II. »Verdrängung« und »männlicher Protest«; ihre Rolle und Bedeutung für die neurotische Dynamik
Ich darf in diesem Kreise die Kenntnis des Wesens der »Verdrängung«, wie es von Freud entworfen und geschildert wurde, als gegeben voraussetzen. Die Ursachen der Verdrängung aber und der Weg, der von der Verdrängung zur Neurose führt, sind durchaus nicht so klar, als man in der Freudschule gemeiniglich annimmt. Die Zahl der Hilfsvorstellungen, die bei den Erklärungsversuchen zutage treten, sind überaus groß, und sie erweisen sich oft als unbewiesen oder aber gar als unbeweisbar. Gar nicht von denen zu reden, die (in plattester Weise) eine Analogie aus der Physik oder Chemie zu Hilfe nehmen, von »Stauung« und »erhöhtem Druck«, von »Fixierung«, vom »Zurückströmen in infantile Bahnen«, von »Projektionen« und »Regression« reden.
Schon die Ausführungen über die Ursachen der Verdrängung erweisen sich in den Arbeiten dieser Schule als äußerst summarisch gefaßt, als dogmatisch gebrauchte Klischees, freilich auch als Intuitionen, deren Grundlagen festzustellen sich immer lohnt. Das Problem der gelungenen und mißlungenen Verdrängung wird nur rätselhafter, wenn man es auf die »sexuelle Konstitution« zurückführt, die einfache Konstatierung zeigt aber nur den Mangel einer gegenwärtigen psychologischen Einsicht. Die Ursachen der »Sublimierung«, der »Ersatzbildungen«, sind ebenfalls nicht ergründet, sofern man einfach Tautologien als Tatsachen hinnimmt. Die »organische Verdrängung« erscheint da nur als ein Notausgang, als Beweis einer Denkmöglichkeit von Umänderungen der Betriebsformen und hat mit der Theorie der Neurosen kaum etwas zu schaffen.
So kommen zur Betrachtung: verdrängte Triebe und Triebkomponenten, verdrängte Komplexe, verdrängte Phantasien, verdrängte Erlebnisse und verdrängte Wünsche. Und über allen schwebt als Deus ex machina eine Zauberformel: die Lust, von der Nietzsche so schön sagt: »Denn alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit.« Und Freud: »Der Mensch kann auf jemals empfundene Lust nicht verzichten.« Und so kommen dann — unter dieser Voraussetzung — jene drastischen Gebilde zustande, die jede Schülerarbeit aufweisen muß: der Knabe, der an der Brust der Mutter saugen muß, der Neurotiker, der den Genuß, mit Wein oder Fruchtwasser bespült zu werden, immer wieder sucht, bis hinauf zu den reineren Sphären, wo dem Suchenden kein Mädchen recht ist, weil er die unersetzliche Mutter sucht. War diese Art der Beobachtung, so bedeutend auch der Fortschritt war, den hier diese Methode schuf, geeignet, die in Wirklichkeit arbeitende und auf Zukünftiges bedachte Psyche zu vergegenständlichen und so in eine starre Form zu bringen, so war die Festlegung auf den Begriff des Komplexes ein weiterer Schritt, die räumliche Anschauung über die dynamische zu setzen. Natürlich ging dies nie so weit, daß man nicht das energetische Prinzip, das Jtctvta gel, nachträglich hineinzubringen versucht hätte.
Die Frage lautet doch: ist das treibende Moment in der Neurose die Verdrängung oder, wie ich vorläufig unpräjudizierlich sagen will, die andersartige, irritierte Psyche, bei deren Untersuchung auch die Verdrängung zu finden ist? Und nun bitte ich zu beachten: Die Verdrängung geschieht unter dem Druck der Kultur, unter dem Druck der »Ichtriebe«, wobei Gedanken an eine abnorme sexuelle Konstitution, an sexuelle Frühreife zu Hilfe genommen werden. — Frage: Woher stammt unsere Kultur? Antwort: Aus der Verdrängung. — Und die »Ichtriebe«, ein Begriff, so pleonastisch und inhaltslos wie wenig andere? Haben sie nicht den gleichen »libidinösen« Charakter wie der Sexualtrieb? Faßt man aber die Ichtriebe nicht als etwas Starrgewordenes, Individuelles, sondern entsprechend den Feststellungen der Individualpsychologie als die Anpassung und Einstellung gegen die Außenwelt auf, als ein Geltenwollen, als ein Streben nach Macht, nach Herrschaft, nach Oben, so muß man theoretisch wie praktisch zwei Möglichkeiten ins Auge fassen: 1. Das Geltenwollen kann auf gewisse Triebe hemmend, verdrängend, modifizierend einwirken. 2. Es muß vor allem steigernd einwirken. — Nun ist das Unwandelbare, für unsere Betrachtung Unveränderliche die Kultur, die Gesellschaft, ihre Einrichtungen, und unser Triebleben, dessen Befriedigung eigentlich als Zweck gedacht wird, muß sich begnügen, bloß als richtunggebendes Mittel aufzutreten, um, zumeist in ferner Zeit, Befriedigungen einzuleiten. Unser Auge, das Ohr, auch die Haut haben die eigentümliche Fähigkeit erlangt, unseren Wirkungskreis über die körperlich räumliche Sphäre hinaus zu erstrecken, und unsere Psyche tritt auf dem Wege der Vorempfindlichkeit aus der Gegenwart, also zeitlich, außer die Grenzen dieser primitiven Triebbefriedigung. Hier sind erhöhte Anspannungen ebenso dringlich als Verdrängungen, in diesen Beziehungen liegt die Nötigung zu einem ausgebreiteten Sicherungssystem, deren einen kleinen Teil wir in der Neurose zu erblicken haben. Das heißt aber: die Neurose ist in erster Linie Sicherung!
Die Anspannungen aber beginnen am ersten Tage der Kindheit und wirken dermaßen verändernd auf alle körperlichen und psychischen Tendenzen, daß das, was wir sehen, niemals etwas Ursprüngliches, Unbeeinflußtes darstellt, etwa erst von einem späteren Zeitpunkt an Verändertes, sondern die Einfügung des Kindes richtet und modifiziert sein Triebleben so lange, bis es sich in irgendeiner Art an die Außenwelt angepaßt hat. In dieser ersten Zeit eines psychischen Lebens kann von einer dauernden Vorbildlichkeit nicht gesprochen werden, auch nicht von Identifizierung, wenn das Kind sich nach einem Vorbild richtet. Denn dies ist oft der einzige Weg und die einzige Möglichkeit zur Triebbefriedigung.
Bedenkt man nun, in welch verschiedener Art und wie verschiedenem Tempo allerorts und zu allen Zeiten sich die Triebbefriedigung durchgesetzt hat, wie sehr sie von gesellschaftlichen Einrichtungen und von der Ökonomie abhängig war, so kommt man zu einem dem Obigen analogen Schlüsse, daß die Triebbefriedigung und damit die Qualität und Stärke des Triebes jederzeit variabel und daher für uns unmeßbar ist. Erinnern Sie sich, daß ich in meinem Vortrage über »Sexualität und Neurose« aus den Beobachtungen über den Sexualtrieb der Neurotiker gleichfalls zu dem Schlüsse gekommen bin, daß die scheinbar libidinösen und sexuellen Tendenzen in der Neurose wie auch beim Normalen durchaus keinen Schluß auf Stärke oder Zusammensetzung des Sexualtriebes zulassen.
Wie vollzieht sich nun die Anpassung eines Kindes an ein bestimmtes familiär gegebenes Milieu? Erinnern wir uns, wie verschieden sich die Äußerungen des kindlichen Organismus gestalten, und zwar, wo der Überblick noch am ehesten möglich ist, in den ersten Monaten. Die einen bekommen nie genug, die anderen verhalten sich recht gemäßigt bei der Nahrungsaufnahme, manche lehnen Änderungen in der Nahrung ab, andere wollen alles aufnehmen. Ebenso beim Sehen, beim Hören, bei der Exkretion, beim Baden, bei den Beziehungen zu den Personen der Umgebung. In den ersten Tagen schon fühlt sich das Kind beruhigt, wenn man es auf den Arm nimmt, Erziehungseinflüsse, die dem Kind den Weg ebnen, sind da von großer Tragweite. Schon in diesen ersten Anpassungen liegen Gefühlswerte gegenüber den umgebenden Personen. Das Kind ist beruhigt, fühlt sich sicher, liebt, folgt usw., oder wird unsicher, ängstlich, trotzig, ungehorsam. Greift man frühzeitig mit kluger Taktik ein, so resultiert ein Zustand, den man etwa mit sorgloser Heiterkeit, Versöhnlichkeit, bezeichnen könnte, und das Kind fühlt kaum den Zwang, der in jeder Erziehung steckt. Erziehungsfehler, insbesondere bei mangelhaft ausgebildeten Organen, führen zu so häufigen Benachteiligungen des Kindes und zu Unlustgefühlen, daß es Sicherungen sucht. Im großen und ganzen bleiben da zwei Hauptrichtungen bestehen: zu weit gehende Unterwerfung oder Auflehnung und Hang zur Selbständigkeit. Gehorsam oder Trotz — die menschliche Psyche ist fähig, in jeder dieser Richtungen zu arbeiten.
Diese beiden richtunggebenden Tendenzen modifizieren, verändern, hemmen und erregen jede Triebregung so sehr, daß, was immer angeborenerweise sich als Trieb geltend macht, von diesem Punkte aus nur zu verstehen ist. »Schön ist häßlich, häßlich — schön«, wie Macbeths Hexen singen. Trauer wird Freude, der Schmerz wandelt sich in Lust, das Leben wird verworfen, der Tod erscheint begehrenswert, sobald die Trotzregungen stark ins Spiel eingreifen. Was dem anderen lieb ist, wird gehaßt, was andere verwerfen, hoch gewertet. Was die Kultur verbietet, was Eltern und Erzieher widerraten, gerade das wird zum heißersehnten Ziel auserkoren. Ein Ding, eine Person erlangen nur Wert, wenn andere darunter leiden. Stets verfolgen sie andere und glauben sich doch immer verfolgt. So wächst eine Gier, eine Hast des Verlangens heran, die nur eine große Analogie besitzt, den mörderischen Kampf aller gegen alle, die Anfachung des Neides, des Geizes, der Eitelkeit und des Ehrgeizes in unserer modernen Gesellschaft. — Die Spannung von Person zu Person ist beim Nervösen zu groß, sein Triebbegehren ist derart aufgepeitscht, daß er in unruhiger Erwartung stets seinem Triumph nachjagt. So erklärt sich das Festhalten an alten Kinderfehlern wie Lutschen, Enuresis, Kotschmieren, Nägelbeißen, Stottern usw., und man kann in diesen Fällen getrost von Trotz reden, wenn einer derartige, scheinbar »libidinöse« Regungen dauernd beibehalten hat.
Das gleiche gilt von der sogenannten Frühmasturbation, von der sexuellen Frühreife und verfrühtem Geschlechtsverkehr. Ich kannte ein i7jähriges Mädchen aus gutem Hause, das seit seinem 14. Lebensjahr häufigen Geschlechtsverkehr hatte. Dabei war es frigid. So oft es mit der Mutter zankte, was immer nach kurzen Pausen eintrat, wußte es sich Geschlechtsverkehr zu verschaffen. Ein anderes Mädchen näßte das Bett nach jeder Herabsetzung von seiten der Mutter und beschmierte es mit Kot.
Schlechter Fortgang in den Studien, Vergeßlichkeit, mangelnde Freude am Beruf, Schlafzwang zeigen sich als Protesterscheinungen beim Nervösen und werden als wertvoll, ich sage nicht lustvoll, im Kampfe gegen einen Gegenspieler beibehalten. Einen Teil dieser Psyche schildert Siegmund in Wagners Walküre: »Wie viel ich traf, wo ich sie fand, ob ich um Freund, um Bruder warb, immer doch war ich geächtet, Unheil lag auf mir. Was Rechtes je ich riet, andern dünkte es arg, was schlimm immer mir schien, andere gaben ihm Gunst. In Fehde fiel ich, wo ich mich fand. Zorn traf mich, wohin ich zog. Giert' ich nach Wonne, weckt' ich nur Weh: drum mußt' ich mich Wehwalt nennen, des Wehes waltet' ich nur.« —
So entwickelt sich die Charakterologie des Neurotikers, die ich am ausführlichsten in der »Disposition zur Neurose« geschildert habe.1)
Woher stammt nun diese Gier nach Geltung, diese Lust am Verkehrten, dieses trotzige Festhalten an Fehlern und diese Sicherungsmaßregeln gegen ein Zuviel und Zuwenig,2) in welch' letzterem Falle der Patient zur Selbstentwertung schreitet, nur um sich hinterher oder andernorts zu behaupten?
Wie Sie wissen, habe ich zwei Durchgangspunkte der psychischen Entwicklung dafür verantwortlich gemacht, die ich hier nur kurz anführe. Der eine liegt im Aufkeimen eines beträchtlicheren Minderwertigkeitsgefühles, das ich meist im Zusammenhang mit minderwertigen Organen beobachtet habe, der andere ist ein mehr oder weniger deutlicher Hinweis auf eine ehemalige Befürchtung einer weiblichen Rolle. Beide unterstützten das Auflehnungsbedürfnis und die Trotzeinstellung so sehr, daß stets neurotische Züge sich entwickeln müssen, ob der Betreffende nun als Gesunder gilt, als Neurotiker in Behandlung steht, als Genie oder als Verbrecher sich einen Namen macht.
Und von diesem Punkte aus wird nun das Gefühlsleben verfälscht, es handelt sich nicht mehr um einfache, natürliche Beziehungen, sondern um ein Hasten und Haschen nach vermeintlichen Triumphen, die lockend und werbend in seiner Zukunft vor ihm zu liegen scheinen und seine krankhafte Einstellung dauernd festhalten. Der Neurotiker lebt und denkt auch viel weiter in die Zukunft als der Normale und weicht meist den gegenwärtigen Prüfungen aus. Sehr häufig verbirgt sich der Charakter des Neurotikers, und so konnte es geschehen, daß man, als ich davon zu sprechen begann, diese Charakterzüge als selten, als Eigentümlichkeiten des Verschrobenen auffassen wollte. Was sagt der Neurotiker zu diesen seinen Charakterzügen? Manche wissen davon, wenn sie auch nicht den ganzen Umfang oder gar die Tragweite kennen. Viele haben es einmal gewußt und dann vergessen. Aus Ehrgeiz und Eitelkeit. Sie sichern sich dann vor diesen sie entwürdigenden Egoismus durch eine Art gegenteiligen Handelns. Immer sehen wir dabei, daß egoistische Triebregungen entwürdigender Art, z. B. Geiz, Rachsucht, Bosheit, Grausamkeit von solchen wertvollen, ethischen Regungen abgelöst erscheinen. Also muß doch die »Sucht zu gelten« drinnen stecken, die Führung übernommen haben! Ein schönes Beispiel dieser Triebverdrängung habe ich in einem Vortrage in der Philosophischen Gesellschaft in Wien (S. 48 dieses Bandes) mitgeteilt. Es betraf einen Fall von Stottern, einem Leiden, das in jedem Punkte durch den Mechanismus des männlichen Protestes konstituiert wird. Der Patient hatte ein Geschenk von 200 K. im 7. Bezirke Wiens zu wohltätigen Zwecken abgeliefert, sollte in einem vornehmen Restaurant der inneren Stadt pünktlich eintreffen, verspürte schon großen Hunger und ging mißmutig und matt zu Fuß den weiten Weg. Er wollte 12 Heller ersparen, wie sich bei der Analyse herausstellte. Wie bei allen Neurosen, kam bei ihm zutage: er wollte alles haben, alles Geld, alle Weiber, alle Seelen, und suchte beständig andere zu entwerten. Auf die Wertschätzung, die man ihm entgegen brachte, achtete er gierig. Er konnte asketisch leben, wo es ihm Geltung verschuf, konnte übereifrig studieren, wenn es sich darum handelte, anderen den Rang abzulaufen, konnte wohltätig sein, wenn man es sah, geizte aber im kleinen, wenn er sich unbemerkt glaubte. Wo einer etwas leistete, war er verstimmt, wo einer gefiel, griff er an. Unaufhörlich lag er mit seinem Vater im Kampf und schreckte vor Selbstmorddrohungen nicht zurück, wenn er seinen Willen haben wollte. Das Stottern war gegen seinen Vater gerichtet, machte dem einen Strich durch die Rechnung und verhalf meinem Patienten zu größerer Bewegungsfreiheit. Zugleich sicherte es ihn vor der Ehe. Jedes Verhältnis brach er nach einiger Zeit ab mit der Motivierung, solange er stotterte, könne er nicht heiraten. Diese Erscheinung der »langen Liebesreihe«, wie Freud sie nennt und fälschlich auf den »Ödipuskomplex« bezieht, kam in Wirklichkeit zustande, weil er alle Frauen wollte (wie Don Juan), und weil er zweierlei fürchtete und sich davor sichern wollte. 1. daß er von einer Frau beherrscht werden, ihr dienstbar sein, andere aber aufgeben sollte; 2. daß er bei seinem Egoismus, der ihm allerdings nur gefühlsmäßig, nicht aber gedanklich bewußt war, ein schlechter Gatte und Vater sein müßte, von Frau und Kindern deshalb zur Strafe betrogen werden müßte. Die Aufdeckung dieser Protestcharakterzüge ergibt sich mir in der Regel als erstes Stück der Analyse, ist gewöhnlich von einer Besserung gefolgt, regelmäßig aber von heftig einsetzendem Widerstand, der sich in Versuchen zur Entwertung des Arztes kundgibt. Einer meiner Patienten kam aus Ungarn in meine Kur, wie sich in der Analyse herausstellte, weil er es nicht vertragen konnte, daß seine von mir geheilte Schwester gut von mir sprach. Sie werden sagen, er war in seine Schwester verliebt. Richtig! Aber nur dann, wenn diese gut von einem Manne dachte. Anfangs war er höflich, demütig fast und bescheiden, strotzte von Biederkeit und Wahrheitsliebe. Als ich ihm seine Rachsucht, Bosheit, Verlogenheit und seinen Neid nachwies, tobte er längere Zeit, gab schließlich alles zu, erklärte aber, er müsse nun bei mir in der Kur bleiben, bis er gesund sei, und wenn das mehrere Jahre dauerte. Als ich ihm antwortete, er werde so lange bleiben, als ich es für gut befände, saß er einige Zeit lang sinnend da. Dann fragte er mich lächelnd: »Hat sich bei Ihnen in der Kur schon jemand das Leben genommen?« Ich antwortete ihm: »Noch nicht, aber ich bin jederzeit darauf gefaßt.3) — Dieser Patient litt unter anderem auch an Schlaflosigkeit. Er drängte auf Besprechung dieses Symptoms, mit der Erklärung, daß er schon zufrieden wäre, wenn er seinen Schlaf bekäme. Die Aufklärung ging glatt von statten und er hatte bereits längere Zeit seinen vollen Schlaf erreicht, bevor er mir davon Mitteilung machte.
Also hatte ja dieser Patient seine Charakterzüge verdrängt? Keineswegs. Sein ganzer männlicher Protest kam klar zutage, allerdings in einer Art, daß er weder nach innen noch nach außen allzu viel Anstoß erregte. Ähnlich aber schildert ja Freud das Ergebnis der mißglückten Verdrängung. Die Spuren der verdrängten Triebregungen sind in der Neurose stets deutlich zu erkennen, eine Erkenntnis, zu der Freud selbst manches beigetragen hat. Sie sind zu erkennen nicht bloß in den Phantasien des Neurotikers und in seinem Traumleben, sondern vor allem mittels der psychologischen Analyse, die uns die kleinen und großen Disharmonien und Inkongruenzen des Seelenlebens sehen lehrt und uns deren Einordnung gestattet.
Freilich ist die Arbeit noch recht unvollständig, wenn erst die Aufdeckung der neurotischen Charakterologie vorliegt. Aber sie ist wichtig vor allem, weil ihre Kenntnis den Patienten warnt. Das schwierigere Stück der Kur führt dann nach meinen Erfahrungen regelmäßig zu den zwei Durchgangspunkten der psychischen Entwicklung des Neurotikers, zu den Quellen der Neurose, dem Gefühl der Minderwertigkeit und dem männlichen Protest.
Nun die von Ihnen gewiß schon mit brennender Begier erwartete Hauptfrage: Wodurch erkrankt der Neurotiker? Wann wird seine Neurose manifest? Freud hat diesem Punkte weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Doch wissen wir, daß er eine Gelegenheitsursache annimmt, bei der die Verdrängung stärker, der alte psychische Konflikt wieder neu genährt wird. Es läßt sich nicht leugnen, daß hier Unklarheiten vorliegen. Vielleicht ist die heutige Diskussion berufen, sie zu lösen. — Nach meiner Erfahrung antwortet der neurotisch Disponierte, der eigentlich stets leidet, auf jede Erwartung oder auf jedes Gefühl der Herabsetzung mit einem akuten oder chronischen Anfall. Letzterer gibt uns den Zeitpunkt, von dem wir den Ausbruch der Neurose datieren. Wenn nun neuerlich Triebverdrängungen eintreten, so sind dies Begleiterscheinungen, die sich unter dem erhöhten Zwang des männlichen Protestes, unter dem Druck des Geltungsdranges und der Sicherungstendenzen bilden. Ich will dies an unserem Falle aus meinem letzten Vortrage demonstrieren. Unser Patient erinnert sich, zuerst beim Geigenspielen gezittert zu haben, zu einer Zeit, wo er mit einem Eheversprechen an Albertine, das von ihm scheinbar heißgeliebte Mädchen, herausrücken sollte. Er hörte deshalb auf, Violine zu spielen. Nun erfahren wir folgendes: Albertine war eine vorzügliche Klavierspielerin, weshalb er oft daran denken mußte, daß er sie gerne auf der Violine begleitet hätte, wenn er nur besser spielen gekonnt hätte. Und in der Ehe gar hätte es ein Konzert gegeben, bei dem ihm seine Frau entschieden über gewesen wäre. Solcher Art aber war die Furcht seines ganzen Lebens gewesen, eine Frau, die ihm überlegen wäre. Ich habe noch keinen Neurotiker getroffen, der nicht mindestens heimlich von dieser Furcht benagt würde. Aus der Literatur erwähne ich bloß den Fall Ganghofers, den Alexander Witt im 4. Heft des Zentralblattes für Psychoanalyse, I. Jahrgang, zum Abdruck bringt, ferner einen ganz analogen Fall aus Stendhals Erinnerungen. In beiden Fällen handelt es sich um Kindheitserinnerungen, bei denen eine Frau über das Kind wegschreitet. Phantasien von Riesinnen, Walküren, von Frauen, die Knaben binden oder schlagen, die zuweilen im Pseudomasochismus zur Ausführung gelangen, Märchen von weiblichen Unholden, Nixen. Nymphen, Frauen mit männlichen Genitalien, mit einem Fischschwanz oder ähnlich der Jugenderinnerung Leonardo da Vincis sind häufig und finden ihr gleichwertiges und gleichsinniges Gegenstück in den ebenso häufigen Geburtsphantasien, Kastrationsgedanken und Wünschen nach einer Mädchenrolle. Letzterer Wunsch erscheint oft äußerst abgeschwächt, verblaßt bis zur Frage: Was wohl ein Mädchen fühle? —
Wie Sie sich entsinnen, hatte auch unser Patient eine analoge Kindheitserinnerung, daß eine Magd sich über ihm befunden habe.4) Sie war nicht verdrängt, auch nicht vergessen, aber sie befand sich scheinbar außer allem Zusammenhang mit seinem gegenwärtigen oder früheren psychischen Zustand. Sie war all ihrer Bedeutung entkleidet worden. War sie etwa ein wirksames Agens gewesen? Niemand kann das annehmen. Aus seiner Vorgeschichte tauchen Erinnerungen an die energische Mutter auf, die als Witwe ihr großes Gut verwaltete, die ohne Mann ihr Auskommen fand, und von der die Leute sagten, sie sei wie ein Mann. Diese Mutter, die ihn verhätschelte, aber doch auch strafte, war ihm entschieden überlegen. Als dann seine Sehnsucht erwachte, daß er, das schwächliche Kind mit weiblichem Habitus, der oft verlachte und bestrafte Bettnässer, zum Manne werde, als er in Gedanken, Träumen und im trotzigen Bettnässen seinem männlichen Protest Ausdruck verlieh, kamen ihm Erinnerungen zu Hilfe wie die, daß er oft in weiblicher Kleidung Theater spielte, daß er am ersten Schultag mit seinen älteren Schwestern, an die er sich am meisten gewöhnt hatte, in die Mädchenschule lief und sich unter Tränen weigerte, zu den Knaben zu gehen. Und immer noch gab es Verschärfungen, die ihn weiter in den männlichen Protest trieben. Die Crines pubis ließen lange auf sich warten, sein Genitale schien ihm kürzer als das seiner Altersgenossen. Er steckte sein Ziel nur um so höher, wollte Hervorragendes leisten, der Erste in der Schule, im Amte werden, bis er an Albertine kam, deren Überlegenheit er fürchtete. Er hatte alle Mädchen und Frauen, seine Mutter insgesamt entwertet, aber aus Furcht. Mit den gewöhnlichen Mitteln. Sie hätten keinen Verstand, keine Selbständigkeit, seien leichtfertig. (Siehe Hamlet: »Oh, ich weiß auch mit Euren Mätzchen Bescheid. Ihr tänzelt, Ihr trippelt, Ihr gebt Gottes Kreaturen verhunzte Namen und stellt Euch aus Leichtfertigkeit unwissend. Geht mir, es hat mich toll gemacht!«) Auch hätten sie einen schlechten Geruch. — Nebenbei: Diese »Geruchskomponente«, der Freud wiederholt eine besondere Wichtigkeit als libidinöser Komponente zugeschrieben hat, erweist sich mir immer mehr als neurotischer Schwindel. Eine Patientin, 54 Jahre alt, die aus Furcht vor dem Kindergebären schwer neurotisch geworden ist, träumt gegen Ende der Kur den nicht mißzuverstehenden Traum: »Ich packe Eier aus. Alle stinken. Ich sage: Pfui, wie sie stinken.« Am nächsten Tage sollte ihr Mann kommen. Sie hat bereits alle medizinischen Kapazitäten Deutschlands und Österreichs entwertet. — Eine neurotische Schauspielerin kam auf Liebeserlebnisse zu sprechen. Sie sagt: »Ich schrecke keineswegs davor zurück. Ich bin eigentlich ganz amoralisch. Nur eins: Ich habe gefunden, daß alle Männer stinken, und dagegen kehrt sich meine Ästhetik.« Wir aber werden verstehen: Bei einer derartigen Einstellung kann man ohne Gefahr amoralisch sein. In der »Lehre vom Widerstand«5) finden Sie einige solcher Fälle zusammengestellt. — Die männlichen Neurotiker machen es ebenso. Es ist die Rache an der Frau. Europäer und Chinesen, Amerikaner und Neger, Juden und Arier werfen sich gegenseitig ihren Geruch vor. Ein vierjähriger Knabe sagt, so oft er bei der Küche vorbeigeht: »Es stinkt.« Er lebt mit der Köchin in Feindschaft. — So auch unser Patient. Wir wollen diese Erscheinung als Entwertungstendenz bezeichnen, der analog die Fabel vom Fuchs und den sauren Trauben zusammengesetzt erscheint. —
Woher stammt die Entwertungstendenz? Aus der Furcht vor einer Verletzung der eigenen Empfindlichkeit. Sie ist also gleichfalls Sicherungstendenz, eingeleitet durch den Drang nach Geltung. Und steht psychisch im gleichen Rang mit dem Wunsche, oben zu sein, sexuelle Triumphe zu feiern, zu fliegen, auf einer Leiter oder Treppe oder am Giebel eines Daches (»Baumeister Solneß») zu stehen. Fast regelmäßig findet man beim Nervösen die Tendenz, die Frau zu entwerten und mit ihr zu verkehren, eng nebeneinander. Ja, das Gefühl des Neurotikers spricht es deutlich aus: Ich will die Frau durch den Sexualverkehr entwerten, herabsetzen. Er läßt sie auch dann leicht stehen und wendet sich andern zu. Ich habe dies den Don Juancharakter des Neurotikers genannt, es ist nichts anderes als Freuds »Liebesreihe«, die er phantastisch deutet. Und die Entwertung der Frau, der Mutter sowohl wie aller Frauen, führt dazu, daß sich mancher der Neurotiker zur Dirne flüchtet, wo er sich die Arbeit der Entwertung spart und noch obendrein seine Angehörigen vor Wut platzen sieht. Der Knabe sieht oder ahnt, daß es männlich ist, oben zu sein. Zumeist ist die Mutter die Frau, der gegenüber er das Pathos der Distanz herzustellen sucht. Ihr gegenüber will er den Mann spielen, um sie zu entwerten, sich zu erhöhen. Er schimpft sie wohl auch und schlägt sie oder lacht sie aus, wird unfolgsam und störrisch gegen sie, versucht zu kommandieren usw. Ob und wieviel Libido dabei im Spiele ist, ist vollkommen gleichgültig. Auch gegen andere Mädchen und Frauen wendet sich sein männlicher Protest, zumeist in der Linie des geringsten Widerstandes auf Dienstboten und Gouvernanten. Später verfällt er auf Masturbation und Pollution, nicht ohne damit Sicherungstendenzen gegen den Dämon Weib zu verbinden. So auch unser Patient. Als er sein Ziel bei der Mutter nicht erreichen konnte, ihr Herr zu sein, wendet er sich dem Dienstmädchen zu, wo ihm dies mit 6—7 Jahren besser gelingt. Er sieht sie nackt und greift ihr unter die Röcke. Bis in die Gegenwart war diese Art der sexuellen Aggression seine hauptsächlichste Betätigung. Nur bei Prostituierten kam er zum Koitus, — bis es sich als notwendig erwies, sich zu beweisen, daß er nicht heiraten könne. Da stellten sich Pollutionen und Impotenz ein, und die Furcht vor seiner unbändigen Sexualität samt ihren vermeintlichen Gefahren der Paralyse und des Zitterns im Alter trat ihm vor die Augen. Oder besser gesagt: Zittern und Stammeln stellten sich ebenso wie Pollutionen und Impotenz ein, weil sie ihn vor einer Ehe zu sichern in der Lage waren. — Wahrscheinlich hätte er rechtzeitig abgebrochen und wäre vor der ausbrechenden Neurose bewahrt geblieben, wenn nicht ein Dritter am Plan erschienen wäre. Dies war für seinen Stolz zu viel. Nun konnte er nicht weichen und wollte doch nicht zugreifen. Seine »libidinösen« Strebungen, der Wunsch, Albertine zu besitzen, erfüllte sein ganzes Bewußtsein, aber das Unbewußte sagte ein starres Nein und drängte ihn von der Brautwerbung ab, indem es Symptome arrangierte, die gegen eine Ehe sprachen. Ganz gleichwertig im Bewußtsein ist der Gedanke: ich kann erst heiraten, wenn ich eine gute Stelle bekleide. Gleichzeitig aber stellen sich Krankheitserscheinungen ein, die eine Vorrückung im Amte unmöglich machen.
Was hat unser Patient »verdrängt«? Seinen Sexualtrieb, seine Libido etwa? Er war sich ihrer so sehr bewußt, daß er fortwährend daran dachte, sich davor zu sichern. Eine Phantasie? Kurz ausgedrückt war seine Phantasie die Frau über ihm, die Frau als die Stärkere. Es bedurfte aller meiner Vorarbeiten, um den Zusammenhang dieser und ähnlicher Phantasien und der Neurose sichtbar zu machen. Und nun stellte sich heraus, diese Phantasie ist selbst nur ein Schreckbild für den Patienten, aufgerichtet und festgehalten, um selbst auf Schleichwegen Geltung zu erhalten! Hat er libidinöse Regungen zur Mutter verdrängt? Das heißt, ist er am »Ödipuskomplex« erkrankt? Ich sehe genug Patienten, die ihren »Ödipuskomplex« genau kennen, ohne Besserung zu empfinden. Wenn man erst dem männlichen Protest darin Geltung trägt, dann kann man gerechterweise nicht mehr von einem Komplex von Phantasien und Wünschen reden, sondern wird auch den scheinbaren »Ödipuskomplex« als kleinen Teil der überstarken neurotischen Dynamik verstehen lernen, als ein an sich belangloses, im Zusammenhang allerdings lehrreiches Stadium des männlichen Protestes,7) von der aus die wichtigeren Einsichten in die Charakterologie des Neurotikers ebenfalls möglich werden.
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1) Später im Nervösen Charakter, l. c.
2) Siehe die Ausführungen über Pseudomasochismus in der ›Psychischen Behandlung der Trigeminusneuralgie‹. In: Adler, Praxis und Theorie der Individualpsychologie, l. c.
3) »Die Waffen aus der Hand schlagen«, d. h. die krankhaften Mittel des Nervösen unwirksam erscheinen zu lassen, ist das Ziel jeder psychotherapeutischen Taktik.
4) Das heißt: Die Frau ist stärker als der Mann! In den ersten Kindheitserinnerungen steckt wie in den Berufswahlphantasien immer die gestaltende Weltanschauung des Menschen, gleichgültig, ob es sich um echte, phantasierte oder rekonstruierte (Birstein) Erinnerungen handelt. Siehe Adler ›Zur Schlafstörung‹. In: Adler, Praxis und Theorie der Individualpsychologie, l.c.
5) Praxis und Theorie, l. c.
6) Siehe Adler ›Neurologische Betrachtungen zu Bergers "Eysenhardt"‹. In: Praxis und Theorie, l. c.
7) Als eine symbolisch aufzufassende Situation.