibt, regelt auch seine bewußten und unbewußten erzieherischen Eingriffe und bewegt die Reform seiner Pädagogik in Schule und Haus.
Die Erziehbarkeit des Kindes stammt aus der Breite seines angeborenen, differenzierten und wachsenden Gemeinschaftsgefühls. Mittels desselben gewinnt es den Anschluß an das Volksideal. Auf diesem Wege werden die Forderungen der Allgemeinheit zu persönlichen, die immanente Logik der menschlichen Gesellschaft, ihre Selbstverständlichkeiten und Notwendigkeiten zur individuellen Aufgabe für das Kind.
Neben dem Gemeinschaftsideal unserer Kultur wirkt in unheilvollster Weise das Ideal der persönlichen Macht. In den Bahnen der Eitelkeit, der Hoffart, der Eigenliebe, des Ehrgeizes erfolgt die Zerstörung des Zusammengehörigkeitsgefühls. Mißtrauen, zänkisches Wesen, Neid und Eifersucht vergiften frühzeitig die Atmosphäre des Kindes und weisen ihm für die ganze Zeit seines Lebens eine kämpferische Stellung zum Nebenmenschen an, verhindern seine Entwicklung zum Mitmenschen und zum Mitarbeiter. Unwillig, und deshalb unvollkommen, geht ein solches Kind, das nur mit sich und seiner Selbstsucht erfüllt ist, den naturgegebenen Aufgaben seines jungen Lebens nach und sehnt immer wieder Triumphe herbei, um seinem Machtrausch zu frönen, oder es sucht sich an der Ohnmacht seiner Umgebung zu weiden. Der .Verfall in Unarten und in Kinderfehler bezeichnet diesen Weg. Oft locken böse Beispiele und der niedrige Stand unserer Kultur. Die Rechnung des Lebens wird verpfuscht, das Kind steht auf gegen die Logik des Zusammenseins und die Verwahrlosung mit ihren Folgen nehmen es gefangen.
Das selbstsüchtige Streben nach Macht findet in der Familie, die als grundlegende Einrichtung unseres Gesellschaftslebens neben manchen unersetzlichen Vorzügen auch schwerwiegende Mängel zeigt, einen unverhältnismäßig guten Nährboden. Die überragende Rolle des Vaters verleitet zur Nachahmung. Die Frauenrolle, im äußern Zeichen der Unterwerfung, oft der Erniedrigung, treibt das Kind zum Widerstand und Protest, legt den Knaben Großmannssucht und Prahlerei, oft auch Lebensfeigheit und Ausreißerei nahe, den Mädchen Revolten aller Art oder unheilvolle, unausgeglichene Resignation. In der Familie entstanden, kann die Verwahrlosung durch die Familie nicht geheilt werden.
Die Schule übernimmt die Kinder schon mit fertigen Schablonen, die ihnen im zweiten und dritten Lebensjahr erwachsen sind. Nur eine individuelle Vertiefung in das Seelenleben des einzelnen, Einzelerziehung, könnte bei Fehlschlägen Abhilfe schaffen. Die Schule im Prinzip der Massenerziehung bleibt ohnmächtig. Erst wenn sie durch ein wohlausgebautes System von Hilfslehrern sich ergänzen wird, die, individualpsychologisch ausgebildet, dem einzelnen strauchelnden Kinde zu Hilfe eilen, wird sie unseren Forderungen genügen können. Derzeit aber schafft sie als Prüfstein der Schulfähigkeit für schlecht vorbereitete und mangelhaft eingefügte Kinder oft Schwierigkeiten, vor denen die Eitelkeit des Kindes gerne in die Verwahrlosung ausbiegt. Die von der Glöckelschen Schulreform geforderten Bogen zur Charakteristik der Schüler sind ein vielversprechender Anfang, erfordern aber dringend eine Ausgestaltung in unserem Sinne, die Bestellung von Hilfslehrern behufs individueller Erziehung bei schwer erziehbaren Kindern, bis die Lehrer Individualpädagogen werden.
Die Ausbildung solcher Hilfslehrer aber ist bis heute nicht in die Wege geleitet. Unter den wenigen Lehrstätten nennen wir die Vorlesungen und Kurse in den Volksheimen, wo praktisch und theoretisch moderne Pädagogik und Individualpsychologie betrieben werden. Eine im Wiener »Volksheim« errichtete »Beratungsstelle für Erziehung«, bei der Kinder, Eltern und Lehrer mit Wünschen und Fragen bezüglich erzieherischer Fehlschläge zur Aussprache kommen, ist ein bescheidener Anfang. Durch diese Stellen soll dafür gesorgt werden, daß verwahrloste und schwer erziehbare Kinder innerhalb oder außerhalb ihrer Familie wieder »kontaktfähig« werden, das heißt, daß sie sich wieder der Gemeinschaft und ihren Forderungen anpassen.
Die Schulreform, selbst aus den Notwendigkeiten der Zeit entsprungen, bestimmt, die bürgerliche Schule in die soziale umzuwandeln, schafft und enthüllt in ihren Auswirkungen neue Notwendigkeiten. Indem sie immer weitere Verpflichtungen der Familie übernimmt, denen diese nicht mehr genügen kann, stößt sie auf die Aufgabe der individuellen Erziehung. Die erzieherischen Fehlschläge, Ergebnisse der unzureichenden Familienerziehung, können in der Familie nicht korrigiert werden, es sei denn, die Familie werde in die Erziehung miteinbezogen.
Eine Ausgestaltung solcher Erziehungsberatungsstellen, wie sie auch in Deutschland, in der Schweiz und in Amerika bestehen, erfordert den Anschluß eines mit den gleichen Erfahrungen und Erkenntnissen ausgerüsteten Kinderheims. Für ein solches müssen sich die Beratungsstellen gleichzeitig ihre Kräfte schaffen. Deshalb ist es nötig, die Beratungsstellen so anzulegen, daß eine disziplinierte Hörerschaft an ihnen teilnehmen kann, dort sich Rat holt und an Kenntnissen gewinnt. Die unerläßliche praktische Erfahrung und der pädagogische Takt kann nur im persönlichen Umgang mit den schwer erziehbaren Kindern gewonnen werden. Ist man, wie wir, auf schmale Hilfsmittel gesetzt, so muß ein Turnsaal für den Anfang genügen, gemeinsame Ausflüge der Hörerschaft mit den Kindern, gemeinsame Spiele, ein Strandbad im Sommer oder die Arbeit in einem Schrebergarten. Jedes Kind stellt einen vor eine bestimmte Aufgabe. Sie muß immer im Auge behalten werden, die Fühlung mit Kindern und deren Eltern darf nicht verloren gehen, und bei jeder Zusammenkunft muß man durch taktvolles Eingreifen den Stand der Besserung feststellen und den Fortschritt befestigen.
Zum Schlusse will ich noch ein Schema vorlegen, das trotz seiner Unvollständigkeit genügende Anhaltspunkte gibt, um größere Fehler zu vermeiden. 1. Verzicht auf jede Autorität. — 2. Feststellung der krankmachenden Situation und deren Verfolgung bis ins früheste Kindesalter. — 3. Peinliche Rücksichtnahme auf das Recht des Verwahrlosten. — 4. Aufdeckung seiner Eitelkeit. — 5. Entfaltung seines Gemeinschaftsgefühls unter beispielgebendem Verhalten des Erziehers. — 6. Zurückführung des Aberglaubens von der Begabung auf die wahren, dürftigen Grenzen. — 7. Jeder dieser Standpunkte muß erarbeitet und erfühlt, muß lebendig gemacht sein, muß sich über das Reich der Phrase und der Augenauswischerei erheben.
Es ist ein dringendes Bedürfnis unserer Zeit, die andersartigen Standpunkte aller Personen, die mit der Erziehung von Verwahrlosten beschäftigt sind, einer strengen Prüfung zu unterziehen und je nach dem Ausfall seine Maßnahme zu treffen.