ii
Ippolit war schon vor fünf Tagen in Ptizyns Haus übergesiedelt. Das hatte sich in ganz natürlicher Weise so ergeben, ohne viele Worte und ohne irgendwelches Zerwürfnis zwischen ihm und dem Fürsten; sie hatten sich nicht gezankt, sondern waren sogar äußerlich als gute Freunde voneinander geschieden. Gawrila Ardalionowitsch, der an dem damaligen Abend eine so feindliche Haltung gegen Ippolit eingenommen hatte, war schon am dritten Tag nach jenem Ereignis gekommen, um den Kranken zu besuchen, wobei er sich wahrscheinlich durch irgendeinen Einfall leiten ließ, der ihm plötzlich gekommen war. Aus irgendeinem Grund hatte auch Rogoshin angefangen, dem Kranken Besuche zu machen. Der Fürst war in der ersten Zeit der Meinung gewesen, daß es für den „armen Knaben“ sogar das beste sein würde, wenn er aus seinem Hause wegzöge. Aber schon während seines Umzuges hatte sich Ippolit dahin geäußert, er siedele zu Ptizyn über, der „so freundlich“ sei, ihm „Unterkunft zu gewähren“, und hatte wie mit Absicht niemals gesagt, er ziehe zu Ganja, obgleich gerade Ganja darauf gedrungen hatte, daß er ins Haus aufgenommen wurde. Ganja hatte das gleich damals beachtet, es übelgenommen und sich ins Gedächtnis eingeprägt.
Er hatte recht, als er zu seiner Schwester sagte, der Kranke habe sich erholt. Tatsächlich ging es Ippolit etwas besser als vorher, was man ihm auf den ersten Blick ansehen konnte. Er trat langsam in das Zimmer ein, hinter den andern, mit einem spöttischen, häßlichen Lächeln auf dem Gesicht. Nina Alexandrowna sah sehr erschrocken aus. (Sie hatte sich im letzten halben Jahr sehr verändert, sie war stark abgemagert; seit sie ihre Tochter verheiratet hatte und zu ihr gezogen war, hatte sie fast ganz aufgehört, sich äußerlich in die Angelegenheiten ihrer Kinder einzumischen.) Koljas Miene war sorgenvoll und zeigte verständnislose Verwunderung; er begriff vieles von den „irren Reden“ des Generals nicht, wie er sich ausdrückte, und das war auch natürlich, da er die Hauptursachen dieser neuen Aufregung in der Familie nicht kannte. Aber es war ihm klar, daß der Vater jetzt Stunde für Stunde und überall dermaßen krakeelte und sich auf einmal so stark verändert hatte, daß man meinen konnte, er sei ein ganz anderer Mensch geworden. Es beunruhigte ihn auch, daß der Alte in den letzten drei Tagen ganz aufgehört hatte zu trinken. Er wußte, daß er sich mit Lebedew und dem Fürsten überworfen und sogar gezankt hatte. Kolja war soeben mit einer Flasche Branntwein nach Hause zurückgekehrt, die er für sein eigenes Geld gekauft hatte.
„Wirklich, Mama“, hatte er noch oben zu Nina Alexandrowna gesagt, „wirklich, mag er lieber trinken! Er hat jetzt schon seit drei Tagen keinen Branntwein angerührt; er muß einen stillen Kummer haben. Wirklich, wir wollen ihn lieber trinken lassen; ich habe ihm ja auch ins Schuldgefängnis Branntwein gebracht …“
Der General öffnete die Tür sperrangelweit und stellte sich, zitternd vor Entrüstung, auf die Schwelle.
„Mein Herr!“ schrie er mit donnernder Stimme seinem Schwiegersohn Ptizyn zu, „wenn Sie tatsächlich beschlossen haben, einen achtenswerten alten Mann, Ihren Vater, das heißt wenigstens den Vater Ihrer Frau, der seinem Kaiser treu gedient hat, so einem Milchbart und Atheisten aufzuopfern, so wird mein Fuß von dieser Stunde an die Schwelle Ihres Hauses nie wieder betreten. Wählen Sie, mein Herr, wählen Sie unverzüglich: entweder ich oder dieser … dieser Bohrer! Ja, dieser Bohrer! Der Ausdruck ist mir zufällig in den Mund gekommen, aber er ist ein Bohrer! Denn er wühlt wie ein Bohrer in meiner Seele herum, ohne allen Respekt … ja, wie ein Bohrer!“
„Bin ich nicht eher ein Korkenzieher?“ fragte Ippolit.
„Nein, kein Korkenzieher, denn du hast einen General vor dir und keine Flasche. Ich besitze Orden und Ehrenzeichen, aber du, du hast nichts, gar nichts. Entweder er oder ich! Entscheiden Sie sich, mein Herr, sofort, sofort!“ schrie er Ptizyn wieder wütend an.
In diesem Augenblick stellte ihm Kolja einen Stuhl hin, und er sank fast ganz erschöpft auf ihn nieder.
„Es wäre wirklich das beste, wenn Sie sich schlafen legten“, murmelte Ptizyn, der ganz betäubt war.
„Er droht noch!“ sagte Ganja halblaut zu seiner Schwester.
„Schlafen legen!“ schrie der General. „Ich bin nicht betrunken, mein Herr, Sie beleidigen mich. Ich sehe“, fuhr er, wieder aufstehend, fort, „ich sehe, daß hier alle gegen mich sind, alle. Genug! Ich gehe … Aber wissen Sie, mein Herr, wissen Sie …“
Man ließ ihn nicht zu Ende reden und veranlaßte ihn, sich wieder hinzusetzen; man bat ihn, sich zu beruhigen. Ganja ging wütend in eine Ecke. Nina Alexandrowna zitterte und weinte.
„Aber was habe ich ihm denn getan? Worüber beklagt er sich denn?“ rief Ippolit grinsend.
„Sie hätten ihm nichts getan?“ sagte Nina Alexandrowna. „Es ist von Ihnen eine besondere Schändlichkeit und … Unmenschlichkeit, einen alten Mann zu quälen … und noch dazu in Ihrer Lage.“
„Erstens, von welcher Art ist denn meine Lage? Ich schätze Sie, gerade Sie persönlich, sehr hoch, aber …“
„Er ist ein Bohrer!“ schrie der General. „Er bohrt in meiner Seele und meinem Herzen herum! Er will, daß ich an den Atheismus glauben soll! Weißt du wohl, du Milchbart, daß ich schon mit Ehren überschüttet war, als du noch gar nicht geboren warst! Du bist weiter nichts als ein neidischer Wurm, der in zwei Stücke zerrissen ist und hustet … und vor Bosheit und Unglauben stirbt … Warum hat dich Ganja bloß hierhergebracht? Alle sind sie gegen mich, von den Fremden angefangen bis zu meinem eigenen Sohn!“
„So hören Sie doch auf mit dem falschen Pathos!“ rief Ganja. „Sie sollten nicht in der ganzen Stadt Schande über uns bringen, das wäre besser!“
„Wie? Ich bringe Schande über dich, du Milchbart? Über dich? Ich kann dir nur Ehre bringen, aber keine Unehre!“
Er sprang auf und war nicht mehr zu halten, aber auch Gawrila Ardalionowitsch hatte offenbar alle Selbstbeherrschung verloren.
„Sie reden noch von Ehre!“ rief er boshaft.
„Was hast du gesagt?“ donnerte der General, der blaß wurde und einen Schritt auf ihn zutrat.
„Ich brauche ja nur den Mund aufzutun, um …“, schrie Ganja, ohne den Satz zu Ende zu sprechen. Beide standen einander gegenüber; sie zitterten vor Wut, besonders Ganja.
„Ganja, was sprichst du da!“ rief Nina Alexandrowna und stürzte auf ihren Sohn zu, um ihn aufzuhalten.
„So ein törichtes Gerede von allen Seiten!“ sagte Warja entrüstet in scharfem Ton. „Hören Sie auf, Mama!“ fügte sie hinzu und faßte ihre Mutter an.
„Ich schone Sie nur um der Mutter willen!“ rief Ganja pathetisch.
„Rede!“ brüllte der General in höchster Wut. „Rede! Ich befehle es unter Androhung meines väterlichen Fluches … rede!“
„Na, ich werde mich auch gerade vor Ihrem Fluch fürchten! Wer ist denn daran schuld, daß Sie seit acht Tagen wie verrückt sind? Seit acht Tagen; Sie sehen, ich weiß alles genau dem Datum nach … Nehmen Sie sich in acht und treiben Sie mich nicht zum Äußersten, sonst sage ich alles … Warum haben Sie sich denn gestern zu Jepantschins begeben? Und da bezeichnet er sich noch als alten Mann, spricht von seinen grauen Haaren und spielt sich als Familienvater auf! Ein netter Patron!“
„Schweig still, Ganja!“ rief Kolja. „Schweig still, du Dummkopf!“
„Aber womit habe ich, ich ihn denn beleidigt?“ fragte Ippolit hartnäckig, immer noch in demselben spöttischen Ton, „Warum nennt er mich einen Bohrer, wie Sie selbst gehört haben? Er hat sich selbst an mich herangemacht; er kam eben zu mir und fing an, von einem Hauptmann Jeropegow zu sprechen. Ich wünsche überhaupt nicht, mit Ihnen zu verkehren, General, ich bin Ihnen schon früher aus dem Weg gegangen, wie Sie selbst wissen. Sagen Sie selbst: was geht mich der Hauptmann Jeropegow an? Um des Hauptmanns Jeropegow willen bin ich nicht hierhergezogen. Ich habe ihm nur laut meine Meinung gesagt, daß dieser Hauptmann Jeropegow vielleicht überhaupt niemals existiert hat. Und da hat er einen Höllenlärm gemacht.“
„Zweifellos hat er nicht existiert!“ sagte Ganja in scharfem Ton.
Der General stand wie betäubt und blickte nur gedankenlos rings um sich. Die Worte seines Sohnes verblüfften ihn durch ihre ungewöhnliche Offenheit. Im ersten Augenblick konnte er gar keine Worte finden. Erst als Ippolit über Ganjas Antwort laut auflachte und rief: „Na, nun haben Sie es gehört, Ihr eigener Sohn sagt auch, daß es keinen Hauptmann Jeropegow gegeben hat“, erst da murmelte der Alte endlich ganz verwirrt:
„Kapiton Jeropegow, nicht Hauptmann1 … Kapiton … Oberstleutnant a. D., Jeropegow … Kapiton.“
„Auch diesen Kapiton hat es nicht gegeben!“ rief Ganja, der ganz außer sich war.
„Aber … warum soll es ihn nicht gegeben haben?“ murmelte der General, dem die Röte ins Gesicht stieg.
„So lassen Sie es gut sein!“ sagten Ptizyn und Warja beschwichtigend zu ihm.
„Schweig, Ganja!“ rief Kolja wieder.
Aber der Umstand, daß sich jemand seiner annahm, hatte die Wirkung, daß der General wieder zu sich kam.
„Wieso soll es ihn nicht gegeben haben? Warum soll er nicht existiert haben?“ fuhr er seinen Sohn zornig an.
„Ganz einfach, weil er nicht existiert hat. Er hat eben nicht existiert und kann überhaupt nicht existiert haben. Da haben Sie es! Lassen Sie mich in Ruhe, sage ich!“
„Und das ist mein Sohn … das ist mein leiblicher Sohn, den ich … o Gott! Jeropegow, Jeroschka Jeropegow soll nicht existiert haben!“
„Na, da sieht man's, bald heißt er Jeroschka, bald Kapiton!“ warf Ippolit dazwischen.
„Kapitoschka, mein Herr, Kapitoschka, nicht Jeroschka! Kapiton, Kapitän Alexejewitsch, hören Sie wohl, Kapiton … Oberstleutnant … a. D. … er heiratete Marja … Marja … Petrowna Su … Su … mein Freund und Kamerad … Sutugowa, als er sogar noch Fähnrich war! Ich habe mein Blut für ihn … mit meinem Leib gedeckt … dennoch gefallen. Kapitoschka Jeropegow soll nicht existiert haben, nicht auf der Welt gewesen sein!“
Der General schrie vor Wut, aber so, daß man denken konnte, es ginge in dem Gespräch um die eine, bei seinem Geschrei aber um eine ganz andere Sache. Und wirklich hätte er zu anderer Zeit gewiß weit stärkere Beleidigungen ertragen, als es die Bemerkung über Kapiton Jeropegows Nichtexistenz war; er hätte wohl ein bißchen Geschrei erhoben, hätte eine Szene gemacht, wäre außer sich geraten, wäre aber doch schließlich nach seinem Zimmer hinaufgegangen, um sich schlafen zu legen. Aber das Menschenherz ist ein sonderbares Ding: jetzt traf es sich, daß gerade eine verhältnismäßig geringe Kränkung wie der Zweifel an Jeropegows Existenz das Gefäß zum Überlaufen bringen mußte. Der Alte wurde purpurrot, hob die Arme in die Höhe und schrie:
„Genug! Mein Fluch … hinaus aus diesem Hause! Nikolai, bring meine Reisetasche, ich gehe … ich will fort!“
Eilig, in höchstem Zorn, ging er hinaus. Nina Alexandrowna, Kolja und Ptizyn stürzten ihm nach.
„Na, was hast du jetzt angerichtet!“ sagte Warja zu ihrem Bruder. „Er wird am Ende wieder dorthin gehen. Welche Schande! Welche Schande!“
„Er hätte nicht stehlen sollen!“ schrie Ganja, der beinah vor Wut erstickte; plötzlich begegnete sein Blick dem Blick Ippolits, und Ganja fing fast an zu zittern. „Sie aber, mein Herr“, schrie er, „sollten nicht vergessen, daß Sie hier in einem fremden Hause sind und … Gastfreundschaft genießen, und sollten nicht einen alten Mann reizen, der offenbar den Verstand verloren hat …“
Ippolit war ebenfalls zusammengefahren, hatte aber sofort die Herrschaft über sich wiedergewonnen.
„Ich kann Ihnen doch nicht ganz zustimmen, wenn Sie meinen, daß Ihr Papa den Verstand verloren hat“, antwortete er ruhig. „Es scheint mir im Gegenteil, daß sein Verstand in der letzten Zeit sogar zugenommen hat, wahrhaftig, glauben Sie es nicht? Er ist so vorsichtig und argwöhnisch geworden, immer sucht er einen auszuforschen, jedes Wort wägt er ab … daß er mit mir von diesem Kapiton zu reden anfing, dabei hatte er eine besondere Absicht; stellen Sie sich nur vor: er wollte mich darauf bringen, daß …“
„Zum Teufel, was kümmert es mich, worauf er Sie bringen wollte! Ich bitte Sie, mir gegenüber keine listigen Kunstgriffe zur Anwendung zu bringen, mein Herr!“ knirschte Ganja. „Wenn Sie gleichfalls den wahren Grund kennen, weshalb der Alte sich in diesem Zustand befindet (und Sie haben in diesen fünf Tagen so um mich herumspioniert, daß Sie ihn wahrscheinlich kennen), so sollten Sie doch den … Unglücklichen nicht reizen und meine Mutter nicht durch Übertreibung der Geschichte quälen, denn die ganze Geschichte ist dummes Zeug, nur Gerede Betrunkener, weiter nichts. Gerede, das durch nichts bewiesen ist und auf das ich nicht einen Pfifferling gebe … Aber Sie müssen immer spionieren und giftige Reden führen, weil Sie … weil Sie …“
„Weil ich ein Bohrer bin“, fiel Ippolit lächelnd ein.
„Weil Sie ein Lump sind. Eine halbe Stunde lang haben Sie die Gesellschaft gepeinigt, indem Sie meinten, Sie könnten sie dadurch erschrecken, daß Sie sich mit Ihrer ungeladenen Pistole totschießen würden, mit der Sie sich so schändlich blamiert haben, Sie erfolgloser Selbstmörder, Sie übergelaufene Galle … auf zwei Beinen. Ich habe Ihnen Gastfreundschaft gewährt, Sie sind hier dick geworden, haben aufgehört zu husten, und nun danken Sie es mir so …“
„Nur zwei Worte, wenn Sie erlauben; ich wohne bei Warwara Ardalionowna und nicht bei Ihnen; Sie haben mir keinerlei Gastfreundschaft erwiesen; ich glaube sogar, daß Sie selbst Herrn Ptizyns Gastfreundschaft genießen. Vor vier Tagen habe ich meine Mutter gebeten, in Pawlowsk eine Wohnung für mich zu suchen und selbst hierher überzusiedeln, weil ich mich hier tatsächlich wohler fühle, obgleich ich keineswegs dicker geworden bin und immer noch huste. Meine Mutter hat mich gestern abend benachrichtigt, daß die Wohnung bereitstehe, und ich beeile mich meinerseits, Ihnen mitzuteilen, daß ich mich noch heute bei Ihrer Mama und bei Ihrer Schwester bedanken und in meine eigene Wohnung übersiedeln werde, wozu ich mich schon gestern abend entschlossen habe. Entschuldigen Sie, ich habe Sie unterbrochen; Sie wollten, wie es scheint, noch viel sagen.“
„Oh, wenn es so ist …“, begann Ganja zitternd.
„Wenn es so ist, so gestatten Sie, daß ich mich setze“, fügte Ippolit hinzu, indem er sich mit größter Seelenruhe auf den Stuhl niederließ, auf dem der General gesessen hatte. „Ich bin ja immerhin krank. Nun, jetzt bin ich bereit, Ihnen zuzuhören, um so mehr, als dies unser letztes Gespräch und vielleicht sogar unser letztes Zusammensein sein wird.“
Ganja fing auf einmal an, sich zu schämen.
„Sie können mir glauben, daß ich mich nicht dazu herablassen werde, mit Ihnen abzurechnen“, sagte er, „und wenn Sie …“
„Es hat keinen Zweck, daß Sie sich aufs hohe Roß setzen“, unterbrach ihn Ippolit. „Ich meinerseits habe mir schon am ersten Tag, nachdem ich hierher übergesiedelt war, vorgenommen, mir nicht das Vergnügen zu versagen, Ihnen beim Abschied mit vollster Offenheit meine Meinung zu sagen. Ich beabsichtige, dies eben jetzt zu tun, selbstverständlich nach Ihnen.“
„Und ich ersuche Sie, dieses Zimmer zu verlassen.“
„Reden Sie lieber, sonst werden Sie bereuen, sich nicht ausgesprochen zu haben.“
„Hören Sie auf, Ippolit, das alles ist ja unwürdig; tun Sie mir den Gefallen und hören Sie auf!“ sagte Warja.
„Höchstens der Dame zuliebe“, erwiderte Ippolit lachend und stand auf. „Wenn es Ihnen recht ist, Warwara Ardalionowna, bin ich Ihnen zuliebe bereit, mich kurz zu fassen, aber auch nur, mich kurz zu fassen, denn eine gewisse Auseinandersetzung zwischen mir und Ihrem Bruder ist durchaus notwendig, und ich werde mich unter keinen Umständen entschließen, beim Fortgehen hier eine Unklarheit zurückzulassen.“
„Sie sind ganz einfach ein Klatschmaul!“ rief Ganja. „Darum wollen Sie nicht weggehen, ohne Ihre Klatscherei vorgebracht zu haben!“
„Sehen Sie wohl“, bemerkte Ippolit kaltblütig, „Sie haben schon jetzt die Selbstbeherrschung verloren. Wirklich, Sie werden es bereuen, sich nicht ausgesprochen zu haben. Ich trete Ihnen noch einmal das Wort ab. Ich werde warten.“
Gawrila Ardalionowitsch schwieg und machte ein verächtliches Gesicht.
„Sie wollen es nicht. Sie beabsichtigen, Ihrer Rolle treu zu bleiben, bitte sehr. Meinerseits werde ich mich möglichst kurz fassen. Ich habe heute zwei- oder dreimal einen Vorwurf wegen der genossenen Gastfreundschaft gehört; dieser Vorwurf ist ungerecht. Indem Sie mich zu sich einluden, warfen Sie selbst Ihr Netz nach mir aus; Sie spekulierten darauf, daß ich mich an dem Fürsten rächen wollte. Außerdem hatten Sie gehört, daß Aglaja Iwanowna ihre Teilnahme für mich ausgesprochen und meine Beichte gelesen hatte. Da Sie aus irgendeinem Grund darauf rechneten, daß ich mich ganz Ihren Interessen widmen würde, so hofften Sie, vielleicht in mir einen Helfer zu finden. Ich will mich nicht eingehender darüber aussprechen! Auch von Ihrer Seite verlange ich weder ein Bekenntnis noch eine Bestätigung; es genügt mir, Sie Ihrem eigenen Gewissen zu überlassen und festzustellen, daß wir einander jetzt vortrefflich verstehen.“
„Aber Sie machen Gott weiß was aus einer ganz gewöhnlichen Sache!“ rief Warja.
„Ich habe dir ja gesagt: er ist ein Klatschmaul und ein unreifer Bube“, sagte Ganja.
„Wenn Sie erlauben, Warwara Ardalionowna, werde ich fortfahren. Den Fürsten kann ich natürlich weder lieben noch hochachten, aber er ist wirklich ein guter Mensch, wenn auch recht lächerlich. Ihn jedoch zu hassen, habe ich absolut keinen Grund; ich habe Ihren Bruder von meiner Gesinnung nichts merken lassen, als er mich gegen den Fürsten aufzuhetzen suchte; ich rechnete eben darauf, ihn am Schluß der Komödie auszulachen. Ich wußte im voraus, daß Ihr Bruder mir zuviel mitteilen und damit einen argen Fehler begehen würde. Und so kam es auch … Ich bin jetzt bereit, schonend mit ihm zu verfahren, aber einzig und allein aus Hochachtung gegen Sie, Warwara Ardalionowna. Aber nachdem ich Ihnen dargelegt habe, daß ich nicht so leicht zu angeln bin, will ich Ihnen auch auseinandersetzen, warum ich Ihren Bruder in seinen eignen Augen als Dummkopf hinstellen wollte. Sie mögen wissen, daß ich es aus Haß tue, das gestehe ich offen. Schon fast sterbend (denn ich werde doch bald sterben, obwohl ich dicker geworden bin, wie Sie versichern), schon fast sterbend, fühlte ich, daß ich sehr viel ruhiger in das Paradies eingehen würde, wenn ich vorher wenigstens einen Vertreter jener zahllosen Menschenklasse als Dummkopf hinstellen könnte, die mich mein ganzes Leben lang verfolgt hat, die ich mein ganzes Leben lang gehaßt habe und für die Ihr hochgeehrter Bruder als hervorragendes Musterbeispiel dienen kann. Ich hasse Sie, Gawrila Ardalionowitsch, einzig deswegen (das kommt Ihnen vielleicht wunderlich vor), einzig deswegen, weil Sie ein Typ, eine Inkarnation, eine Verkörperung und der Gipfelpunkt der frechsten, selbstzufriedensten, gemeinsten, häßlichsten Mittelmäßigkeit sind! Sie sind die aufgeblasene Mittelmäßigkeit, die Mittelmäßigkeit, die in olympischer Ruhe an sich nicht zweifelt; Sie sind die allergewöhnlichste Gewöhnlichkeit! Nicht der kleinsten eigenen Idee ist es beschieden, jemals in Ihrem Geist oder Ihrem Herzen zu keimen. Aber Sie sind maßlos neidisch; Sie sind zwar fest davon überzeugt, daß Sie das größte Genie sind, aber in düsteren Stunden beschleicht Sie doch manchmal der Zweifel, und dann ärgern Sie sich und beneiden andere. Oh, es gibt für Sie noch schwarze Punkte am Horizont, sie werden vergehen, sobald Sie endgültig dumm geworden sind, was nicht mehr fern ist; aber Ihnen steht doch noch ein langer, vielgestaltiger Weg bevor, ich sage nicht, ein heiterer Weg, und freue mich darüber. Zunächst aber sage ich Ihnen voraus, daß Sie eine gewisse Person nicht gewinnen werden …“
„Nein, das ist unerträglich!“ rief Warja. „Sind Sie nun fertig, Sie widerwärtiger Bösewicht?“
Ganja war blaß geworden, zitterte und schwieg. Ippolit blieb stehen, betrachtete ihn unverwandt und mit Genuß, ließ dann seine Blicke zu Warja hinübergleiten, lächelte, verbeugte sich und ging, ohne noch ein Wort hinzuzufügen, hinaus.
Gawrila Ardalionowitsch hätte sich mit Recht über sein Schicksal und das Mißlingen seiner Pläne beklagen können. Eine Weile mochte Warja ihn nicht anreden, ja sie sah ihn nicht einmal an, als er mit großen Schritten an ihr vorbeiging; schließlich trat er ans Fenster und drehte ihr den Rücken zu. Warja dachte an die russische Redensart vom „Stock mit den zwei Enden“. Oben war wieder Lärm zu hören.
„Willst du gehen?“ fragte plötzlich Ganja, der sich zu ihr umwandte, als er hörte, daß sie aufstand. „Warte noch einen Augenblick und sieh dir einmal dies hier an!“
Er trat zu ihr heran und warf ein kleines, nach Art eines Briefchens zusammengelegtes Zettelchen vor ihr auf den Stuhl.
„O Gott!“ rief Warja und schlug die Hände zusammen.
Das Billett enthielt nur wenige Zeilen:
„Gawrila Ardalionowitsch! Da ich mich von Ihrer freundlichen Gesinnung gegen mich überzeugt habe, möchte ich Sie in einer für mich sehr wichtigen Angelegenheit um Rat fragen. Ich würde Sie gern morgen sprechen, Punkt sieben Uhr früh auf der grünen Bank. Das ist nicht weit von unserem Landhaus. Warwara Ardalionowna, die Sie unbedingt begleiten soll, kennt diesen Platz ganz genau. A. J.“
„Daraus soll nun einer klug werden!“ rief Warwara Ardalionowna, erstaunt die Arme ausbreitend.
Obgleich Ganja in diesem Augenblick die größte Lust hatte zu prahlen, konnte er doch nicht umhin, sein Triumphgefühl merken zu lassen, noch dazu nach den demütigenden Prophezeiungen Ippolits. Ein selbstzufriedenes Lächeln glänzte unverhohlen auf seinem Gesicht, und selbst Warja strahlte vor Freude.
„Und das schreibt sie gerade an dem Tag, an dem bei ihnen die Verlobung öffentlich bekanntgegeben wird! Da soll noch einer klug draus werden!“
„Was meinst du, worüber sie morgen mit mir reden will?“ fragte Ganja.
„Das ist ganz gleich; die Hauptsache ist, daß sie dich nach sechs Monaten zum erstenmal wieder zu sehen wünscht. Höre auf mich, Ganja: um was es sich auch handeln und wie die Sache sich auch wenden mag, vergiß nicht, daß es für dich wichtig ist! Sehr wichtig! Spiele nicht wieder den Stolzen, mache nicht wieder Fehler, und hüte dich auch davor, ängstlich zu werden! Es hat ihr doch unmöglich entgehen können, zu welchem Zweck ich ein halbes Jahr lang immer hingekommen bin. Und kannst du dir das vorstellen: kein Wort hat sie mir heute davon gesagt, nichts hat sie sich merken lassen. Ich bin nämlich heimlich bei ihnen gewesen, die Alte hat nichts davon gewußt, daß ich da war, sonst hätte sie mich am Ende weggejagt. Ich habe es um deinetwillen riskiert hinzugehen, weil ich durchaus erfahren wollte …“
Wieder erscholl von oben Geschrei und Lärm; mehrere Personen kamen die Treppe herunter.
„Wir dürfen das jetzt um keinen Preis zulassen!“ rief Warja hastig und ängstlich. „Es darf auch nicht die Spur von Skandal geben! Geh hin und bitte um Verzeihung!“
Aber das Oberhaupt der Familie war schon auf der Straße. Kolja, der die Reisetasche trug, hinter ihm. Nina Alexandrowna stand auf der Treppe und weinte; sie wollte ihm nachlaufen, aber Ptizyn hielt sie zurück.
„Sie fachen seinen Zorn dadurch nur noch mehr an“, sagte er zu ihr. „Er kann ja nirgends hingehen, in einer halben Stunde wird er wieder hierher zurückgebracht werden, ich habe schon mit Kolja darüber gesprochen; lassen Sie ihn nur seine Dummheit begehen!“
„Was machen Sie denn für Streiche? Wo wollen Sie denn hin?“ rief Ganja aus dem Fenster. „Sie können ja nirgends hingehen!“
„Kommen Sie wieder zurück, Papa!“ rief Warja. „Die Nachbarn werden aufmerksam.“
Der General blieb stehen, wandte sich um, streckte den Arm aus und schrie:
„Mein Fluch über dieses Haus!“
„Anders als in diesem Theaterton kann er nicht reden!“ murmelte Ganja und schlug das Fenster zu.
Die Nachbarn hörten wirklich zu. Warja lief aus dem Zimmer.
Als Warja hinausgegangen war, nahm Ganja den Zettel vom Tisch, küßte ihn, schnalzte mit der Zunge und machte einen kleinen Luftsprung.
- Hauptmann heißt im Russischen Kapitan, was hier zu einer Verwechslung mit dem Namen Kapiton führt. (A.d.Ü.)↩