Das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes


(1908)

 

Das Studium nervöser Kinder und Erwachsener hat in den letzten Jahren die fruchtbarsten Aufschlüsse über das Seelenleben zutage gefördert. Nachdem erst die wichtig scheinende Vorfrage erledigt war, ob das Seelenleben gesunder und nervöser Personen qualitativ verschieden sei — eine Frage, die heute dahin beantwortet werden muß, daß die psychischen Phänomene beider auf die gleichen Grundlagen zurückzuführen sind 1) —, konnte getrost der Versuch unternommen werden, die individual­psychologischen Ergebnisse bei nervösen Menschen an dem »normalen« Seelenleben zu messen. Da zeigt sich nun in gleicher Weise die grundlegende Bedeutung des Trieblebens für Aufbau und Zusammensetzung der Psyche sowie der große Anteil des Unbewußten am Denken und Handeln, der Zusammenhang des Organischen mit der Psyche, die scheinbare Kontinuität und Vererbbarkeit von Charakteranlagen, die volle Deutbarkeit des Traumlebens und seine Bedeutung, der große Anteil des Sexualtriebs und seiner Umwandlungen an den persönlichen Beziehungen und an der Kultur des Kindes, vor allem aber die Tatsachen des Gemeinschaftsgefühls und des Machtstrebens als jener Faktoren, die das Schicksal eines Menschen in erster Linie bestimmen.

Unter den äußerlich wahrnehmbaren psychischen Phänomenen im Kindesleben macht sich das Zärtlichkeitsbedürfnis ziemlich früh bemerkbar. Man hat darunter durchaus kein umgrenztes psychisches Gebilde zu verstehen, das etwa in der psychomotorischen Gehirnsphäre lokalisiert wäre. Sondern wir nehmen darin den Abglanz von mehrfachen Regungen des Gemeinschaftsgefühls, von offenen und unbewußten Wünschen wahr, Äußerungen von Instinkten, die sich stellenweise zu Bewußtseinsintensitäten verdichten. Abgespaltene Komponenten des Tasttriebs, des Schautriebs, des Hörtriebs, der Sexualität liefern in eigenartiger Verschränkung das auszuwählende Material. Das Ziel liegt in der befriedigenden Stellungnahme des Kindes zu seiner Umwelt. Und der erste unserer Schlüsse darf lauten: ein starkes Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes läßt unter sonst gleichen Umständen ein starkes Gemeinschaftsgefühl, aber auch ein starkes Machtstreben vermuten. — In der Regel — und vernünftigerweise — ist eine Befriedigung des Begehrens nach Zärtlichkeit nicht ganz umsonst zu erlangen. Und so wird das Zärtlichkeitsbedürfnis zum Hebel der Erziehung. Eine Umarmung, ein Kuß, eine freundliche Miene, ein liebevoll tönendes Wort sind nur zu erzielen, wenn sich das Kind dem Erzieher unterwirft, also auf dem Umweg über die Kultur. In gleicher Weise wie von den Eltern ersehnt das Kind Befriedigung vom Lehrer, später von der Gesellschaft. Das Zärtlichkeitsbedürfnis ist somit ein wesentlicher Bestandteil der sozialen Gefühle geworden. Die Stärke der Zärtlichkeitsregungen, der psychische Apparat, den das Kind in Szene setzen kann, um zur Befriedigung zu gelangen, und die Art, wie es die Unbefriedigung erträgt, machen einen wesentlichen Teil des kindlichen Charakters aus. — Die ursprünglichen Äußerungen des Zärtlichkeitsbedürfnisses sind auffällig genug und hinlänglich bekannt. Die Kinder wollen gehätschelt, geliebkost, gelobt werden, sie haben eine Neigung sich anzuschmiegen, halten sich stets in der Nähe geliebter Personen auf, wollen ins Bett genommen werden usw. Später geht das Begehren auf liebevolle Beziehung, aus der Verwandtenliebe, Freundschaft, speziellere Gemeinschaftsgefühle und Liebe stammen, je nach den Verlockungen, denen das Kind bei der Verfolgung seines Machtstrebens ausgesetzt war.

Begreiflicherweise hängt von einer richtigen Führung dieses Gefühlskomplexes ein großer Teil der Entwicklung ab. Und es ist bei dieser Betrachtung recht deutlich zu sehen, wie eine Teilbefriedigung des Trieblebens ein unerläßlicher Faktor der Kultur wird, ebenso wie der verbleibende unbefriedigte Triebkomplex den ewigen, immanenten Antrieb zu einer fortschrittlichen Kultur abgibt. Auch die fehlerhaften Richtungen, auf die das Zärtlichkeitsbedürfnis geraten kann, sind leicht zu ersehen. Der Impuls soll, ehe er zur Befriedigung gelangt, zum Umwege verhalten werden, er soll die Kultur des Kindes treiben. Dadurch werden Weg und Ziel des Zärtlichkeitsbedürfnisses auf eine höhere Stufe gehoben und die abgeleiteten, geläuterten Gemeinschaftsgefühle erwachen in der Seele des Kindes, sobald das Ziel Ersatzbildungen zuläßt, sobald an die Stelle des Vaters etwa der Lehrer, der Freund, der Kampfgenosse treten kann. Damit muß sich die Ausdauer der Triebregung, die Toleranz für die Spannung eng verknüpfen. Die Entbehrung der Befriedigung soll nicht das psychische Gleichgewicht vernichten, soll nur die Energie wachrufen und die kulturelle Aggressionsstellung erzeugen. Bleibt dem Kinde der Umweg über die Kultur erspart, erlangt es nur Befriedigung primitiver Art, und diese ohne Verzögerung, so bleiben seine Wünsche stets auf sofortige, sinnliche Lust gerichtet. Seine Triebe zeigen sich dauernd ungezähmt, unerzogen. Dabei kommt ihm vielfach die Neigung der Eltern entgegen, deren Freude es sein mag, sich von sinnlos hätschelnden, kosenden Kindern umgeben zu sehen, folgend den Erinnerungsspuren ihrer eigenen Kindheit. — Bei derart erzogenen Kindern wird stets eine der ursprünglichen Formen der Befriedigung auffallend bevorzugt erscheinen. Auch die Entwicklung von Selbständigkeit, Initiative und Selbstzucht leidet Mangel. Der Idealzustand bleibt Anlehnung und Abhängigkeit von einer der geliebten Personen, Entwicklungshemmungen, die mit einer ganzen Schar abgeleiteter Charakterzüge das weitere Lebensbild beherrschen. Bald wird Schreck­haftigkeit, Neigung zur Angst auffällig, als Zeichen der mangelnden Verwachsenheit mit dem Leben, die sich in die Gedankenwelt und ins Traumleben fortsetzen. Weibische Züge im schlechten Sinne bekommen die Oberhand, und im extremen Falle baut sich die Psyche in falscher Richtung so weit vor, bis der mutlose, masochistische, nervöse Charakter erreicht ist, der die Unversöhnlichkeit mit dem Leben verrät.

Den Gegensatz liefert eine Erziehung, welche dem Zärtlichkeitsbedürfnis auch die kulturellen Befriedigungen entzieht und das Kind mit seiner Sehnsucht nach Liebe allein läßt. Von allen Objekten der Zärtlichkeit abgeschnitten, besitzt das Kind nur die eigene Person als Ziel seiner Sehnsucht, die Sozialgefühle bleiben rudimentär, und Befriedigungs­tendenzen erhalten die Oberhand, die Eigenliebe in jeder Form zum Inhalte haben. Oder das Kind gerät in die Angriffsstellung. Jeder unbefriedigte Trieb richtet den Organismus schließlich derart, daß er sich in Aggression zur Umgebung stellt. Die rauhen Charaktere, die zügellosen, unerziehbaren Kinder können uns darüber belehren, wie der dauernd unbefriedigte Zärtlichkeitstrieb die Aggressionsbahnen in Erregung bringt. Das Verständnis für den jugendlichen Verbrecher wird, meinen wir, durch diese Betrachtung wesentlich gefördert. Aber nicht immer geht die Reaktion bis zur Wirkung auf die Außenwelt. Die Aggressionsneigung kann eine Hemmung erleiden, die ursprünglich wohl im Sinne und unter dem Druck der Kultur einsetzt, später aber weitergreift und auch die kulturelle Aggression — Betätigung, Studium, Kulturbestrebungen — unmöglich machen, indem sie sie durch »des Zweifels Blässe« ersetzt. Auch bei dieser Entwicklungsanomalie finden wir an Stelle der Triebbefriedigung oder der kulturellen Aggression Verdrossenheit, Mangel an Selbstvertrauen und Angst als den Ausdruck der schlecht gelungenen Stellungnahme zu den Fragen des Lehrers, als Zeichen eines mangelhaften Gemeinschaftsgefühls. Daß viele dieser Kinder später der Neurose verfallen, darf uns nicht wundernehmen, ebensowenig, daß viele von ihnen als Charaktertypen oder eigenartige Individualitäten, zuweilen mit genialen Zügen ausgestattet, durchs Leben wandeln.

Hier schließt sich eine große Zahl pädagogischer Betrachtungen an. Mag jeder Erzieher daran prüfen und weiterarbeiten Nur hüte er sich, seine eigenen Wünsche und Gefühle in die Beweisführung hineinzutragen, wie es unmerklich zu geschehen pflegt, wenn man eine Materie bearbeitet, zu der uns eigene Erinnerungsspuren hinüberleiten. Und man bedenke, daß die Natur nicht engherzig vorgeht. Es wäre ein Jammer, wenn jeder Erziehungsfehler seine Folgen hätte. Für die Norm aber muß die Behauptung gelten: das Zärtlichkeitsbedürfnis des Kindes soll nicht zum Spiel allein, sondern vor allem mit kulturellem. Nutzeffekt befriedigt werden; und man sperre dem Kinde nicht die Zugänge zur Befriedigung seiner Zärtlichkeit, wenn es sie auf kulturellen Bahnen erreichen kann, denn sein Zärtlichkeitstrieb wurzelt im organischen Boden des Gemeinschaftsgefühls und zielt auf Selbstbehauptung.

Aber nicht nur die realen Mängel bei der Befriedigung des Zärtlichkeits­bedürfnisses kommen in erster Linie in Betracht. Bedeutsamer sind die subjektiven Voraussetzungen des Kindes von dem ihm gebührenden oder fehlenden Maß. Kennt man diesen wesentlichen Faktor, der die unbegrenzten Fehlerquellen des menschlichen Verstandes umfaßt, alle seine Irrtums­möglichkeiten, so findet man, daß die Verlockung zu einem besonders hohen Ausmaß des Zärtlichkeitsbedürfnisses und -verlangens aus einem Mangel wie auch aus einem Übermaß der Befriedigung entstammen kann. Die unversöhnliche Stellungnahme zu den Menschen kommt dann auf die gleicht Weise zustande wie bei den Kindern mit angeborenen Organminderwertigkeiten.

 

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1) Adler, Über den nervösen Charakter, l. c. und Praxis und Theorie der Individualpsychologie, l. c.


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