<Johann Peter Hebel. 3>
Wenn Sie, meine Verehrtesten, Zeitung lesen, ist es Ihnen vielleicht schon einmal passiert, über einer besonders eindrücklichen oder abenteuerlichen Notiz, dem Bericht von einer Feuersbrunst etwa, oder von einem Raubmord, zu stutzen. Und wenn Sie dann versuchten, sich die Sache näher vorzustellen, dann haben Sie ohne Zweifel, ob Sie es nun gemerkt haben oder nicht, etwas sehr Seltsames vorgenommen. Sie haben nämlich eine Art von Photomontage gemacht, indem Sie unvermerkt in den Schauplatz, der Ihnen vorschwebte – die Sache ist vielleicht in Goldap oder in Tilsit passiert und Sie kennen die Stadt gar nicht – Elemente von einem Ihnen vertrauten Schauplatz – und zwar gleich den bestimmten, also nicht Frankfurt sondern gleich Ihr Haus oder Ihre Stube in Frankfurt – einfließen ließen. Haus oder Stube, die nun auf einmal scheinbar nach Tilsit oder Goldap entrückt waren. In Wirklichkeit aber geschah da das Gegenteil; Tilsit oder Goldap waren in Ihre Stube entrückt. Und Sie sind noch einen Schritt weiter gegangen. Nachdem Sie das .»Hier« erwirkt hatten, schritten Sie an die Realisierung des » Jetzt«. Die Nachricht war vielleicht vom I I. September und Sie lasen Sie erst am 15. Wenn Sie die Sache nun aber erfassen, mitmachen wollten, dann versetzten nicht Sie sich um vier Tage zurück sondern Sie stellten, im Gegenteil, sich vor: jetzt tritt das, in diesem Augenblick, ein und in meiner Stube. Sie haben dem abstrakten, beliebigen Sensationsfall mit einem Mal ein »Hier und Jetzt« gegeben. Sie haben ihn konkret werden lassen und es ist unberechenbar, wohin Sie das führen kann.
Noch unberechenbarer aber wäre die Wirkung, wenn es einem gelänge, nicht beliebige Sensationsgeschichten sondern aufschlußreiche und gewichtige Vorfälle mit dieser Evidenz des Hier und Jetzt auszustatten. Und nun gar, wenn dieses Jetzt ein historisch bedeutendes, dieses Hier ein blühendes und erfülltes wäre! Denken wir alle diese Prämissen auf das Vollkommenste erfüllt, so haben wir die Prosadichtung von Johann Peter Hebel. Alle Beschäftigung mit diesem großen und nie genug geschätzten Meister läuft darauf hinaus, ihn als diesen Vergegenwärtiger ohnegleichen uns selber gegenwärtig zu machen. – Vergegenwärtiger nur freilich nicht von Räubergeschichten, Familiendramen, Schiffbrüchen oder Wildwestsachen (obwohl unter anderm auch das) sondern der höchsten Kräfte seiner Landschaft und seiner Zeit. Damit ist nun schon ausgesprochen, daß dieses schlichteste und bescheidenste Werk (das den Philologen noch immer so recht den Typus jener »Volkskunst« darstellt, unter der sie in Wahrheit Armenschriftstellerei verstehen), daß dieses Werk, sage ich, kraft tausend unsichtbarer kleiner Schwingen sich über einem großen Abgrund schwebend hält. Dem Abgrund zwischen Hebels Zeit und seiner Landschaft. Zeitgenosse der großen französischen Revolution, von allen Geisteskräften der Epoche auf das Entschiedenste und Radikalste ergriffen, ist er doch immer der süddeutsche Kleinstädter geblieben, der als eingezogener Junggeselle und als Hofprediger des Großherzogs von Baden in den eingeschränktesten Verhältnissen nicht nur zu leben sondern sie zu vertreten hatte. Daß Hebel nicht imstande war, Großes, Wichtiges anders zu sagen und zu denken als uneigentlich – diese Stärke seiner Geschichten macht in seinem Leben das Planlose, Schwache. Sind doch selbst die Beiträge zum Kalender des Rheinländischen Hausfreundes aus äußerer Nötigung entstanden, über die er viel murrte. Das hat ihn aber nicht gehindert, für Großes und Kleines den rechten Sinn zu behalten, und wenn er auch niemals anders als im Tiefsten verschränkt und verschachtelt bei des zugleich hat aussprechen können, so war sein Realismus darin immer stark genug, vor jenem Mystizismus des Kleinen und Kleinlichen ihn zu behüten, der manchmal Stifters Gefahr wurde.
Was ihn vor dem Mystizismus bewahrte, das war eben seine theologische Schulung. Sie bekundet sich in seinem gesamten Werke; es ist erbaulich von Grund auf; dabei von einer Weltund Geistesweite wie wohl kein zweites der Gattung seit dem Ende des Mittelalters. Denn woran erbaut sich Hebel? An der Aufklärung und der großen Revolution. Nicht an ihren sogenannten Ideen sondern an ihren Situationen und Typen, dem Weltbürger, dem aufgeklärten Abbe, dem Strolch und dem Philanthropen. Wie theologische und weltbürgerliche Haltung sich hier durchdringen, das ist das Geheimnis der unvergleichlichen Konkretion, die der Kern seines Schaffens ist. Die Gegenwart seiner Geschöpfe z. B. sind nicht die Jahre 1760-1826 (in denen sein eignes Leben verfloß), die Zeit, in der sie leben, ist in Jahreszahlen nicht numeriert. Weil nämlich Theologie Geschichte immer in Generationen denkt, so sieht auch Hebel im Tun und Lassen seiner kleinen Leute die Generationen in all den Krisen sich herumschlagen, die mit der Revolution von 89 zum Ausbruch kamen. Das Leben und Sterben ganzer Geschlechter schlägt im Rhythmus der Sätze, welche im »Unverhofften Wiedersehen« den Zeitraum der fünfzig Jahre erfüllen, in denen die Braut um ihren verunglückten Liebsten, den Bergmann, trauert. »Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstört, und der siebenjährige Krieg ging vorüber, und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuiten-Orden wurde aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, und der Struensee wurde hingerichtet, Amerika wurde frei, und die vereinigte französische und spanische Macht konnte Gibraliar nicht erobern. Die Türken schlossen den General Stein in der Veteran er Höhle in Ungarn ein, und der Kaiser Joseph starb auch. Der König Gustav von Schweden eroberte russisch Finnland, und die französische Revolution und der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold der Zweite ging auch ins Grab. Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt. Als aber die Bergleute in Falun im Jahr 1809 ... « – wenn er so den Verlauf von 50 Trauerjahren darstellt, so ist das fast selbst eine Klage, aber über den Weltlauf, wie manchmal mittelalterliche Chronisten sie ihren Büchern voranstellten. Denn das ist in der Tat nicht die Gesinnung des Historikers, die uns aus diesen Sätzen entgegentritt sondern die des Chronisten. Der Historiker hält sich an »Weltgeschichte«, der Chronist an den Weltlauf. Der eine hat es mit dem nach Ursache und Wirkung unabsehbar verknoteten Netz des Geschehens zu tun – und alles was er studierte oder erfuhr, ist in diesem Netz nur ein winziger Knotenpunkt; der andere mit dem kleinen, eng begrenzten Geschehn seiner Stadt oder Landschaft – aber das ist ihm nicht Bruchteil oder Element des Universalen sondern anderes und mehr. Denn der echte Chronist schreibt mit semer Chronik zugleich dem Weltlauf sein Gleichnis nieder. Es ist das alte Verhältnis von Mikround Makrokosmos, das sich in Stadtgeschichte und Weltlauf spiegelt.
Wenn Hebel eine seiner Geschichten beginnt: »Bekanntlich klagte einst ein alter Schulz von Wasseinheim seiner Frau, daß ihn sein Französisch fast unter den Boden bringe«, so schwingen in diesem einen »bekanntlich« alle Korrespondenzen von Weltlauf und Stadtklatsch ironisch mit. Gleicherweise ironisch, gleich fern von provinzieller Süffisanz ist die Enge seiner badischen Schauplätze, denn von dem Hebelschen Erdkreis, in dessen Mitte Segringen, Brassenheim, Tuttlingen liegen, bilden Moskau und Amsterdam, Jerusalem und Mailand den Horizont. So steht es um alle echte, unreflektierte Volkskunst: sie spricht Exotisches, Monströses mit der gleichen Liebe, in gleicher Zunge aus wie die Angelegenheiten des eigenen Hauswesens. Daher das kräftige »Hier« seiner Schauplätze. Das schauend aufgerissene Auge dieses Geistlichen und Philanthropen bezieht sogar das Weltgebäude selber der dörflichen Ökonomik noch ein und Hebel handelt von Planeten, Monden und Kometen nicht als Magister sondern als Chronist. Da heißt es etwa von dem Mond (der nun auf einmal als Landschaft wie auf einem berühmten Bild von Chagall vor einem steht): »Der Tag dauert dort an einem Ort so lange als ungefähr 2 von unsern Wochen und eben so lang die Nacht, und ein Nachtwächter muß sich schon sehr in Acht nehmen, daß er in den Stunden nicht irre wird, wenn es anfängt 223 zu schlagen oder 309.«
Daß dieses Mannes Lieblingsschriftsteller Jean Paul war, fällt nach solchen Sätzen nicht schwer zu erraten. Versteht sich, daß solche Männer – zarte Empiriker nach Goethes Wort, weil ihnen alles Faktische schon Theorie, zumal jedoch das anekdotische, das kriminelle, das possierliche, das lokale Faktum als solches schon moralisches Theorem war – einen höchst sprunghaften, skurrilen, unableitbaren Kontakt mit der ganzen Breite des Wirklichen hatten. Jean Paul empfiehlt für Säuglinge in der »Levana« Branntwein und verlangt, daß sie Bier kriegen. Viel unanfechtbarer aber stellt Hebel Verbrechen, Gaunereien, Bubenstreiche in das Anschauungsmaterial seiner Volkskalender ein. Zugleich aber lebt in seinen Halunken und Lumpen Voltaire, Condorcet, Diderot nach und die unsagbar schnöde Verständigkeit seiner Juden hat vom Talmud nicht mehr als von dem Geist des etwas späteren Vorläufers der Sozialisten, Moses Heß. Zahlreiche Spitzbuben geschichten hat Hebel aus älteren Quellen geschöpft; aber das Gauner- und Vagantentemperament des Zundelfrieders und des Heiners und des roten Dieters ist sein eigenes gewesen. Als Junge war er für seine Streiche berüchtigt, und vom erwachsenen Hebel erzählt man, Gall, der berühmte Begründer der Phrenologie, sei einmal ins Badische gekommen. Da habe man auch Hebel ihm präsentiert und ihn um ein Gutachten gebeten. Aber unter undeutlichem Gemurmel habe Gall beim Befühlen nichts als die Worte »ungemein stark ausgebildet« vernehmen lassen. Und Hebel selber, fragend: »Das Diebsorgan?«
Wieviel Dämonisches in diesem Hebelschen Schwank wesen umgeht, hat niemand besser begriffen als Dambacher, der 1842 einer Ausgabe der »Schwänke des rheinischen Hausfreundes« seine Lithographien beigab. Diese ungemein starken Illustrationen sind gleichsam Zinken auf dem Pasch- und Schleichwege, auf dem die sonnigeren Halunken von Hebel Verkehr mit den düsteren schrecklichen Kleinbürgern des Büchnerschen »Wozzeck« treiben. Denn dieser Pastor, der das Handeln zu schildern verstand wie keiner unter den deutschen Schriftstellern sonst und alle Register vom niedrigsten Schacher bis zur schenkenden Großmut zu ziehen wußte, war nicht der Mann, das Dämonische im bürgerlichen Erwerbsleben zu übersehen. Er mag es mit der herrschenden Klasse in ihren besten Vertretern, kaufmännisch solidestem Kleinbürgertum gehalten haben; eben darum wollte er die rechte, die alleinseligmachende Buchführung ihm beibringen. Doppelte Buchführung, und sie stimmt immer: Haben, der bäurische, der bürgerliche Alltag, Besitz der zinstragenden Minuten, das eingezahlte Kapital von Arbeit und Schlauheit. Und das Soll: die Moral. Die geschäftliche, die private, die des Generals und des Hausvaters, des Diebes und der Bestohlnen, des Siegers und des Besiegten. Es ist keine Situation so hoffnungslos und verworfen, daß sich's die Tugend verdrießen ließe, in ihr Fuß zu fassen, aber sie darf um Verkleidungen nicht verlegen sein. Darum entspringt hier die Moral nie an der Stelle, wo man nach Konventionen sie erwartet. Jeder weiß, wie der Barbierjunge von Segringen es sich getraut, dem »Fremden von der Armee« den Bart zu scheren, weil doch kein anderer den Mut hat. »Wenn Ihr mich aber schneidet, so stech ich Euch tot.« Und der dann am Schluß: »Gnädiger Herr, Ihr hättet mich nicht erstochen, sondern, wenn Ihr gezuckt hättet, und ich hätt' Euch in's Gesicht geschnitten, so wär ich Euch zuvorgekommen, hätt' Euch augenblicklich die Gurgel abgehauen und wäre auf und davon gesprungen.« So sind Hebels Geschichten. Sie haben alle einen doppelten Boden. Ist oben Mord und Totschlag, Stehlen und Fluchen, so liegen Geduld, Klugheit und Menschlichkeit unten.
Auf solche Weise macht Hebel die Moral, die beim durchschnittlichen Geschichtenschreiber ein Fremdkörper ist, zur Fortsetzung der Epik mit andern Mitteln. Und indem er das Ethos in Fragen des Taktes auflöst, wird die Konkretion gerade hier am energischsten. Das Jetzt und Hier der Tugend ist für ihn kein abgezognes Handeln nach Maximen sondern Geistesgegenwart. Moralisch – so hätte Hebel es definiert – ist ein Handeln, dessen Maxime verborgen ist. Nicht verheimlicht oder versteckt wie Diebsgut sondern verborgen wie Gold in der Erde. Seine Moral ist also gebunden an Situationen, in welchen sie die Leute erst entdecken. Und damit gleicht sie der Frömmigkeit, die auch niemals abstrakt werden kann sondern das ganze Leben in Situationen aufteilt, welche ihr dienen. Die Votivbilder bayrischer oder süditalienischer Kirchen sind voll solcher kritischen Situationen, die sich dem Frommen unauslöschlich eingeprägt haben. Unten das irdische Elend und die Gefahr, oben in Wolken thronend die Madonna. So auch bei Hebel. Unten geschieht, wenn man will, das Hausbackene, Regelrechte, das Klare und Richtige. Oben aber schwebt dennoch, auf übernatürliche Art, gleich der Madonna, die französische Revolutionsgottheit von der Decke. Und darum sind seine Geschichten so unvergänglich. Sie sind die Votivgemälde, welche die Aufklärung in den Tempel der Göttin der Vernunft gestiftet hat.