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Eine Stunde darauf war er bereits in Petersburg, und zwischen neun und zehn Uhr klingelte er bei Rogoshin. Er hatte das Haus durch den Haupteingang betreten, und es wurde ihm lange nicht geöffnet. Endlich öffnete sich die Tür zur Wohnung der alten Rogoshina, und es erschien die alte, würdig aussehende Dienerin.

„Parfen Semjonowitsch ist nicht zu Hause“, meldete sie, in der Tür stehend. „Zu wem wollten Sie?“

„Zu Parfen Semjonowitsch.“

„Er ist nicht zu Hause.“

Die Dienerin betrachtete den Fürsten mit sonderbarer Neugier.

„Sagen Sie mir wenigstens, ob er die Nacht über zu Hause gewesen ist! Und … ist er gestern allein zurückgekommen?“

Die Dienerin fuhr fort, ihn anzusehen, gab aber keine Antwort.

„War nicht gestern … gegen Abend … Nastasja Filippowna mit ihm zusammen hier?“

„Gestatten Sie die Frage, wer Sie selbst sind!“

„Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin, wir sind sehr gut miteinander bekannt.“

„Er ist nicht zu Hause.“

Die Dienerin schlug die Augen nieder.

„Und Nastasja Filippowna?“

„Davon weiß ich nichts.“

„Warten Sie, warten Sie! Wann wird er denn wiederkommen?“

„Das weiß ich auch nicht.“

Die Tür schloß sich.

Der Fürst beschloß, nach einer Stunde wiederzukommen. Als er in den Hof hineinschaute, fand er dort den Hausknecht.

„Ist Parfen Semjonowitsch zu Hause?“

„Jawohl.“

„Wie kommt es denn, daß mir soeben gesagt wurde, er wäre nicht zu Hause?“

„Ist Ihnen das in seiner Wohnung gesagt worden?“

„Nein, es war die Dienerin seiner Mutter; bei Parfen Semjonowitsch habe ich geklingelt, aber es wurde nicht geöffnet.“

„Vielleicht ist er auch ausgegangen“, meinte der Hausknecht. „Er meldet das nicht an. Manchmal nimmt er auch den Schlüssel mit, dann bleibt die Wohnung drei Tage lang verschlossen.“

„Daß er gestern zu Hause war, weißt du bestimmt?“

„Ja, er war zu Hause. Manchmal kommt er vom Haupteingang her; dann sieht ihn unsereiner gar nicht.“

„Und Nastasja Filippowna war gestern nicht bei ihm?“

„Das weiß ich nicht. Sie geruht nicht oft zu kommen; man würde es doch wohl wissen, wenn sie gekommen wäre.“

Der Fürst ging hinaus und wanderte eine Weile in Gedanken versunken auf dem Gehsteig hin und her. Die Fenster der von Rogoshin bewohnten Zimmer waren sämtlich geschlossen; die Fenster der von seiner Mutter bewohnten Seite standen fast alle offen. Es war ein heller, heißer Tag; der Fürst ging quer über die Straße nach dem gegenüberliegenden Gehsteig, stellte sich dort hin und blickte noch einmal nach den Fenstern: sie waren nicht nur geschlossen, sondern es waren auch fast bei allen die weißen Vorhänge heruntergelassen.

Er stand ein Weilchen da, und — seltsam — auf einmal schien es ihm, als ob der Rand eines Vorhangs ein wenig zur Seite geschoben und Rogoshins Gesicht sichtbar würde und in demselben Augenblick wieder verschwände. Er wartete noch eine kurze Zeit und wollte schon hingehen und noch einmal klingeln, änderte aber dann seine Absicht und verschob es um eine Stunde: ‚Wer weiß, vielleicht ist es mir nur so vorgekommen …‘

Vor allen Dingen eilte er jetzt zum Ismailowskij Polk, nach der Wohnung, die Nastasja Filippowna noch unlängst innegehabt hatte. Es war ihm bekannt, daß sie, als sie auf seine Bitte vor drei Wochen aus Pawlowsk weggezogen war, sich im Ismailowskij Polk bei einer früheren guten Bekannten von ihr einquartiert hatte, einer Lehrerwitwe, einer achtbaren und kinderreichen Dame, die einen Teil ihrer Wohnung gut möbliert weitervermietete und davon fast ganz lebte. Das wahrscheinlichste war, daß Nastasja Filippowna, als sie wieder nach Pawlowsk übersiedelte, die Wohnung behalten hatte; wenigstens war sehr wahrscheinlich, daß sie jetzt in dieser Wohnung, in die sie gestern wohl von Rogoshin gebracht worden war, übernachtet hatte. Der Fürst nahm eine Droschke. Unterwegs kam ihm der Gedanke, daß er hier hätte anfangen sollen, da es unwahrscheinlich sei, daß sie in der Nacht direkt zu Rogoshin gefahren wäre. Dabei mußte er auch an die Bemerkung des Hausknechts denken, daß Nastasja Filippowna nicht häufig ins Haus gekommen sei. Wenn sie überhaupt nur selten hinkam, aus welchem Grund sollte sie dann gerade jetzt bei Rogoshin eingekehrt sein? Sich mit diesen Tröstungen ermutigend, gelangte der Fürst endlich mehr tot als lebendig zum Ismailowskij Polk.

Zu seiner großen Überraschung hatte man bei der Lehrerwitwe weder am vorhergehenden noch an diesem Tage etwas von Nastasja Filippowna gehört, aber alle kamen herausgelaufen, um ihn wie ein Wundertier anzustaunen. Die ganze zahlreiche Familie der Lehrerwitwe, lauter Mädchen, immer ein Jahr auseinander, im Alter von fünfzehn bis zu sieben Jahren, kam hinter der Mutter her und umringte ihn mit offenem Mund. Hinter ihnen erschien auch ihre hagere, gelbe Tante mit einem schwarzen Kopftuch, und endlich die Großmutter der Familie, eine alte Dame mit einer Brille. Die Lehrerwitwe bat ihn dringend, einzutreten und sich zu setzen, was der Fürst auch tat. Er merkte sofort, daß ihnen durchaus bekannt war, wer er war, und daß sie genau wußten, daß gestern seine Hochzeit hatte sein sollen, und nun den brennenden Wunsch hatten, ihn sowohl nach der Hochzeit zu fragen als auch eine Erklärung des wunderlichen Umstandes zu erhalten, daß er sich jetzt bei ihnen nach derjenigen erkundigte, die jetzt nirgends sonst als in Pawlowsk mit ihm hätte zusammensein sollen, daß aber ihr Taktgefühl sie von diesen Fragen zurückhielt. In kurzen Zügen befriedigte er ihre Neugier hinsichtlich der Hochzeit. Nun fingen sie an, ihr Erstaunen zu äußern und „ach!“ und „oh!“ zu rufen, so daß er sich genötigt sah, auch fast alles übrige zu erzählen, natürlich mit Beschränkung auf die Hauptpunkte. Endlich kam der Rat der weisen, aufgeregten Damen zu dem Schluß, der Fürst müsse unter allen Umständen und vor allen Dingen sich den Zutritt zu Rogoshin erzwingen und sich von ihm über alles positive Auskunft geben lassen. Wenn Rogoshin nicht zu Hause sei (was zuverlässig festgestellt werden müsse) oder nichts sagen wolle, so müsse der Fürst zum Semjonowskij Polk fahren, zu einer deutschen Dame, einer Bekannten von Nastasja Filippowna, die dort mit ihrer Mutter wohne: vielleicht habe Nastasja Filippowna in ihrer Aufregung und in dem Wunsch, sich verborgen zu halten, bei denen übernachtet. Der Fürst erhob sich in sehr bedrückter Stimmung; die Damen erzählten später, er sei „furchtbar blaß“ geworden; tatsächlich konnte er sich kaum auf den Beinen halten. Endlich hörte er aus dem schrecklichen Stimmengewirr heraus, daß sie sich verabredeten, ihm behilflich zu sein, und ihn nach seiner Adresse in der Stadt fragten. Eine Adresse, unter der er zu erreichen gewesen wäre, hatte er gar nicht, und so rieten sie ihm denn, in einem Gasthaus Quartier zu nehmen. Der Fürst überlegte ein Weilchen und gab ihnen dann die Adresse seines früheren Gasthauses an, desselben, wo er vor fünf Wochen den Anfall gehabt hatte. Dann begab er sich wieder zu Rogoshin. Dieses Mal wurde nicht nur bei Rogoshin nicht geöffnet, sondern auch die Tür zur Wohnung der alten Mutter blieb geschlossen. Der Fürst begab sich zum Hausknecht und fand ihn mit Mühe auf dem Hof; der Hausknecht war irgendwie beschäftigt und antwortete kaum, er sah den Fürsten sogar kaum an, aber er erklärte doch mit Bestimmtheit, Parfen Semjonowitsch sei ganz früh weggegangen, er sei nach Pawlowsk gefahren und werde heute nicht mehr nach Hause kommen.

„Ich werde warten; vielleicht kommt er am Abend?“

„Vielleicht bleibt er auch eine Woche weg, wer kann das wissen?“

„Also hat er doch heute hier übernachtet?“

„Übernachtet hat er hier schon …“

All dies war verdächtig und unheimlich. Sehr möglich, daß der Hausknecht in der Zwischenzeit neue Instruktionen erhalten hatte: vorhin war er geradezu redselig gewesen, und jetzt wandte er sich einfach vom Fürsten ab. Aber der Fürst beschloß, nach zwei Stunden noch einmal wiederzukommen und, wenn nötig, sogar bei dem Haus Wache zu halten; jetzt aber blieb noch die Hoffnung auf die Deutsche, und er fuhr eiligst zum Semjonowskij Polk.

Aber bei der Deutschen fand er überhaupt kein Verständnis für seine Wünsche. Aus einigen flüchtigen Andeutungen konnte er sogar entnehmen, daß die schöne Deutsche sich vor ungefähr vierzehn Tagen mit Nastasja Filippowna überworfen hatte, so daß sie alle diese Tage von ihr nichts gehört hatte und jetzt ausdrücklich zu verstehen gab, es interessiere sie gar nicht, wieder von ihr zu hören, „und wenn sie alle Fürsten der Welt heiratet“. Der Fürst beeilte sich, wieder wegzugehen. Es kam ihm unter anderm der Gedanke, sie sei vielleicht wie damals nach Moskau gefahren und Rogoshin selbstverständlich hinter ihr her, vielleicht aber auch mit ihr zusammen. ‚Wenn man wenigstens irgendwelche Spuren finden könnte!‘ dachte er. Er erinnerte sich jedoch, daß er in dem Gasthaus Quartier nehmen mußte, und eilte nach der Litejnaja-Straße; dort wies man ihm sogleich ein Zimmer an. Der Kellner fragte ihn, ob er etwas essen wolle; er bejahte in seiner Zerstreutheit und war, als er dann seine Gedanken gesammelt hatte, sehr ärgerlich auf sich selbst, weil das Essen ihn unnötigerweise eine halbe Stunde aufhielt; erst nachher fiel ihm ein, daß ihn ja nichts gehindert hätte, das bestellte Essen im Stich zu lassen. Eine sonderbare Empfindung bemächtigte sich seiner in diesem halbdunklen, heißen Korridor, eine Empfindung, die qualvoll danach strebte, sich in einen Gedanken zu verwandeln; aber er konnte absolut nicht erraten, worin dieser neue, sich aufdrängende Gedanke eigentlich bestand. Als er endlich das Gasthaus verließ, war er kaum bei Sinnen; ihn schwindelte, aber wohin sollte er fahren? Er eilte wieder zu Rogoshin.

Rogoshin war nicht zurückgekehrt; auf sein Klingeln wurde nicht geöffnet; er klingelte bei der alten Rogoshina; es wurde geöffnet und ihm gesagt, Parfen Semjonowitsch sei nicht da und werde vielleicht drei Tage wegbleiben. Auffällig war dem Fürsten, daß die Dienerin ihn wie früher mit einer seltsamen Neugier musterte. Den Hausknecht fand er diesmal überhaupt nicht. Nachdem er das Haus verlassen hatte, ging er wie das vorige Mal auf den gegenüberliegenden Gehsteig, sah nach den Fenstern und wanderte in der drückenden Hitze eine halbe Stunde, vielleicht auch noch länger, auf und ab; aber dieses Mal bewegte sich nichts; die Fenster öffneten sich nicht; die weißen Vorhänge waren unbeweglich. Er sagte sich endgültig, daß es ihm gewiß auch vorhin nur so vorgekommen sei und daß die Fenster allem Anschein nach so trübe und so lange nicht geputzt seien, daß man es schwer erkennen könne, wenn wirklich jemand durch die Scheiben sähe. Erfreut über diesen Gedanken, fuhr er wieder zum Ismailowskij Polk zu der Lehrerwitwe.

Dort erwartete man ihn bereits. Die Lehrerwitwe war schon an drei, vier Stellen gewesen und sogar selbst zu Rogoshin gefahren, hatte aber nicht die geringste Spur gefunden. Der Fürst hörte schweigend zu, trat ins Zimmer, setzte sich auf das Sofa und blickte alle an, als verstünde er gar nicht, wovon sie redeten. Sonderbar: bald war er außerordentlich aufmerksam, bald wurde er auf einmal wieder in unglaublichem Maße zerstreut. Die ganze Familie erklärte später, er sei an diesem Tag „ein ganz erstaunlich sonderbarer Mensch“ gewesen, so daß sich vielleicht damals schon alles bei ihm „angedeutet“ habe. Er stand schließlich auf und bat, man möchte ihm die früher von Nastasja Filippowna bewohnten Zimmer zeigen. Dies waren zwei große, helle, hohe, sehr anständig möblierte Zimmer, deren Mietspreis ziemlich hoch war. Alle diese Damen erzählten später, der Fürst habe in den Zimmern jeden Gegenstand betrachtet, er habe auf einem Tischchen ein aufgeschlagenes Buch aus der Leihbibliothek gesehen, den französischen Roman „Madame Bovary“, habe an der aufgeschlagenen Stelle die Ecke eines Blattes umgebogen, um die Erlaubnis gebeten, das Buch mitnehmen zu dürfen, und ohne auf den Einwand zu hören, daß es Eigentum der Leihbibliothek sei, es sofort in die Tasche gesteckt. Er habe sich an das offene Fenster gesetzt und, als er den mit Kreide vollgeschriebenen Spieltisch bemerkt habe, gefragt, wer da gespielt habe. Sie hätten ihm erzählt, Nastasja Filippowna habe jeden Abend mit Rogoshin Schafskopf, Préférence, Müller, Whist, Eigentrumpf und alle möglichen Spiele gespielt, das Kartenspielen sei bei ihnen erst in der letzten Zeit, nach der Übersiedlung von Pawlowsk nach Petersburg, aufgekommen, denn Nastasja Filippowna habe immer geklagt, sie langweile sich, und Rogoshin sitze die ganzen Abende schweigend da und wisse über nichts zu reden, und sie habe sogar häufig darüber geweint; da habe Rogoshin eines Abends auf einmal ein Spiel Karten aus der Tasche gezogen; Nastasja Filippowna habe laut aufgelacht, und sie hätten angefangen zu spielen. Der Fürst fragte, wo die Karten seien, mit denen sie gespielt hätten. Aber die Karten waren nicht zu finden; die Karten hatte Rogoshin immer selbst in der Tasche mitgebracht, jeden Tag ein neues Spiel, und dann wieder mit fortgenommen.

Die Damen rieten ihm, noch einmal zu Rogoshin zu fahren und noch einmal möglichst stark zu klingeln und zu klopfen, aber nicht sogleich, sondern erst am Abend: „Vielleicht findet er sich doch noch ein.“ Die Lehrerwitwe erbot sich, inzwischen selbst vor Abend nach Pawlowsk zu Darja Alexejewna zu fahren, ob dort irgend etwas bekannt sei. Sie baten den Fürsten, jedenfalls um zehn Uhr abends noch einmal zu ihnen zu kommen, damit sie für den nächsten Tag Verabredungen treffen könnten. Obwohl sie ihn auf alle Weise zu trösten und ihm Hoffnung zu machen suchten, hatte sich doch völlige Verzweiflung der Seele des Fürsten bemächtigt. In unbeschreiblichem Kummer ging er zu Fuß nach seinem Gasthaus zurück. In dem sommerlichen, staubigen, stickigen Petersburg fühlte er sich wie in einem Schraubstock; er drängte sich zwischen grobem oder betrunkenem Volk durch, blickte ziellos in allerlei Gesichter und machte vielleicht einen weiten Umweg; es war schon beinahe Abend, als er im Gasthaus in sein Zimmer trat. Er beschloß, sich ein Weilchen zu erholen und dann wieder zu Rogoshin zu gehen, wie ihm geraten worden war, setzte sich auf das Sofa, stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch und dachte nach.

Gott weiß, wie lange er so dasaß, und Gott weiß, woran er dachte. Vieles war es, was ihn ängstigte, und mit Schmerz und Qual war er sich dieser Angst bewußt. Ihm fiel Wera Lebedewa ein; dann dachte er, daß Lebedew vielleicht etwas von dieser Sache wisse oder, wenn er nichts davon wisse, vielleicht schneller und leichter als er etwas darüber in Erfahrung bringen könne. Dann dachte er an Ippolit und daran, daß Rogoshin zu Ippolit gefahren war. Dann dachte er an Rogoshin selbst: an dessen Anwesenheit neulich bei der Seelenmesse, dann an die Begegnung im Park, dann auf einmal an die Begegnung hier im Korridor, als Rogoshin sich in dem Winkel versteckt hatte und mit dem Messer auf ihn wartete. Jetzt fielen ihm seine Augen ein, die Augen, die ihn damals in der Dunkelheit angeschaut hatten. Er fuhr zusammen: der Gedanke, der sich ihm vorhin hatte aufdrängen wollen, kam ihm jetzt plötzlich in den Kopf.

Dieser Gedanke bestand zum Teil darin, daß Rogoshin, wenn er in Petersburg war, mochte er sich auch zeitweilig vor ihm verbergen, dennoch unter allen Umständen schließlich zu ihm, dem Fürsten, kommen würde, sei es in guter, sei es in schlechter Absicht, vielleicht in derselben wie damals. Jedenfalls konnte Rogoshin, wenn er aus irgendeinem Grund zu ihm kommen wollte, nirgend anderswohin gehen als hierher, wieder nach diesem selben Korridor. Eine Adresse hatte der Fürst bei Rogoshin nicht hinterlassen; also konnte dieser sehr wohl denken, daß der Fürst wieder in dem früheren Gasthaus abgestiegen sei. Jedenfalls war zu erwarten, daß er versuchen würde, ihn hier zu finden … wenn er ihn sehr brauchte. Und wie konnte man wissen, vielleicht brauchte er ihn wirklich schon sehr nötig.

So dachte er, und dieser Gedanke schien ihm durchaus möglich. Er wäre, wenn er sich in diesen Gedanken vertieft hätte, nicht imstande gewesen, manche Fragen befriedigend zu beantworten: ‚Warum soll Rogoshin mich plötzlich so dringend brauchen, und warum ist es sogar ausgeschlossen, daß wir nicht schließlich zusammenkommen?‘ Aber der Fürst sagte sich in sehr bedrückter Stimmung weiter: ‚Wenn es ihm gut geht, wird er nicht kommen; eher wenn es ihm schlecht geht, und es wird ihm gewiß schlecht gehen …‘

Bei dieser Überzeugung hätte er nun allerdings auf Rogoshin zu Hause, im Hotelzimmer, warten sollen; aber es war, als könne er seinen neuen Gedanken nicht ertragen, er sprang auf, ergriff seinen Hut und lief hinaus. Auf dem Korridor war es schon fast ganz dunkel. ‚Wie, wenn er jetzt plötzlich aus jenem Winkel heraustritt und mich auf der Treppe anhält?‘ ging es ihm durch den Kopf, als er sich der bekannten Stelle näherte. Aber niemand trat heraus. Er stieg die Treppe hinunter, ging durch das Tor, trat auf den Gehsteig hinaus, wunderte sich über den dichten Menschenschwarm, der mit Sonnenuntergang auf die Straße hinausströmte (wie das in Petersburg zur Hundstagszeit immer der Fall ist), und schlug die Richtung nach der Gorochowaja-Straße ein. Als er sich von seinem Gasthaus fünfzig Schritte entfernt hatte, berührte bei der ersten Straßenkreuzung auf einmal jemand in der Menge seinen Ellbogen und sagte halblaut dicht an seinem Ohr:

„Lew Nikolajewitsch, komm mit mir mit, Bruder; ich brauche dich.“

Es war Rogoshin.

Sonderbar: der Fürst begann auf einmal, vor Freude stammelnd und die Worte kaum zu Ende sprechend, ihm zu erzählen, wie er ihn soeben im Gasthaus auf dem Korridor erwartet habe.

„Ich war dort“, erwiderte Rogoshin zu seiner Überraschung. „Komm mit!“

Der Fürst wunderte sich über diese Antwort, aber er wunderte sich erst mindestens zwei Minuten später, nachdem er die Antwort überlegt hatte. Bei dieser Überlegung erschrak er und begann Rogoshin aufmerksam zu betrachten. Dieser war ihm schon fast einen halben Schritt voraus, er schaute gerade vor sich hin und blickte keinen der Passanten an, wich aber allen mit mechanischer Vorsicht aus.

„Warum hast du mich nicht auf meinem Zimmer aufgesucht … wenn du doch im Gasthaus warst?“ fragte der Fürst auf einmal.

Rogoshin blieb stehen, sah ihn an, dachte ein Weilchen nach und sagte dann, als verstünde er die Frage nicht:

„Weißt du was, Lew Nikolajewitsch, geh du hier geradeaus bis dicht an unser Haus, verstehst du? Ich gehe auf der anderen Seite. Aber paß auf, daß wir nicht auseinanderkommen! …“

Nach diesen Worten ging er quer über die Straße nach dem gegenüberliegenden Gehsteig hinüber, sah sich um, ob der Fürst auch weitergehe, und als er bemerkte, daß dieser stehengeblieben war und mit weitgeöffneten Augen nach ihm hinblickte, machte er ihm mit der Hand ein Zeichen nach der Gorochowaja-Straße zu und ging dann weiter; indem er sich alle Augenblicke nach dem Fürsten hinwandte und ihn zum Nachkommen aufforderte. Er war augenscheinlich beruhigt, als er sah, daß der Fürst ihn verstanden hatte und nicht von dem andern Gehsteig zu ihm herüberkam. Dem Fürsten ging der Gedanke durch den Kopf, daß Rogoshin wohl nach jemand Ausschau halten und ihn nicht auf der Straße unbemerkt vorbeigehen lassen wolle und darum nach dem andern Gehsteig hinübergegangen sei. ‚Aber warum hat er denn nicht gesagt, nach wem er Ausschau hält?‘ fragte er sich. So gingen sie etwa fünfhundert Schritte, und auf einmal begann der Fürst aus irgendeinem Grund zu zittern; Rogoshin sah sich immer noch um, wenn auch jetzt seltener; der Fürst konnte seine Angst nicht mehr ertragen und winkte ihm mit der Hand. Der kam sofort über die Straße zu ihm herüber.

„Ist Nastasja Filippowna etwa bei dir?“

„Ja, sie ist bei mir.“

„Hast du vorhin hinter dem Vorhang nach mir durchs Fenster gesehen?“

„Ja …“

„Warum hast du denn …“

Aber der Fürst wußte nicht, was er weiter fragen und wie er seine Frage schließen sollte; auch schlug ihm das Herz so heftig, daß ihm das Sprechen schwerfiel. Rogoshin schwieg ebenfalls und blickte ihn wie früher an, das heißt wie in Gedanken versunken.

„Nun, dann werde ich wieder gehen“, sagte er auf einmal, indem er sich anschickte, wieder hinüberzugehen, „und du geh für dich! Wir wollen auf der Straße getrennt gehen … es ist besser so … auf verschiedenen Seiten … du wirst schon sehen.“

Als sie endlich auf den zwei verschiedenen Gehsteigen in die Gorochowaja-Straße einbogen und sich dem Haus Rogoshins näherten, wurden dem Fürsten wieder die Beine so schwach, daß er nur mit großer Mühe weitergehen konnte. Es war schon gegen zehn Uhr abends. Die Fenster in der Wohnungshälfte der alten Mutter standen wie vorhin offen, in der Rogoshinschen Hälfte waren sie geschlossen, und in der Abenddämmerung waren die heruntergelassenen weißen Vorhänge noch auffälliger. Der Fürst näherte sich dem Haus auf dem gegenüberliegenden Gehsteig; Rogoshin trat von seinem Gehsteig auf die Stufen vor der Haustür und winkte ihm mit der Hand. Der Fürst ging zu ihm hinüber und stieg die Stufen hinan.

„Daß ich nach Hause zurückgekommen bin, weiß jetzt nicht einmal der Hausknecht. Ich habe ihm vorhin gesagt, ich führe nach Pawlowsk, und bei meiner Mutter habe ich es ebenfalls gesagt“, flüsterte er mit einem schlauen, selbstzufriedenen Lächeln. „Wenn wir hineingehen, wird es niemand hören.“

Er hatte schon den Schlüssel in der Hand. Während er die Treppe hinaufstieg, drehte er sich um und machte dem Fürsten eine drohende Gebärde, er solle leiser gehen, schloß leise die Tür zu seiner Wohnung auf, ließ den Fürsten hinein, folgte ihm vorsichtig, schloß die Tür hinter sich zu und steckte den Schlüssel in die Tasche.

„Komm!“ sagte er flüsternd.

Schon von dem Gehsteig in der Litejnaja-Straße an hatte er im Flüsterton gesprochen. Trotz all seiner äußeren Ruhe befand er sich in tiefer innerer Erregung. Als sie in den vor seinem Arbeitszimmer gelegenen Saal traten, ging er ans Fenster und winkte den Fürsten geheimnisvoll zu sich heran.

„Als du vorhin bei mir klingeltest, dachte ich mir gleich, daß du es selbst wärest; ich ging auf den Zehen an die Tür und hörte, daß du mit der alten Pafnutjewna sprachst. Aber ich hatte der schon ganz früh am Morgen aufgetragen: wenn du oder irgendein Abgesandter von dir oder sonst jemand bei mir klopfen sollte, dann soll sie mich unter allen Umständen verleugnen, und besonders wenn du selbst kämst und nach mir fragtest und ihr deinen Namen angäbest. Aber als du dann weggegangen warst, kam mir der Gedanke: wie, wenn er jetzt dasteht und hersieht oder auf der Straße Wache hält? Ich ging zu ebendiesem Fenster hier, schob den Vorhang ein wenig zurück, sah hinaus, und da standest du und sahst mich gerade an … So ist das gewesen.“

„Wo ist aber … Nastasja Filippowna?“ fragte der Fürst, nur mühsam atmend.

„Sie ist … hier“, erwiderte Rogoshin langsam, nachdem er einen Augenblick mit der Antwort gezögert hatte.

„Wo denn?“

Rogoshin hob die Augen zum Fürsten und blickte ihn fest an.

„Komm …“

Er sprach immer flüsternd und ohne sich zu beeilen, langsam und wie früher seltsam nachdenklich. Selbst als er die Geschichte von dem Vorhang erzählte, machte es den Eindruck, als wolle er mit seiner Erzählung trotz aller Mitteilsamkeit etwas ganz anderes zum Ausdruck bringen.

Sie gingen in das Arbeitszimmer. In diesem Zimmer hatte sich, seit der Fürst darin gewesen war, eine gewisse Veränderung vollzogen: quer durch das ganze Zimmer war ein grünseidner Vorhang gezogen, mit zwei Eingängen, je einem an jedem Ende; er teilte von dem Zimmer einen Alkoven ab, in dem Rogoshins Bett stand. Der schwere Vorhang war heruntergelassen und die Eingänge geschlossen. Aber im Zimmer war es sehr dunkel; die „weißen“ Petersburger Sommernächte begannen schon dunkler zu werden, und wäre nicht Vollmond gewesen, so hätte man in Rogoshins Wohnung mit den heruntergelassenen Vorhängen nur schwer etwas erkennen können. Allerdings konnte man noch die Gesichter unterscheiden, wenn auch nicht gerade deutlich. Rogoshins Gesicht war blaß wie gewöhnlich; die Augen blickten den Fürsten fest an, sie glänzten stark, waren aber unbeweglich.

„Willst du nicht Licht anzünden?“ fragte der Fürst.

„Nein, das ist nicht nötig“, antwortete Rogoshin, faßte den Fürsten bei der Hand und zog ihn auf einen Stuhl nieder; er selbst setzte sich ihm gegenüber, indem er seinen Stuhl so heranzog, daß seine Knie fast gegen die des Fürsten stießen. Zwischen ihnen stand, etwas seitwärts, ein kleines rundes Tischchen. „Setz dich! Wir wollen ein Weilchen sitzen“, sagte er, als müßte er ihm zureden. Etwa eine Minute lang schwiegen sie. „Ich wußte, daß du dich in diesem selben Gasthaus einquartieren würdest“, begann er, wie manchmal die Leute zu Beginn eines bedeutsamen Gespräches mit unwichtigen Details anfangen, die in keinem direkten Bezug zur Sache stehen. „Als ich auf den Korridor kam, da dachte ich: ‚Vielleicht sitzt auch er jetzt da und wartet auf mich, wie ich auf ihn, in diesem selben Augenblick.‘ Bist du bei der Lehrerwitwe gewesen?“

„Ja, ich war dort“, versetzte der Fürst; er konnte vor starkem Herzklopfen kaum reden.

„Ich habe auch daran gedacht. ‚Es wird noch ein Gerede geben‘, dachte ich … und dann dachte ich noch: ‚Ich werde ihn zum Übernachten hierherbringen, damit wir diese Nacht zusammen …‘“

„Rogoshin! Wo ist Nastasja Filippowna?“ flüsterte der Fürst und stand, an allen Gliedern zitternd, auf.

Auch Rogoshin erhob sich.

„Dort“, flüsterte er und wies mit einer Kopfbewegung nach dem Vorhang.

„Schläft sie?“ flüsterte der Fürst.

Rogoshin blickte ihn wieder starr an wie vorher.

„Wollen wir hingehen? … Aber du … Na, gehen wir!“

Er hob die Portiere in die Höhe, blieb stehen und wandte sich wieder zum Fürsten.

„Geh hinein!“ sagte er, mit dem Kopf auf die Portiere deutend und ihn zum Vorangehen einladend. Der Fürst ging unter dem Vorhang durch.

„Es ist hier dunkel“, sagte er.

„Man kann schon sehen!“ murmelte Rogoshin.

„Ich sehe kaum … das Bett.“

„Tritt nur näher heran!“ forderte ihn Rogoshin leise auf.

Der Fürst trat noch näher, einen Schritt, einen zweiten, dann blieb er stehen. Er stand da und blickte eine oder zwei Minuten lang hin; beide schwiegen während der ganzen Zeit, wo sie an dem Bett standen; dem Fürsten klopfte das Herz so, daß er meinte, es müßte im Zimmer bei der herrschenden Totenstille zu hören sein. Aber seine Augen hatten sich schon an die Dunkelheit gewöhnt, so daß er das ganze Bett erkennen konnte; auf ihm schlief jemand, ganz ohne sich zu rühren; man hörte nicht das leiseste Rascheln, nicht das leiseste Atemholen. Der Schlafende war bis über den Kopf mit einem weißen Leinentuch zugedeckt, aber die Glieder hoben sich nur undeutlich ab; man sah nur an der Erhöhung, daß da lang ausgestreckt ein Mensch lag. Ringsherum war auf dem Fußende des Bettes, auf den beim Bett stehenden Sesseln, sogar auf dem Fußboden die abgelegte Kleidung unordentlich hingeworfen: ein reiches weißseidenes Kleid, Blumen, Bänder. Auf einem kleinen Tischchen am Kopfende blitzten die abgelegten und durcheinandergeworfenen Brillanten. Am Fußende waren Spitzen zu einem Klumpen zusammengeknüllt, und auf den weißen Spitzen wurde, unter dem Leinentuch hervorschauend, eine nackte Fußspitze sichtbar; sie sah wie aus Marmor gemeißelt aus und war von einer erschreckenden Regungslosigkeit. Der Fürst blickte hin und fühlte, daß, je länger er hinblickte, die Totenstille im Zimmer immer drückender wurde. Auf einmal fing eine erwachte Fliege zu summen an, flog über das Bett hin und verstummte am Kopfende. Der Fürst fuhr zusammen.

„Gehen wir!“ sagte Rogoshin, indem er seine Hand berührte.

Sie gingen hinaus und setzten sich wieder auf dieselben Stühle, wieder einander gegenüber. Der Fürst zitterte immer stärker und wendete seinen fragenden Blick nicht von Rogoshins Gesicht ab.

„Du zitterst ja, wie ich sehe, Lew Nikolajewitsch“, sagte Rogoshin endlich. „Fast wie in den Zeiten, wo du schwer leidend warst, erinnerst du dich, es war in Moskau? Oder wie einmal vor einem Anfall. Und ich weiß gar nicht, was ich mit dir jetzt anfangen sollte …“

Der Fürst strengte beim Zuhören alle seine Kräfte an, um das Gesagte zu verstehen, sein Blick hatte noch immer denselben fragenden Ausdruck.

„Hast du das getan?“ sagte er endlich, mit dem Kopf nach der Portiere deutend.

„Ja … ich habe es getan …“, flüsterte Rogoshin und schlug die Augen nieder.

Sie schwiegen etwa fünf Minuten lang.

„Denn“, fuhr Rogoshin fort, als hätte er seine Rede nicht unterbrochen, „denn wenn du deine Krankheit und einen Anfall bekämest und zu schreien anfingest, dann könnte es womöglich jemand von der Straße oder vom Hof aus hören, und man würde merken, daß Leute in der Wohnung übernachten; man würde anklopfen und hereinkommen … denn sie denken alle, daß ich nicht zu Hause bin. Ich habe auch kein Licht angesteckt, damit man es von der Straße oder vom Hof aus nicht bemerkt. Denn wenn ich nicht hier bin, nehme ich auch die Schlüssel mit, und es kommt in meiner Abwesenheit drei, vier Tage lang niemand herein, auch nicht zum Reinmachen; so habe ich das angeordnet. Also damit sie nicht merken, daß wir die Nacht über hier sind …“

„Warte“, unterbrach ihn der Fürst, „ich habe vorhin sowohl den Hausknecht als auch die alte Frau gefragt, ob Nastasja Filippowna die Nacht hier zugebracht hätte. Also wissen sie es schon.“

„Ich weiß, daß du danach gefragt hast. Ich habe der alten Pafnutjewna gesagt, Nastasja Filippowna sei gestern mit hergekommen und gleich gestern nach Pawlowsk gefahren, sie habe sich bei mir nur zehn Minuten aufgehalten. Sie wissen also nicht, daß sie die Nacht über hiergewesen ist, niemand. Gestern sind wir ebenso hereingekommen wie heute du und ich, ganz leise. Ich dachte noch unterwegs im stillen, sie würde nicht leise hereinkommen mögen, aber nein! Sie flüsterte, ging auf den Zehenspitzen, raffte das Kleid hoch, damit es nicht raschelte, hielt es mit der Hand fest und drohte mir auf der Treppe selbst mit dem Finger, solche Angst hatte sie vor dir. Im Zug war sie rein wie eine Wahnsinnige vor lauter Furcht und sprach selbst den Wunsch aus, hier in meiner Wohnung die Nacht über zu bleiben; ich hatte anfangs daran gedacht, sie in ihre alte Wohnung zu der Lehrerwitwe zu bringen, aber nein! ‚Da wird er mich gleich frühmorgens suchen‘, sagte sie; ‚aber du wirst mich verstecken, und morgen bei Tagesanbruch wollen wir nach Moskau‘, und dann wollte sie weiter nach Orjol. Auch beim Hinlegen redete sie immerzu davon, daß wir nach Orjol fahren wollten …“

„Warte, was willst du denn jetzt tun, Parfen, was hast du vor?“

„Siehst du, ich habe Sorge deinetwegen, weil du immer so zitterst. Die Nacht wollen wir hier zusammen verbringen. Betten sind außer dem da hier nicht vorhanden, ich habe gedacht, ich wollte von den beiden Sofas die Kissen herunternehmen und hier bei dem Vorhang für uns beide, für dich und mich, eine Lagerstatt herrichten, so daß wir nebeneinander liegen können. Denn wenn sie hereinkommen und anfangen, sich umzusehen oder zu suchen, werden sie sie gleich sehen und forttragen. Sie werden mich befragen, und ich werde erzählen, daß ich es gewesen bin, und sie werden mich sofort abführen. Also mag sie jetzt hier liegenbleiben, neben uns, neben mir und dir …“

„Ja, ja!“ stimmte ihm der Fürst lebhaft zu.

„Also wir wollen jetzt nichts verraten und sie nicht forttragen lassen.“

„Um keinen Preis!“ versetzte der Fürst. „Ja nicht, ja nicht!“

„Das war auch meine Meinung, daß wir das um keinen Preis tun und sie niemandem herausgeben wollten! Die Nacht wollen wir hier ganz still verbringen. Ich bin heute nur eine Stunde lang von Hause weggewesen, am Vormittag; die übrige Zeit war ich immer bei ihr. Und dann ging ich am Abend fort, um dich zu holen. Ich fürchte nun noch, daß es bei der Hitze riechen wird. Spürst du einen Geruch oder nicht?“

„Vielleicht spüre ich etwas, ich weiß es nicht, aber morgen früh wird es gewiß riechen.“

„Ich habe sie mit Wachstuch zugedeckt, mit gutem amerikanischem Wachstuch, und über dem Wachstuch mit einem Leinentuch, und vier offene Flaschen mit Shdanowscher Flüssigkeit habe ich danebengestellt, die stehen jetzt noch da.“

„Du hast das genauso gemacht wie … wie der in Moskau?“

„Weil man es riechen wird, Bruder. Aber wie sie daliegt … Am Morgen, wenn es hell wird, dann sieh sie dir an! Was ist mit dir? Du kannst wohl gar nicht aufstehen?“ fragte Rogoshin erstaunt und ängstlich, als er sah, daß der Fürst so zitterte, daß er nicht imstande war, sich zu erheben.

„Die Beine sind mir schwach“, murmelte der Fürst. „Das kommt von der Angst, ich kenne das … Wenn die Angst vorübergeht, werde ich wieder aufstehen können …“

„Warte noch, ich werde inzwischen das Lager für uns zurechtmachen, dann kannst du dich hinlegen … und ich werde mich zu dir legen … und dann wollen wir hören … denn, mein Junge, ich weiß noch nicht … ich weiß jetzt noch nicht alles; das sage ich dir im voraus, damit du alles darüber im voraus weißt …“

Während Rogoshin diese unklaren Worte murmelte, begann er, die Lagerstatt herzurichten. Offenbar hatte er sich eine solche schon vorher im stillen ausgedacht, vielleicht schon am Morgen. In der vorhergehenden Nacht hatte er selbst auf dem Sofa gelegen. Aber zwei Personen konnten nicht nebeneinander auf dem Sofa liegen, und er wollte jetzt durchaus zwei Lager nebeneinander herrichten; deshalb schleppte er jetzt mit großer Anstrengung von den beiden Sofas allerlei verschieden große Kissen durch das ganze Zimmer bis dicht an den einen Eingang des Vorhanges.

Es wurde eine leidliche Lagerstatt; er trat zum Fürsten, faßte ihn zärtlich und behutsam unter den Arm, half ihm auf und führte ihn zu dem Lager; es stellte sich heraus, daß der Fürst auch allein gehen konnte; denn „die Angst war vorübergegangen“; aber er zitterte doch noch immer.

„Weißt du, Bruder“, begann Rogoshin auf einmal, nachdem er den Fürsten sich auf das linke, bessere Lager hatte legen lassen und sich selbst, ohne die Kleider abzulegen, rechts von ihm hingestreckt und beide Hände hinter den Kopf gelegt hatte, „es ist heute heiß, und da wird es natürlich riechen … Die Fenster zu öffnen, fürchte ich mich; aber meine Mutter hat Töpfe mit Blumen, viele Blumen, und die duften sehr schön; ich habe daran gedacht, sie herüberzuholen, aber die alte Pafnutjewna würde etwas merken, denn sie ist sehr neugierig.“

„Ja, das ist sie“, bestätigte der Fürst.

„Soll ich vielleicht Blumen kaufen und sie ganz mit Sträußen bedecken? Aber ich glaube, sie würde mir gar zu leid tun, wenn sie so unter den Blumen daläge!“

„Hör mal …“, begann der Fürst, als wäre er verwirrt und überlegte, wonach er eigentlich fragen wollte, und vergäße es immer gleich wieder. „Hör mal, sage mir doch: womit hast du sie getötet? Mit einem Messer? Mit eben jenem Messer?“

„Ja, mit eben jenem …“

„Warte noch! Ich will dich noch etwas fragen, Parfen … ich werde dich noch nach vielem fragen, nach allem … aber sage mir lieber zuerst, zuallererst, damit ich das weiß: wolltest du sie vor meiner Hochzeit töten, vor der Trauung, an der Kirchentür, mit dem Messer? Wolltest du das oder nicht?“

„Ich weiß nicht, ob ich es wollte oder nicht …“, antwortete Rogoshin trocken, als wäre er sogar über die Frage einigermaßen verwundert und verstünde sie nicht.

„Hast du das Messer niemals nach Pawlowsk mitgenommen?“

„Nein, niemals. Ich kann dir über dieses Messer nur soviel sagen, Lew Nikolajewitsch“, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, „ich habe es heute früh aus einem verschlossenen Schubkasten herausgenommen, denn die ganze Sache geschah heute morgen zwischen drei und vier Uhr.

Es hat bei mir immer in einem Buch gelegen … Und … und … und da ist noch etwas, was mir wunderbar vorkommt: das Messer ist anderthalb oder sogar zwei Werschok tief eingedrungen … dicht unter der linken Brust … aber Blut ist nur so etwa ein halber Eßlöffel voll auf das Hemd herausgelaufen, nicht mehr …“

„Das, das, das“, stammelte der Fürst und richtete sich in furchtbarer Erregung auf, „das, das kenne ich, das habe ich gelesen … das nennt man innere Verblutung … Es kommt vor, daß kein einziger Tropfen herausfließt. Das ist so, wenn der Stoß gerade ins Herz gegangen ist …“

„Halt, hörst du?“ unterbrach ihn auf einmal Rogoshin hastig und setzte sich erschrocken auf dem Lager aufrecht. „Hörst du?“

„Nein!“ erwiderte ebenso hastig und erschrocken der Fürst und sah Rogoshin an.

„Es geht jemand! Hörst du? Im Saal …“

Beide begannen zu horchen.

„Ich höre es“, flüsterte der Fürst in festem Ton.

„Geht jemand?“

„Ja.“

„Wollen wir die Tür zuschließen oder nicht?“

„Wir wollen sie zuschließen ….“

Sie schlossen die Tür zu und legten sich beide wieder hin. Sie schwiegen lange.

„Ach ja!“ flüsterte der Fürst auf einmal aufgeregt, hastig wie vorhin, als hätte er wieder einen Gedanken erhascht und befürchtete ängstlich, ihn wieder zu verlieren; er richtete sich sogar auf seinem Lager hastig ein wenig in die Höhe. „Ja … ich wollte ja … diese Karten! Die Karten! Ich höre, du hast mit ihr Karten gespielt?“

„Ja, das habe ich getan“, erwiderte Rogoshin nach einigem Stillschweigen.

„Wo sind denn … die Karten?“

„Die Karten sind hier …“, versetzte Rogoshin, nachdem er noch länger geschwiegen hatte. „Da …“

Er zog ein gebrauchtes, in Papier gewickeltes Spiel Karten aus der Tasche und reichte es dem Fürsten. Dieser nahm es, aber mit einer Art von Befremden. Ein neues, trauriges, trostloses Gefühl schnürte ihm das Herz zusammen; er wurde sich auf einmal bewußt, daß er in diesem Augenblick und schon längst immer nicht von dem redete, wovon er reden mußte, und immer nicht das tat, was er tun mußte, und daß dies Kartenspiel, das er in den Händen hielt und über das er sich so freute, jetzt zu nichts helfen konnte, zu gar nichts. Er stand auf und schlug die Hände zusammen. Rogoshin lag da, ohne sich zu rühren, und schien seine Bewegung weder zu hören noch zu sehen; aber seine Augen leuchteten hell durch die Dunkelheit und waren weit geöffnet und starr. Der Fürst setzte sich auf einen Stuhl und begann ihn angstvoll anzusehen. So verging etwa eine halbe Stunde; auf einmal fing Rogoshin an, laut und stoßweise zu schreien und zu lachen, als hätte er vergessen, daß sie nur flüsternd reden durften:

„Den Offizier, den Offizier … erinnerst du dich, wie sie den Offizier beim Konzert mit dem Spazierstöckchen ins Gesicht schlug, erinnerst du dich? Hahaha! Und wie der Leutnant hinzusprang … Der Leutnant … der Leutnant …“

Der Fürst sprang in neuem Schrecken vom Stuhl auf. Als Rogoshin verstummt war (und das geschah plötzlich), beugte sich der Fürst leise zu ihm herab, setzte sich neben ihn und begann ihn mit stark klopfendem Herzen und nur mühsam atmend zu betrachten. Rogoshin drehte den Kopf nicht zu ihm hin und schien seine Anwesenheit ganz vergessen zu haben. Der Fürst sah ihn an und wartete; die Zeit verging, es begann hell zu werden. Rogoshin fing mitunter plötzlich an zu murmeln, laut, scharf und unzusammenhängend; er schrie und lachte; der Fürst streckte dann seine zitternde Hand nach ihm aus und berührte leise seinen Kopf und sein Haar, streichelte dieses und streichelte seine Wangen … mehr vermochte er nicht zu tun! Er selbst begann wieder zu zittern, und seine Beine waren auf einmal wieder wie gelähmt. Eine ganz neue Empfindung quälte sein Herz mit grenzenlosem Schmerz. Unterdessen war es ganz hell geworden; er legte sich endlich ganz kraftlos und verzweifelt auf das Kissen und schmiegte sein Gesicht an das blasse, regungslose Gesicht Rogoshins. Tränen strömten aus seinen Augen auf Rogoshins Wangen, aber vielleicht bemerkte er damals schon seine eigenen Tränen nicht mehr und wußte nichts mehr von ihnen …

Als viele Stunden nachher die Tür geöffnet wurde und Leute hereinkamen, fanden sie den Mörder in voller Bewußtlosigkeit und in starkem Fieber. Der Fürst saß, ohne sich zu rühren, neben ihm auf dem Lager und fuhr jedesmal, wenn der Kranke aufschrie oder zu phantasieren begann, ihm mit zitternder Hand eilig über das Haar und die Wangen, als wollte er ihn liebkosen und beruhigen. Aber er verstand nicht mehr, wonach man ihn fragte, und erkannte nicht mehr die Leute, die hereingekommen waren und ihn umringten. Und wenn Schneider selbst jetzt aus der Schweiz gekommen wäre, um sich seinen ehemaligen Schüler und Patienten anzusehen, so würde er in Erinnerung an den Zustand, in dem sich der Fürst manchmal im ersten Jahr seiner Kur in der Schweiz befunden hatte, jetzt eine verzweifelte Handbewegung gemacht und wie damals gesagt haben: „Ein Idiot!“