Karussell der Berufe
Versetzen Sie sich, meine Damen und Herren, in die Lage eines Vierzehnjährigen, den die Volksschule eben entlassen hat und der nun vor der Berufswahl steht. Denken Sie an die meist schemenhaften, flüchtigen Bilder der Berufe, die ihm vorschweben, an die Unmöglichkeit, ohne kostspielige Erfahrung einen genaueren Einblick in sie zu bekommen, an die vielen Überlegungen, die eine wohl erwogene Entscheidung beeinflussen müßten und von denen er nur die wenigsten anstellen kann: die Konjunktur im einzelnen Erwerbszweig, die gesundheitlichen Erfordernisse oder Gefahren, die besondere Natur der Berufskollegen, die Aufstiegsmöglichkeiten usw. Liegt da nicht wirklich das Bild eines Karussells nahe, eines Berufskarussells, das an dem sprungbereiten Kandidaten mit einer Schnelligkeit vorübersaust, die es ihm unmöglich macht, die einzelnen Plätze, die es ihm bietet, zu studieren? Sie wissen ferner, wie schwerwiegend und beklemmend gerade neuerdings alle Fragen der Berufswahl durch die Arbeitslosigkeit in Europa geworden sind. Wo früher allenfalls die Frage der Eignung, die Aussicht, Höchstleistungen in diesem oder jenem Fach hervorzubringen, den Entschluß eines jungen Menschen leiten konnten, steht heute im Vordergrunde die Aufgabe, einen Platz zu ergattern, auf dem das Risiko, abzugleiten – die Gefahr, aus dem Produktionsprozeß ausgesteuert zu werden, um dann vielleicht nie wieder Anschluß zu gewinnen – möglichst gering ist. Denn die schlichte Parole: »The right man in the right place«, der rechte Mann am rechten Platz, die man noch heute oft hört, entstammt eigentlich idyllischeren Zeiten des Erwerbslebens, und zwar, was ihre offizielle Anerkennung angeht, eigentlich aus der Zeit der Demobilmachung. Damals handelte es sich darum, 15- bis 17jährige Lehrlinge, die in Munitionsfabriken M. 80,- bis M. 90,- die Woche verdienten, einem regulären Beruf zuzuführen. Der Demobilmachungskommissar förderte aus diesem Grund die Berufsberatung. Aber die damals ausgegebene Parole hat heute eine ganz andere Bedeutung. Der beste Platz ist heute für jeden der, auf dem er die Chance hat, sich behaupten zu können.
Auch die Stellung des gelernten Arbeiters hat sich in diesem Sinn verändert. Er kann in sehr vielen Fällen nicht damit rechnen, bei seinem Beruf zu bleiben. Aber die Aussichten, sich in einem neuen schnell einzupassen, sind bei ihm größer als beim ungelernten Arbeiter. Wir haben das Wort Berufsberatung fallenlassen. Darüber haben Sie gerade im Südwestdeutschen Rundfunk sich, wie ich höre, mehrfach von berufener Seite unterrichten lassen. Viele von Ihnen werden Einblick in das große System der Tests, die vielfältigen Methoden ihrer Auswertung, in das gewaltige Laboratorium, das eine neue Wissenschaft: die Wissenschaft von der Arbeit, gerade in Deutschland sich in kurzer Zeit erstellt hat, bekommen haben. Freilich, was Ihnen am geläufigsten sein wird, der Gedanke der Leistungsprüfung, werden wir heute am wenigsten berühren. Wie wir Berufsberatung überhaupt nur zu streifen haben. Die Arbeitswissenschaft hat ja zwei Seiten: auf der einen studiert sie den Einzelmenschen, ermittelt, zu welchem Beruf er sich am besten schickt; auf der anderen aber geht sie an den Beruf selbst heran und stellt fest: welchen verborgenen und darum stärksten Trieben im Menschen kommen die einzelnen Berufe am besten entgegen? Vor allem aber: wie formt und wie verwandelt der Beruf – nicht nur die Arbeitsleistung selber, sondern das Milieu, in dem sie sich abspielt, die Übertragung der Berufsgewohnheiten auf das häusliche Leben und die Eigenart der Berufskollegen –, wie verwandelt und formt das alles den Menschen?
Wie wirkt der Beruf auf den Menschen ein und wodurch? Das ist die Frage, auf die ich heute nicht nur Ihre Aufmerksamkeit lenken, sondern für die ich Ihre Mitarbeit erbitten möchte. Die folgenden Ausführungen werden Ihnen hoffentlich den Sinn der Bitte, die durch mich der Rundfunk hiermit an Sie richtet, vollkommen deutlich machen. Die Bitte: Mitteilungen jeder Art ihm zukommen zu lassen, in denen Sie den Einfluß Ihres eigenen Berufs auf Ihre Stimmung, Ihre Anschauung, Ihr Verhältnis zu Ihren Mitarbeitern, so wie es Ihnen erscheint, wenn Sie in Gedanken den Menschen, der Sie waren, als Sie den Beruf ergriffen, und den, zu dem Sie im Beruf geworden sind, vergleichen. Es wäre möglich, daß Sie solche Betrachtungen lieber oder leichter an Berufskollegen als an sich selbst anstellten. Dergleichen Mitteilungen sind uns genauso willkommen. Das Material, mit dem Sie uns unterstützen, werden wir in einern zweiten Referat sichten und die Schlüsse, die sich daraus ergeben, Ihnen unterbreiten.
Wie wirkt der Beruf auf den Menschen ein und wodurch? Sie wissen, praktisch ist diese Frage vor Jahrhunderten schon einmal gelöst worden. Das war in den Zünften, die mit vollem Bewußtsein das gesamte Leben ihrer Angehörigen bis in die privatesten Angelegenheiten hinein bewußt den Notwendigkeiten und Formen des Arbeitsprozesses unterstellten. Seitdem im 19. Jahrhundert aber die letzten Reste des Zunftwesens verschwunden sind, haben diese Fragen, die von so großer Wichtigkeit für das Leben jedes einzelnen Menschen sind, lange unbeachtet gelegen. In der letzten Zeit ist durch die entscheidenden Fortschritte in der Arbeitswissenschaft das anders geworden, und der unbemeisterte, unerleuchtete Alltag des Berufslebens wird von neuem der Kontrolle des menschlichen Kulturwillens unterworfen. Von diesen drei Fortschritten brachte den ersten die Soziologie in Gestalt einer Untersuchung des sozialen Aufbaus der Berufe; den zweiten die Psychologie in Gestalt der Untersuchung der sogenannten Berufsatmosphäre, endlich den dritten die neue amerikanische Bewegung des Behaviorismus. Dieser letzte befremdliche Begriff verlangt Erklärung. To behave heißt »sich verhalten«. Der bedeutendste Vertreter dieser neuen Wissenschaft vom Sichverhalten, Watson – ein Teil seiner Werke ist übersetzt in der Deutschen Verlagsanstalt, Stuttgart; erschienen –, macht zum Grundstein der gesamten Menschenkunde das gewohnheitsmäßige Verhalten der Menschen. Es ist klar, warum diese Betrachtungsweise die Arbeits- und Berufswissenschaft auf eine neue, sehr erweiterte Grundlage stellt. In welchem Lebensraum bilden sich Gewohnheiten leichter, wo sind sie lebenstüchtiger, wo erfassen sie ganze Gruppen tiefer als bei der Arbeit? Von Haus aus steht dieser Behaviorismus in einem gewissen Gegensatz zu der Individual-Psychologie, die das Verhalten des einzelnen im wesentlichen aus dessen Anlagen zu verstehen sucht. Dem Behaviorismus dagegen ist die Anlage wichtig nur in der Richtung auf ihre Formbarkeit. Wie ihre Dispositionen mit den tief umformenden, tief eingreifenden Wirkungen des Arbeitsprozesses zusammengehen, dafür interessiert sich der Behaviorismus.
Wir bekamen soeben ein Buch in die Hand, das ein wichtiges und erfreuliches Symptom dafür ist, daß die Bedeutung der Berufswissenschaft allerorten erkannt wird. Das ist die im Bibliographischen Institut in Leipzig erschienene »Deutsche Berufskunde«. Von der Größe der Anlage dieses Werkes, an dem eine Anzahl von Spezialisten gearbeitet haben, machen Sie sich einen Begriff, indem Sie sich sagen, daß es alle deutschen Berufe in ihren unabsehbaren Spezialisierungen überblickt. Von seiner Lebendigkeit aber am besten durch eine Probe. Ich greife sie nicht willkürlich heraus. Es ist den neu esten Versuchen auf diesem Gebiet gemeinsam, die Haltung der einzelnen Berufe in Gebärde, Neigung, Fähigkeit, unabhängig und losgelöst vom Arbeitsmaterial zu erfassen und so gewissermaßen die Probe aufs Exempel zu machen: Menschentypen darzustellen, die sich gewisse Berufe, wenn sie nicht existierten, erfinden müßten. So gebe ich Ihnen aus der »Deutschen Berufskunde« die Schilderung eines Schusters, der eigentlich ein Journalist ist. Der Verfasser der folgenden Seiten heißt Peter Suhrkamp.
»Die besondere Art des journalistischen Menschen läßt sich dort feststellen, wo dieser Mensch noch ohne Berührung mit der Zeitung lebt. Man kann solche Menschen heute auf Dörfern, wo keine Zeitungen erscheinen, noch antreffen. In meiner Heimat gab es einen Schuhmacher; aber was man am wenigsten von ihm verlangen konnte, war, daß er Schuhe machte. Er konnte nicht in seiner Werkstatt bleiben. Statt dessen war er unterwegs und arbeitete, wo sich eine Gelegenheit dazu bot, irgend etwas. Er reinigte und reparierte Uhren. Und wenn auf einem Hofe ein Stück Vieh oder ein Kind krank war, kam er. War die Dreschmaschine auf einem Hof in Unordnung, war er da. Man holte ihn nicht (weil man nicht mit ihm rechnete), aber er war überall, wo etwas geschehen, wo ›etwas los‹ war, als hätte er Witterung dafür gehabt. Er kam wie zufällig daher, stand eine Weile da und schwatzte und packte dann zu. Und er konnte in jeder Sache helfen, es gab kein Ding, das er nicht in Ordnung gebracht hätte. Dinge, von denen er keine Kenntnisse haben konnte – die Mähmaschinen z. B. waren damals ganz neu – richtete er; er hatte von Maschinen durch bloßes Anschauen nach kurzer Zeit eine bessere Kenntnis, als der Schmied. Als ich ihn kurz vor dem Kriege zuletzt traf, überflog ein Aeroplan das Dorf. Er schüttelte den Kopf und meinte: ›Das Ding ist nicht richtig. Mit dem Motor ist das niemals richtig, das sieht man doch.‹ Er wollte mir dann erklären, daß es Vögel gibt, die nicht fliegen können, die falsch fliegen, z. B. Spatzen. Er galt im Dorf als Trinker, obgleich er nie betrunken war, denn man traf ihn in jedem der drei Dorfwirtshäuser; man sah ihn dort im Disput mit dem Lehrer oder einem Reisenden noch spät in der Nacht. Ich werde nie einen Regentag vergessen, an dem wir miteinander, in einen Heuhaufen gedrückt, auf Aufklärung des Wetters warteten und er mir, dem Jungen, seine Theorie über das Sternen weltall entwickelte; sie war schön wie ein Märchen. Man erzählte von ihm, daß er auch den Pfarrer besuchte und mit ihm stritt. Sein Ruf war nicht gut. Er hatte seine Ehrentage, gewiß! Wenn ihm etwas gelungen war, was die Fachleute nicht fertiggebracht hatten (übrigens ließ er sich eine Arbeit nie bezahlen, und er lebte, wie man sich danach denken kann, in schlechten Verhältnissen), dann verstand er es, eine Feier daraus zu machen, an der möglichst viele teilnehmen mußten; er saß dann im Kreis und erzählte unermüdlich. Aber allgemein war er wenig geachtet. Man bezeichnete ihn uns Kindern als Tagedieb. (Unsere Eltern waren Menschen mit Bismarcks Moral.) Wenn der Schuster aber kam, war man freundlich; man fürchtete ihn wegen seiner witzig boshaften Bemerkungen und wegen der kleinen Lieder, die er auf die Dorfleute machte, und die unter den Leuten wie eingebrannt hafteten. An einem Wahltag überraschte er abends das Dorf mit einer Karikatur auf Friedrich Naumann; sie war auf einen Holzkasten gespannt, und in dem Kasten brannte eine Karbidlampe. Dies Plakat war die erste Lichtreklame auf einem Dorfe (das war in den ersten Jahren nach 1900). Dieser Schuster war der beste Mensch und der gescheiteste Kopf im Dorfe – freilich konnte er niemals mitzählen, da er einen bestimmten Platz in der Dorfschaft nie ausfüllen konnte –, und er war der ärmste und also der schwächste Mann des Dorfes. Das lag nur an ihm. Wenn er allein war, lebte er nicht. Drin, in seiner Werkstatt, war er voll Unruhe und unfähig; man mußte bei ihm bleiben, damit er überhaupt etwas fertig machte. Schuhe! Waren Schuhe überhaupt etwas, was Arbeit wert war! Lohnten Dinge überhaupt die Arbeit, die sie machten! Er mußte da sein, wo etwas geschah, und wenn die Ereignisse noch so klein waren! Menschengesichter mußten um ihn her da sein und Gespräche! Wenn er jemals etwas aufschrieb, dann war es bestimmt keine Chronik des Ortes, sondern Ansichten über Maschinen und Menschen, vorzüglich Betrachtungen über die großen Zeitereignisse, die meist nur als Gerücht ins Dorf drangen, Geschichten, Anekdoten und Projekte (etwa, wie die Wiesen in der Hunteniederung zu berieseln seien). Er war, ohne eine Zeitung, ein Journalist. Es fehlten nur die Zeitungen: und dieser Mensch fing an zu schreiben und wurde groß. Und es fehlte nur eine bestimmte Richtung auf das Praktische, damit die Zeitung entstand.«
Diese Beschreibung ist vorbildlich für die modernen Bemühungen, die Haltung, die Gebärdensprache, das Lebensgefühl, die Anschauungen einer Berufsschicht aus der Tiefe heraus, nicht so obenhin am Gegenstande, sondern entweder wie bei diesem Schuster-Journalisten ohne Beziehung auf den eigentlichen Gegenstand, in diesem Fall die Zeitung, oder aber, und das wird die Regel sein, durch eine sehr genaue Untersuchung aller Elemente, die das alltägliche Berufsleben ausmachen, darzustellen. Man kann in der Suhrkampschen Charakteristik des Journalisten genau kontrollieren, wie er das eine Mal vom Arbeitsmittel, also dem Wort, das andere Mal von dem sogenannten Berufsgefühl, nämlich dem Willen, gedruckt zu werden, dann wieder vom Arbeitsort, nämlich der Stelle der Redaktion oder dem Trubel eines auswärtigen Korrespondenzbüros, oder aber vom Standesgefühl – dem Journalismus als dem Ausdruck unserer öffentlichen Meinung – ausgeht. Und immer wieder kommt es darauf hinaus, die gestaltende, formende, umbildende Kraft dieser äußeren Umstände auf das Dasein der Berufsangehörigen mit solcher Deutlichkeit darzustellen, daß erreicht wird, was wir vorhin als die höchste Aufgabe der Berufsberatung bezeichnet fanden: daß in dem Angehörigen oder dem Kandidaten eines Berufs die biologisch-sinnvolle Einheit der Privatperson mit dem Berufsmenschen in Erscheinung trete.
Man könnte nun glauben, solche Sachen nachzuweisen, sei schließlich bei Angehörigen der sogenannten geistigen Berufe ein leichtes; diese ganzen behavioristischen Versuche, die Gewohnheit, den Alltag als das eigentlich Maßgebende nicht nur für den Beruf als Lebensmittel, sondern auch für den Beruf als Lebenszweck darzustellen, müsse seine Grenze an den gewöhnlichen, wie man so sagt, unkomplizierten Berufen finden. Wir können dieser Meinung nicht besser entgegentreten, als indem wir uns einen Beruf herausgreifen, der zu den primitivsten, Um nicht zu sagen rohesten, gezählt wird und dem auf den ersten Blick niemand so leicht einen formenden und noch dazu positiven Einfluß auf die ihm Angehörigen zutrauen würde. Wir meinen den Schlächterberuf. So eine Analyse kann allerdings nicht vom grünen Tisch her gemacht werden; um einen in das Wesen eines solchen Berufes wirklich einzuführen, dazu müssen schon verschiedene Umstände glücklich zusammenwirken. Wir haben nun gerade hier diesen Glücksfall. Ich habe vorhin erwähnt, daß die »Leitsätze des Berufsberaters« von Hellmuth Bogen, dem Leiter des Berliner Amtes für Berufseignungsprüfungen, stammen, mit dem ich mich längere Zeit über die Dinge, die ich Ihnen heute berichte, unterhalten konnte. Dieser höchst ungewöhnliche Mann stammt aus kleineren Berliner Verhältnissen und hat sich schon als 11jähriger auf dem Zentralviehhof mit Antreiben von Schlachtvieh hinter dem Rücken der Eltern sein Taschengeld verdient. Natürlich hat er von daher eine sehr eingehende Kenntnis der Berufsstände, die dort ihrem Erwerb nachgehen, vor allem also der Viehhändler und Schlächter mitbekommen, und die nun später mit den ganz ungewöhnlichen Kenntnissen der verschiedenen Berufsatmosphären, sozialen Verhältnisse, Standesbegriffe etc. kombiniert. Ehe ich etwas aus dieser wirklich klassischen Darstellung – denn warum sollte es nur klassische Darstellungen einzelner Lebensläufe, nicht auch ganzer Berufsstände geben –, ehe ich also davon erzähle, möchte ich einflechten, daß solche Durchdringung praktischer Erfahrung und theoretischer Erfahrung, Kenntnisse, wie sie hier vorliegen, für die Arbeitswissenschaft das A und O sind. So müssen in Rußland z. B. die Spezialisten für Berufsberatung längere Zeit im Jahre praktisch in denjenigen Berufen tätig sein, für die sie bei der Beratung das Dezernat haben. Da gibt es denn also unter den Berufsberatern so gut Bergarbeiter wie Monteure wie Lokomotivführer wie Bäcker etc. In Rußland ist überhaupt das Interesse für diese neue Wissenschaft besonders lebhaft. Dort hat Gastajeff schon 1919 das erste Institut für Arbeitswissenschaft eröffnet, und 1933 wird der sechste Internationale psychotechnische Kongreß in Moskau stattfinden.
Wir wollen nun nicht aus dem Auge verlieren: das wenige, was ich im folgenden aus der meisterhaften Charakteristik des Schlächterberufes Ihnen mitteilen will, will nicht verstanden sein als Beschreibung besonderer Veranlagungen oder Neigungen, die der Schlächter von vornherein mitbrächte, sondern als Formkraft, die seinem Beruf innewohnt: »Der Grundzug seines Wesens ist das Bewußtsein körperlicher Kraft und Lebensfrische, mit denen er den Arbeitswiderstand im Beruf gut überwindet, mit denen er auch ungünstigen Temperaturen, Feuchtigkeitseinflüssen und zeitlich ungeregelten Arbeitsabläufen den nötigen Widerstand bietet. Aus dem Umgang mit dem Tier erwächst die Ruhe und Sicherheit der Bewegungen, aus der Art der Arbeitsverrichtungen ihre schwere Behäbigkeit, die häufig noch verstärkt wird durch Körperfülle. Die Sauberkeit, die man dem Arbeitserzeugnis gegenüber entwickelt, findet sich auch im persönlichen Leben ausgeprägt. Obgleich sie sehr viel mit beschmutzender Arbeit zu tun haben, schmutzige Schlächter sind eine Seltenheit. Schlachthaus, Wohnung, Kleidung tragen den gleichen Charakter der Sauberkeit. Die Schlächter sind Geschäftsleute mit der handwerklichen Tendenz zur Lieferung einer hervorragenden Qualität ... Günstige finanzielle Lebenslage gibt ihnen Lebenszufriedenheit, von der sie gern anderen mitteilen. Aus allem resultiert ein Persönlichkeitsselbstgefühl, das den Nebenmenschen ohne Neid betrachtet, ihn achtet und, wenn er als Gegner auftritt, ihn sich schnell und grob-brutal vom Leibe zu halten sucht. Gutmütigkeit, Jovialität und Robustheit paaren sich so. Aus der ganzen Lage und dem Bewußtsein von der Bedeutung des Berufes erwächst ein gesunder Stolz, der es nicht nötig hat, sich nach außen irgendwie besonders zur Geltung zu bringen.«
Sie alle kennen Schriftdeuter, Chiromanten, Phrenologen und ähnliche Leute, die sich anheischig machen, aus Einzelheiten des Körperbaus, der Haltung usw. tiefe Einblicke in den Menschen zu tun. Man mag noch soviel Mißtrauen gegen sie haben, es bleibt viel Interessantes und Wahres an ihren Beobachtungen. Wovon sie ausgehen, ist der unlösliche Zusammenhang zwischen innen und außen. Wachstum, Körperbau, Erbmasse bestimmen ihrer Meinung nach das Schicksal, sowie das Schicksal ihrer Meinung nach verändernd auf die Handlinien, den Blick, die Gesichtszüge usw. einwirkt. Aber welches Schicksal könnte solche Einwirkungen, innere und äußere, stetiger hervorrufen als das des Berufes? Und wo ließen sich solche Feststellungen leichter machen als im Berufe, wo Tausende von Menschen tagaus tagein dem gleichen Schicksal unterworfen sind? Die Frage, an der wir Sie vorhin und nunmehr abschließend nochmals durch Mitteilungen an uns mitzuarbeiten aufforderten, ist also nicht nur eine der Arbeits- und Berufswissenschaft, es ist eine Frage der Menschenkenntnis und der Beobachtungsgabe, und sie wird niemanden uninteressiert lassen, der ihr einmal nähergetreten ist. Sie – viele von Ihnen – dazu zu veranlassen, war der Zweck dieser Worte.