vi
Was Warwara Ardalionowna ihrem Bruder von der Abendgesellschaft gesagt hatte, die im Jepantschinschen Landhaus stattfinden sollte und zu der die alte Bjelokonskaja erwartet wurde, erwies sich ebenfalls als völlig richtig; die Gäste wurden wirklich am Abend eben dieses Tages erwartet; aber auch bei dieser Mitteilung hatte sie sich etwas bestimmter ausgedrückt, als sie es hätte tun sollen. Allerdings war die Abendgesellschaft sehr eilig und sogar mit einer gewissen, anscheinend sehr unnötigen Erregung arrangiert worden, eben deshalb, weil in dieser Familie „alles anders zuging als bei andern Leuten“. Dies erklärte sich aus Lisaweta Prokofjewnas Ungeduld, die „aus dem Zustand des Zweifelns herauszukommen“ wünschte, und aus der heißen Sorge der beiden Elternherzen um das Glück ihrer Lieblingstochter. Außerdem beabsichtigte die alte Bjelokonskaja tatsächlich, bald wieder abzureisen; da aber ihre Protektion in der vornehmen Welt wirklich viel bedeutete und die Eltern hofften, daß sie dem Fürsten wohlgesinnt sein werde, so rechneten sie darauf, daß die vornehme Welt Aglajas Bräutigam geradewegs aus den Händen der allmächtigen Alten entgegennehmen und daß folglich, wenn an ihm dies und das wunderlich sein sollte, es unter einer solchen Protektion weit weniger wunderlich erscheinen werde. Die Schwierigkeit bestand ja eben darin, daß die Eltern nicht imstande waren, selbst die Frage zu beantworten: „Ist bei dieser ganzen Sache etwas wunderlich und inwieweit? Oder ist dabei überhaupt nichts wunderlich?“ Eine freundschaftliche, offenherzige Meinungsäußerung maßgebender und kompetenter Personen wäre ihnen gerade im gegenwärtigen Augenblick erwünscht gewesen, wo dank Aglajas Benehmen noch nichts definitiv entschieden war. Jedenfalls mußte man den Fürsten früher oder später in die vornehme Welt einführen, von der er auch nicht die geringste Ahnung hatte. Kurz und gut, sie beabsichtigten, ihn zu „zeigen“. Die in Aussicht genommene Gesellschaft sollte jedoch nur ganz einfach werden; es wurden nur „Freunde des Hauses“ in ganz geringer Anzahl erwartet. Außer der alten Bjelokonskaja erwarteten sie noch eine Dame, die Frau eines sehr hohen Würdenträgers. Von jüngeren Leuten rechnete man fast nur auf Jewgenij Pawlowitsch; er sollte als Begleiter der alten Bjelokonskaja erscheinen.
Daß die alte Bjelokonskaja da sein würde, hatte der Fürst schon drei Tage vor der Abendgesellschaft gehört; von der Abendgesellschaft selbst aber erfuhr er erst tags zuvor. Er bemerkte selbstverständlich das geschäftige Gebaren der Familienmitglieder und durchschaute auch infolge einiger andeutender, besorgter Gespräche, die diese mit ihm führten, daß sie hinsichtlich des Eindrucks, den er machen würde, Befürchtungen hegten. Aber die Jepantschins hatten sich sämtlich eingebildet, daß er bei seiner Harmlosigkeit nicht imstande sei zu erraten, daß sie sich seinetwegen Sorge machten, was sie alle bei seinem Anblick innerlich taten. Übrigens legte er dem bevorstehenden Ereignis wirklich keinerlei Bedeutung bei; er war mit etwas ganz anderem beschäftigt: Aglaja wurde von Stunde zu Stunde launenhafter und düsterer, und das drückte ihn zu Boden. Als er erfuhr, daß auch Jewgenij Pawlowitsch erwartet wurde, freute er sich sehr und sagte, er habe ihn schon längst zu sehen gewünscht. Aus irgendeinem Grund mißfielen diese Worte allen; Aglaja verließ ärgerlich das Zimmer und benutzte erst spät am Abend, zwischen elf und zwölf Uhr, als der Fürst bereits fortging und sie ihn hinausbegleitete, die Gelegenheit, ihm ein paar Worte unter vier Augen zu sagen.
„Es wäre mir angenehm, wenn Sie morgen den ganzen Tag nicht zu uns kämen, sondern sich erst am Abend einfänden, wenn diese … Gäste sich schon versammeln. Sie wissen doch, daß wir Gäste haben werden?“
Sie sprach ungeduldig und außerordentlich mürrisch; es war das erstemal, daß sie diese Abendgesellschaft erwähnte. Für sie war der Gedanke an die Gäste fast unerträglich; das bemerkten alle. Vielleicht hatte sie große Lust, sich deswegen mit den Eltern zu zanken; aber ihr Stolz und ihre Schamhaftigkeit hinderten sie, davon anzufangen. Der Fürst erkannte sofort, daß auch sie seinetwegen ihre Befürchtungen hatte (und nicht zugeben wollte, daß dies der Fall war), und wurde nun auch seinerseits ängstlich.
„Ja, ich bin eingeladen“, antwortete er.
Es machte ihr offenbar Mühe, das Gespräch fortzusetzen.
„Kann man mit Ihnen einmal ernsthaft reden? Wenigstens einmal im Leben?“ sagte sie, plötzlich in heftigen Zorn geratend, ohne selbst zu wissen worüber, und ohne sich beherrschen zu können.
„O ja, ich werde Ihnen aufmerksam zuhören; ich freue mich sehr“, murmelte der Fürst.
Aglaja schwieg wieder ein Weilchen und begann dann mit sichtlichem Widerwillen:
„Ich wollte mit den Meinigen nicht darüber streiten; in manchen Dingen sind sie nicht zur Vernunft zu bringen. Die Lebensanschauungen, die maman manchmal hat, sind mir von jeher zuwider gewesen. Von Papa will ich nicht reden, von dem ist nichts Besseres zu erwarten. Maman ist gewiß eine anständig denkende Frau; wagen Sie einmal, ihr etwas Unwürdiges zuzumuten, dann werden Sie sehen!
Na, aber vor diesem … Pack, da kriecht sie! Ich rede nicht von der alten Bjelokonskaja; sie ist ein böses Weib und hat einen schlechten Charakter, aber sie ist klug und versteht es, die andern alle im Zaum zu halten; das ist wenigstens ein Gutes an ihr. O diese unwürdige Erniedrigung! Und wie lächerlich das ist: wir haben in gesellschaftlicher Hinsicht immer der Mittelschicht angehört, der ausgesprochensten Mittelschicht, die man sich denken kann; wozu sollen wir uns jetzt in diesen vornehmen Kreis eindrängen? Die Schwestern hauen in dieselbe Kerbe; Fürst Schtsch. hat sie alle verdreht gemacht. Warum freuen Sie sich denn darüber, daß Jewgenij Pawlytsch kommen wird?“
„Hören Sie, Aglaja“, sagte der Fürst, „mir scheint, Sie sind um mich sehr besorgt, ich könnte morgen bei dieser Abendgesellschaft durchfallen?“
„Um Sie? Besorgt?“ fuhr Aglaja auf und wurde dunkelrot. „Warum sollte ich um Sie besorgt sein, wenn Sie auch … wenn Sie sich auch völlig blamieren? Was geht das mich an? Und wie können Sie solche Ausdrücke gebrauchen? Was heißt das: ‚durchfallen‘? Das ist ein häßlicher, gemeiner Ausdruck.“
„Das ist … ein Schulausdruck.“
„Na ja, ein Schulausdruck! Ein häßlicher Ausdruck! Sie beabsichtigen, wie es scheint, morgen in lauter solchen Ausdrücken zu reden. Suchen Sie sich doch zu Hause noch möglichst viel solche Ausdrücke aus Ihrem Wörterbuch heraus: damit werden Sie Effekt machen! Schade, daß Sie, wie es scheint, verstehen, mit Anstand ins Zimmer zu treten; wo haben Sie das nur gelernt? Verstehen Sie es, eine Tasse Tee mit Anstand in Empfang zu nehmen und auszutrinken, wenn alle absichtlich nach Ihnen hinsehen?“
„Ich meine, daß ich es verstehe.“
„Das ist schade; sonst hätte ich etwas zum Lachen. Zerbrechen Sie wenigstens die chinesische Vase im Salon! Sie ist sehr wertvoll: bitte zerbrechen Sie die; sie ist ein Geschenk, Mama wird den Verstand verlieren und in Gegenwart aller in Tränen ausbrechen, so ist sie ihr ans Herz gewachsen. Machen Sie irgendeine Handbewegung, wie Sie das zu tun pflegen, stoßen Sie dabei an die Vase und zerbrechen Sie sie! Setzen Sie sich absichtlich daneben!“
„Im Gegenteil, ich werde mich bemühen, mich möglichst weit davon zu setzen: ich danke Ihnen, daß Sie mich gewarnt haben.“
„Also fürchten Sie doch im voraus, daß Sie stark gestikulieren werden. Ich möchte wetten, daß Sie über irgendein ‚Thema‘ sprechen werden, über irgend etwas Ernstes, Gelehrtes, Großartiges; das wird äußerst … wohlanständig sein!“
„Ich meine, es würde dumm herauskommen, wenn ich zu unpassender Zeit von dergleichen anfangen wollte.“
„Hören Sie ein für allemal“, Aglaja wurde es jetzt endlich zuviel, „wenn Sie wieder über solche Dinge Vorträge halten werden wie über die Todesstrafe oder über die wirtschaftliche Lage Rußlands oder darüber, daß ‚die Welt durch die Schönheit erlöst wird‘, dann … werde ich mich natürlich freuen und sehr lachen, aber … ich sage Ihnen dann im voraus: kommen Sie mir dann nicht wieder unter die Augen! Hören Sie wohl: ich rede im Ernst! Diesmal rede ich wirklich im Ernst!“
Sie sprach diese Drohung tatsächlich in ernstem Ton aus, so daß aus ihren Worten und ihrem Blick sogar etwas Ungewöhnliches sprach, was der Fürst früher nie bemerkt hatte und was allerdings nicht nach Scherz aussah.
„Nun, Sie haben bewirkt, daß ich jetzt unfehlbar ‚einen Vortrag halten‘ und vielleicht sogar die Vase zerbrechen werde. Vorhin hatte ich noch keine Befürchtungen, aber jetzt befürchte ich alles. Ich werde mit Sicherheit durchfallen.“
„Schweigen Sie also! Sitzen Sie still, und schweigen Sie!“
„Das wird nicht angehen; ich bin überzeugt, daß ich vor Angst anfangen werde zu reden und vor Angst die Vase zerbrechen werde. Vielleicht werde ich auch auf dem glatten Fußboden hinfallen, oder es wird sonst etwas passieren, denn dergleichen ist mir schon begegnet. Und nun werde ich die ganze Nacht davon träumen. Warum haben Sie auch davon zu reden angefangen!“
Aglaja blickte ihn finster an.
„Wissen Sie was?“ fuhr der Fürst nach einer kleinen Pause endlich fort. „Das beste wird sein, wenn ich morgen gar nicht herkomme! Ich werde einen Zettel schicken, daß ich krank bin, und die Sache ist erledigt!“
Aglaja stampfte mit dem Fuß und wurde ganz blaß vor Zorn.
„Mein Gott! Hat man je so etwas erlebt! Er will nicht herkommen, wo doch alles eigens seinetwegen … o Gott! Ja, es ist ein Vergnügen, mit so einem … unvernünftigen Menschen zu tun zu haben wie Ihnen!“
„Nun, ich werde kommen, ich werde kommen!“ unterbrach der Fürst sie schnell. „Und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich den ganzen Abend dasitzen werde, ohne ein Wort zu sagen. Ich werde es ganz bestimmt so machen.“
„Daran werden Sie guttun. Sie sagten soeben ‚krank melden‘; wo nehmen Sie eigentlich solche Ausdrücke her? Wie kommen Sie dazu, mir gegenüber solche Ausdrücke zu gebrauchen? Sie wollen mich wohl damit aufziehen?“
„Verzeihung! Das ist ebenfalls ein Schulausdruck; ich werde es nicht wieder tun. Ich begreife sehr wohl, daß Sie … Befürchtungen wegen meiner Person hegen … (aber werden Sie doch nicht böse!), und ich freue mich darüber sehr. Sie glauben gar nicht, wie ich mich jetzt vor Ihren Worten fürchte und — wie ich mich über Ihre Worte freue. Aber diese ganze Furcht ist nach meiner festen Überzeugung nur Torheit und dummes Zeug, wahrhaftig, Aglaja; aber die Freude wird bleiben. Ich habe es sehr gern, daß Sie ein solches Kind sind, ein so liebes, gutes Kind! Ach, wie schön Sie sein können, Aglaja!“
Aglaja wollte natürlich eine zornige Antwort geben und setzte schon dazu an, aber plötzlich erfüllte ein Gefühl, das für sie selbst überraschend war, in einem Augenblick ihre ganze Seele.
„Werden Sie mir auch meine jetzigen unartigen Reden nicht … später einmal … vorhalten?“ fragte sie plötzlich.
„Was reden Sie da! Was reden Sie da! Und warum sind Sie wieder so rot geworden? Und jetzt sehen Sie wieder so finster aus! Sie machen jetzt manchmal ein so finsteres Gesicht, Aglaja, wie Sie es früher nie taten. Ich weiß, warum …“
„Schweigen Sie, schweigen Sie!“
„Nein, es ist besser, wenn wir darüber reden. Ich wollte schon lange davon sprechen; ich habe schon früher einmal davon gesprochen, aber … das war zuwenig, denn Sie haben mir nicht geglaubt. Zwischen uns steht immer noch ein Wesen …“
„Schweigen Sie, schweigen Sie, schweigen Sie, schweigen Sie!“ unterbrach ihn Aglaja; sie faßte ihn kräftig am Arm und sah ihn angstvoll an. In diesem Augenblick wurde sie gerufen; sie schien sich darüber zu freuen, ließ ihn stehen und lief davon.
Der Fürst lag die ganze Nacht im Fieber. Seltsamerweise hatte er schon mehrere Nächte hintereinander gefiebert. Diesmal kam ihm im halben Delirium der Gedanke: wenn er nun morgen in Gegenwart aller einen Anfall bekäme, was dann? Er hatte ja schon solche plötzlichen Anfälle gehabt. Bei diesem Gedanken überlief es ihn eiskalt; die ganze Nacht über sah er sich in einer wunderlichen, unerhörten Gesellschaft zwischen irgendwelchen sonderbaren Leuten. Die Hauptsache dabei war, daß er „einen Vortrag hielt“; er wußte, daß er nicht reden sollte, redete aber doch die ganze Zeit und suchte die Anwesenden zu etwas zu überreden. Jewgenij Pawlowitsch und Ippolit befanden sich ebenfalls unter den Gästen und schienen sehr gute Freunde zu sein.
Er erwachte zwischen acht und neun Uhr mit Kopfschmerzen, mit einer argen Verwirrung aller Gedanken und mit seltsamen Empfindungen. Aus irgendeinem Grunde fühlte er ein lebhaftes Verlangen, Rogoshin wiederzusehen, ihn wiederzusehen und viel mit ihm zu reden; worüber eigentlich, das wußte er selbst nicht; dann beschloß er, zu Ippolit zu gehen. In seinem Herzen herrschte eine gewisse Verworrenheit, so daß das, was er an diesem Vormittag erlebte, einen zwar sehr starken, aber dabei doch irgendwie unvollständigen Eindruck auf ihn machte. Eines dieser Erlebnisse war der Besuch Lebedews.
Lebedew erschien ziemlich früh, bald nach neun Uhr, und fast ganz betrunken. Obgleich der Fürst in der letzten Zeit auf seine Umgebung nicht viel geachtet hatte, war es ihm doch aufgefallen, daß, seitdem General Iwolgin vor drei Tagen von ihnen weggegangen war, Lebedew sich sehr schlecht aufführte. Er hatte auf einmal angefangen, sehr unsauber und schmutzig auszusehen; das Halstuch saß ihm schief, der Rockkragen war zerrissen. In seiner Wohnung tobte er nur so umher, so daß es über den Hof zu hören war; Wera kam einmal weinend zum Fürsten und erzählte ihm allerlei. Als er jetzt erschien, begann er in ganz seltsamer Weise zu reden, schlug sich gegen die Brust und beschuldigte sich selbst …
„Ich habe nun … ich habe nun den Lohn für meinen Verrat und für meine Gemeinheit erhalten … Ich habe eine Ohrfeige bekommen!“ schloß er endlich mit tragischem Pathos.
„Eine Ohrfeige? Von wem? … Und so früh am Morgen?“
„So früh am Morgen?“ versetzte Lebedew, sarkastisch lächelnd. „Die Zeit spielt dabei keine Rolle … nicht einmal bei einer physischen Bestrafung … aber ich habe eine moralische … eine moralische Ohrfeige erhalten und keine physische!“
Er setzte sich ungeniert hin und begann zu erzählen. Seine Erzählung war sehr unzusammenhängend; der Fürst wollte schon stirnrunzelnd weggehen, als ihn plötzlich einige Worte frappierten. Er war starr vor Verwunderung … Herr Lebedew erzählte seltsame Dinge.
Anfangs handelte es sich anscheinend um irgendeinen Brief; dabei kam Aglaja Iwanownas Name vor. Dann begann Lebedew auf einmal, sich bitter über den Fürsten selbst zu beklagen; man konnte erraten, daß er sich von dem Fürsten beleidigt fühlte. Zuerst habe der Fürst hinsichtlich seiner Beziehungen zu einer gewissen „Person“ (zu Nastasja Filippowna) ihn seines Vertrauens gewürdigt, dann aber sich ganz von ihm losgesagt und ihn mit Schimpf und Schande weggejagt und sogar in so beleidigender Weise, daß er das letztemal „die harmlose Frage nach den nahe bevorstehenden Veränderungen im Hause“ unhöflich zurückgewiesen habe. Mit Tränen, wie Betrunkene sie leicht vergießen, gestand Lebedew, nach alledem habe er es nicht mehr aushalten können, um so weniger, als er vieles wisse … sehr vieles … was ihm viele Personen mitgeteilt hätten: Rogoshin und Nastasja Filippowna und Nastasja Filippownas Freundin und Warwara Ardalionowna und … und sogar Aglaja Iwanowna selbst. „Können Sie sich das vorstellen? Durch Weras Vermittlung, durch Vermittlung meiner geliebten Tochter Wera, meiner einzigen Tochter … jawohl … übrigens nicht meiner einzigen, denn ich habe drei. Aber wer hat auf brieflichem Wege Lisaweta Prokofjewna Mitteilungen zugehen lassen, sogar unter dem Siegel des allertiefsten Geheimnisses, hehe? Wer hat sie von allen Beziehungen und Handlungen jener Person Nastasja Filippowna, in Kenntnis gesetzt, hehehe? Gestatten Sie die Frage: wer ist dieser Anonymus gewesen?“
„Sind das wirklich Sie gewesen?“ rief der Fürst. „Allerdings“, antwortete der Betrunkene würdevoll; „und erst heute, um halb neun, erst vor einer halben Stunde … nein, es ist schon eine Dreiviertelstunde her, da habe ich die hochedle Mutter wissen lassen, ich hätte ihr ein sehr wichtiges Ereignis mitzuteilen. Durch ein Zettelchen habe ich sie es wissen lassen, durch das Dienstmädchen, von der Hintertür aus. Sie hat mich empfangen.“
„Sie haben soeben Lisaweta Prokofjewna gesehen?“ fragte der Fürst, der kaum seinen Ohren traute.
„Ich habe sie soeben gesehen und eine Ohrfeige erhalten … eine moralische Ohrfeige. Sie gab mir den Brief zurück oder schleuderte ihn mir vielmehr hin, ungeöffnet … und jagte mich mit einem Fußtritt hinaus … übrigens nur im moralischen Sinne … beinah aber auch im physischen, es fehlte nicht viel daran!“
„Was war denn das für ein Brief, den sie Ihnen ungeöffnet hingeschleudert hat?“
„Habe ich es denn … Hehehe! Aber ich habe es Ihnen ja noch nicht gesagt! Ich glaubte, es Ihnen schon gesagt zu haben … Ich hatte so ein Briefchen zur Bestellung erhalten …“
„Von wem? An wen?“
Aber es war sehr schwer, aus manchen „Erklärungen“ Lebedews klug zu werden oder auch nur etwas davon zu verstehen. Der Fürst konnte nur so viel begreifen, daß der Brief frühmorgens seiner Tochter Wera von einem Dienstmädchen eingehändigt sei zum Zweck der Bestellung an eine Adresse … „ebenso wie schon früher … ebenso wie schon früher ein Brief von derselben Dame an eine gewisse Person … (denn ich nenne die eine von ihnen eine Dame und die andere nur eine Person, um die letztere herabzusetzen und sie beide zu unterscheiden, denn es ist ein großer Unterschied zwischen einer unschuldigen, hochwohlgeborenen Generalstochter und … so einer Kameliendame); jener Brief war also von der Dame, deren Name mit dem Buchstaben A anfängt …“
„Wie ist das möglich? An Nastasja Filippowna? Unsinn!“ rief der Fürst.
„Doch, doch, an die war er, und wenn nicht an sie, so an Rogoshin, das ist ganz dasselbe … und es ist sogar einmal ein Brief, den die Dame mit dem Buchstaben A an Herrn Terentjew geschrieben hatte, zur Bestellung abgegeben worden“, sagte Lebedew lächelnd und augenzwinkernd.
Da er häufig von einem Gegenstand zum andern sprang und vergaß, wovon er zu sprechen angefangen hatte, so schwieg der Fürst, um ihn sich aussprechen zu lassen. Aber es blieb dennoch sehr unklar, ob die Briefe eigentlich durch seine oder durch Weras Hände gegangen waren. Wenn er selbst versicherte, an Rogoshin und an Nastasja Filippowna, das sei ganz dasselbe, so war es danach wahrscheinlicher, daß die Briefe nicht durch seine Hände gegangen waren, vorausgesetzt, daß sie überhaupt existiert hatten. Auf welche Weise ihm jetzt ein Brief in die Hände gekommen war, blieb völlig ungeklärt; am wahrscheinlichsten war die Annahme, daß er ihn Wera irgendwie weggenommen … ihn ihr heimlich entwendet und in irgendwelcher Absicht zu Lisaweta Prokofjewna getragen hatte. Das war die Auffassung, zu der der Fürst schließlich gelangte.
„Sie sind verrückt geworden!“ rief er ganz fassungslos.
„Nicht ganz, hochgeehrter Fürst“, erwiderte Lebedew nicht ohne Bosheit. „Allerdings wollte ich den Brief eigentlich Ihnen einhändigen, zu eigenen Händen, um Ihnen einen Dienst zu erweisen … aber ich entschied mich dann doch dafür, mich lieber dort verdient zu machen und der edelsten Mutter über alles Klarheit zu verschaffen … wie ich ja auch schon früher einmal ihr durch einen anonymen Brief eine Mitteilung hatte zugehen lassen; und als ich vorhin um acht Uhr zwanzig Minuten den Zettel schrieb, in dem ich bat, mich zu empfangen, unterzeichnete ich: ‚Ihr geheimer Korrespondent‘; ich wurde sofort bei der hochedlen Mutter vorgelassen, unverzüglich, sogar mit ganz besonderer Eile, durch den hinteren Eingang …“
„Nun, und?“
„Aber da hat sie mich beinah geprügelt; es war nahe daran, ganz nahe daran, so daß sie mich so gut wie geprügelt hat. Und den Brief schleuderte sie mir hin. Allerdings wollte sie ihn zuerst behalten, das sah ich, das bemerkte ich, aber sie änderte ihre Absicht und schleuderte ihn mir hin: ‚Wenn er dir, einem solchen Menschen, zur Bestellung anvertraut ist, dann bestell ihn auch …‘ Sie fühlte sich ordentlich beleidigt. Wenn sie sich nicht geschämt hat, in meiner Gegenwart so zu reden, so muß sie sich wohl beleidigt gefühlt haben. Was für einen jähzornigen Charakter sie hat!“
„Wo ist der Brief jetzt?“
„Ich habe ihn immer noch, da ist er.“
Er übergab dem Fürsten Aglajas Billett an Gawrila Ardalionowitsch, das dieser an demselben Vormittag zwei Stunden später triumphierend seiner Schwester zeigte.
„Diesen Brief dürfen Sie nicht behalten.“
„Ich gebe ihn Ihnen, Ihnen! Ihnen bringe ich ihn!“ rief Lebedew eifrig. „Jetzt bin ich wieder nach einer vorübergehenden Untreue mit Kopf und Herz Ihr Diener! Bestrafen Sie das Herz, aber schonen Sie den Bart, wie Thomas Morus sagte … in England und in Großbritannien. Mea culpa, mea culpa, wie die römische Päpstin sagt … das heißt, er ist der römische Papst, aber ich nenne ihn die römische Päpstin.“
„Dieser Brief muß sogleich dem Adressaten eingehändigt werden“, sagte der Fürst eifrig. „Ich werde ihn ihm zustellen.“
„Aber wäre es nicht besser, wäre es nicht besser, besterzogener Fürst, wäre es nicht besser … so!“
Lebedew schnitt eine sonderbare, rührende Grimasse, bewegte sich unruhig auf seinem Platz hin und her, als stäche man ihn mit einer Nadel, zwinkerte schlau mit den Augen und suchte durch Gebärden, die er mit den Händen machte, etwas zu verdeutlichen.
„Was soll das heißen?“ fragte der Fürst in strengem Ton.
„Man sollte ihn doch zunächst öffnen!“ flüsterte Lebedew gerührt und gleichsam vertraulich.
Der Fürst sprang in solchem Zorn auf, daß Lebedew schon davonlaufen wollte; aber als er bis zur Tür gekommen war, blieb er stehen, um abzuwarten, ob der Fürst nicht wieder gnädig werden würde.
„Ach, Lebedew, wie kann nur jemand auf eine so unwürdige Handlung verfallen, wie Sie sie vorschlagen!“ rief der Fürst traurig.
Lebedews Miene hellte sich auf.
„Ich bin ein gemeiner Mensch, ein gemeiner Mensch!“ sagte er und näherte sich dem Fürsten sofort wieder, indem er Tränen vergoß und sich gegen die Brust schlug.
„Das ist ja eine Schändlichkeit!“
„Gewiß, eine Schändlichkeit. Das ist der richtige Ausdruck.“
„Und was haben Sie für eine häßliche Angewohnheit, so … merkwürdige Dinge zu tun? Sie sind ja … der reine Spion! Warum haben Sie anonym geschrieben und eine so edeldenkende, gute Frau in Aufregung versetzt? Und endlich, warum soll Aglaja Iwanowna nicht das Recht haben, zu schreiben an wen sie will? Warum gingen Sie denn heute hin — etwa um sich zu beschweren? Was hofften Sie dort zu erreichen? Was veranlaßte Sie zu dieser Denunziation?“
„Einzig und allein eine angenehme Neugier und … die Dienstfertigkeit meines edlen Herzens, jawohl!“ murmelte Lebedew. „Jetzt aber bin ich ganz der Ihrige, ganz wieder der Ihrige! Meinetwegen können Sie mich aufhängen lassen!“
„Sind Sie in dem Zustand, in dem Sie sich jetzt befinden, auch vor Lisaweta Prokofjewna erschienen?“ erkundigte sich, von Ekel erfüllt, der Fürst.
„Nein … da war ich noch frischer … und anständiger; in diesen Zustand habe ich mich erst nach meiner Demütigung versetzt …“
„Nun gut, dann verlassen Sie mich jetzt!“
Übrigens mußte diese Aufforderung mehrmals wiederholt werden, bis der Besucher sich endlich entschloß wegzugehen. Sogar als er die Tür schon ganz geöffnet hatte, kehrte er noch einmal um, ging auf den Zehen bis in die Mitte des Zimmers zurück und begann von neuem mit den Fingern Zeichen zu machen, durch die er zeigen wollte, wie man einen Brief öffnet; seinen Rat in Worten auszusprechen, wagte er nicht; dann ging er mit leisem, freundlichem Lächeln hinaus.
Es war für den Fürsten überaus peinlich gewesen, dies alles anzuhören. Aus allem ergab sich die eine wichtige, bedeutsame Tatsache, daß Aglaja aus irgendeinem Grund („aus Eifersucht“, flüsterte der Fürst vor sich hin) sich in großer Unruhe, in großer Unentschlossenheit und in großer Pein befand. Es ergab sich ferner, daß schlechte Menschen sie in Verwirrung brachten, und es war sehr seltsam, daß sie ihnen soviel Vertrauen schenkte. Offenbar reiften in diesem unerfahrenen, aber hitzigen und stolzen Köpfchen besondere Pläne, vielleicht verderbliche und … ganz unerhörte Pläne. Der Fürst war in höchstem Grade erschrocken und wußte in seiner Verwirrung nicht, wozu er sich entschließen sollte. Unter allen Umständen mußte er etwas verhindern; das fühlte er. Er blickte noch einmal auf die Adresse des versiegelten Briefes: oh, hier gab es für ihn keine Zweifel und keine Beunruhigung, weil er glaubte und vertraute; was ihn bei diesem Brief beunruhigte, war etwas anderes: er traute Gawrila Ardalionowitsch nicht. Und doch war er bereits entschlossen, ihm diesen Brief persönlich zu übergeben, und hatte schon zu diesem Zweck das Haus verlassen, aber unterwegs änderte er seine Absicht. Beinah bei Ptizyns Haus begegnete ihm, wie gerufen, Kolja, und der Fürst beauftragte ihn, den Brief seinem Bruder persönlich zu übergeben, als wenn derselbe direkt von Aglaja Iwanowna selbst käme. Kolja fragte nicht weiter und gab ihn ab, so daß Ganja gar nicht ahnte, daß der Brief so viele Zwischenstationen passiert hatte. Als der Fürst nach Hause zurückgekehrt war, ließ er Wera Lukjanowna zu sich bitten, erzählte ihr, was erforderlich war, und beruhigte sie, denn sie hatte bis dahin immer nach dem Brief gesucht und geweint. Sie bekam einen großen Schreck, als sie erfuhr, daß ihr Vater den Brief weggetragen habe. (Der Fürst erfuhr von ihr erst später, daß sie zu wiederholten Malen bei der geheimen Korrespondenz zwischen Rogoshin und Aglaja Iwanowna behilflich gewesen war; es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, daß dem Fürsten daraus irgendein Nachteil erwachsen könnte …)
Der Fürst war schließlich in solche Verwirrung geraten, daß, als zwei Stunden darauf ein von Kolja abgeschickter Bote mit der Nachricht von der Erkrankung des Vaters zu ihm gelaufen kam, er im ersten Augenblick nicht begriff, um was es sich handelte. Aber dieser Vorfall brachte ihn wieder zur Besinnung, da er ihn von seinen eigenen Sorgen stark ablenkte. Er verbrachte bei Nina Alexandrowna, zu der der Kranke selbstverständlich gebracht worden war, fast die ganze Zeit bis zum Abend. Er konnte sich fast gar nicht nützlich machen; aber es gibt Menschen, die man in gewissen schweren Augenblicken gern um sich sieht. Kolja war furchtbar ergriffen und weinte krampfhaft, rannte aber doch die ganze Zeit herum: er lief nach einem Arzt und schickte ihrer gleich drei, lief nach der Apotheke und zum Bader. Der General wurde zwar wieder ins Leben zurückgerufen, aber nicht zum Bewußtsein gebracht; die Ärzte sprachen sich dahin aus, der Patient befinde sich „jedenfalls in Gefahr“. Warja und Nina Alexandrowna wichen nicht vom Krankenlager; Ganja war bestürzt und erschüttert, mochte aber nicht nach oben gehen und fürchtete sich sogar, den Kranken zu sehen; er rang die Hände und äußerte, als er mit dem Fürsten sprach, in unzusammenhängender Rede: „So ein Unglück! Und gerade in solch einem Augenblick!“ Der Fürst glaubte zu verstehen, von was für einem Augenblick er sprach. Ippolit traf der Fürst nicht mehr in Ptizyns Hause an. Gegen Abend kam Lebedew angelaufen, der nach der morgendlichen Aussprache bis dahin ununterbrochen geschlafen hatte. Jetzt war er beinah nüchtern und vergoß um den Kranken aufrichtige Tränen wie um einen leiblichen Bruder. Er klagte sich laut an, ohne jedoch zu erklären, worin sein Verschulden bestehe, und setzte der armen Nina Alexandrowna mit der alle Augenblicke wiederholten Versicherung zu, er, er selbst, niemand als er sei daran schuld … einzig und allein aus angenehmer Neugier habe er es getan, und der Entschlafene (so nannte er wunderlicherweise den noch lebenden General) sei sogar ein höchst genialer Mensch gewesen. Er betonte mit besonderm Ernst immer wieder dessen Genialität, als ob das in diesem Augenblick irgendwelchen besonderen Nutzen hätte bringen können. Nina Alexandrowna, die seine aufrichtigen Tränen sah, sagte schließlich zu ihm ohne jeden Vorwurf und beinah mit einer Art von Zärtlichkeit: „Wir wollen es gut sein lassen, weinen Sie nicht mehr, Gott wird Ihnen verzeihen!“ Lebedew war durch diese Worte und den Ton, in dem sie gesprochen wurden, so gerührt, daß er den ganzen Abend nicht mehr von Nina Alexandrownas Seite weichen wollte (auch an den folgenden Tagen, bis zum Tod des Generals, verbrachte er fast die ganze Zeit vom Morgen bis in die Nacht in diesem Haus). Im Laufe des Tages kam zweimal zu Nina Alexandrowna ein Bote von Lisaweta Prokofjewna, um über das Befinden des Kranken Erkundigungen einzuziehen. Als am Abend um neun Uhr der Fürst im Salon bei Jepantschins erschien, der sich bereits mit Gästen gefüllt hatte, begann Lisaweta Prokofjewna ihn sofort teilnahmsvoll und eingehend nach dem Kranken auszufragen und beantwortete mit ruhigem Ernst die Fragen der alten Bjelokonskaja, was das für ein Kranker und für eine Nina Alexandrowna sei. Dem Fürsten gefiel das sehr. Er selbst redete bei seinem Gespräch mit Lisaweta Prokofjewna „sehr schön“, wie sich nachher Aglajas Schwestern ausdrückten: „Bescheiden, leise, ohne überflüssige Worte, ohne Gestikulationen und mit Würde; in den Salon ist er sehr gewandt eingetreten, sein Anzug war tadellos“; er fiel keineswegs auf dem glatten Fußboden hin, wie er tags zuvor befürchtet hatte, sondern machte sogar offenbar auf alle einen recht angenehmen Eindruck.
Seinerseits bemerkte er, nachdem er sich hingesetzt und um sich geblickt hatte, sofort, daß diese ganze Gesellschaft durchaus nicht den Schreckgespenstern glich, mit denen ihm Aglaja gestern hatte bange machen wollen, oder den Traumgestalten, die er in der Nacht im Schlaf gesehen hatte. Zum erstenmal in seinem Leben sah er ein Stückchen von dem, was man mit dem furchtbaren Namen „die vornehme Welt“ bezeichnet. Er hatte infolge gewisser besonderer Absichten, Pläne und Neigungen sich schon längst danach gesehnt, in diesen Zauberkreis einzudringen, und war daher sehr gespannt auf den ersten Eindruck, den dies alles auf ihn machen würde. Dieser erste Eindruck war geradezu zauberhaft. Es kam ihm so vor, als seien alle diese Menschen dazu geboren, miteinander zusammen zu sein; als gebe es bei Jepantschins an diesem Abend keine „Gesellschaft“ und keine geladenen Gäste, sondern Leute aus dem engsten Bekanntenkreis, und als sei er selbst schon lange ihr ergebener Freund und Gesinnungsgenosse und jetzt nach kurzer Abwesenheit zu ihnen zurückgekehrt. Die eleganten Manieren, die Schlichtheit und scheinbare Offenherzigkeit übten auf ihn eine faszinierende Wirkung aus. Es kam ihm gar nicht der Gedanke, daß alle diese Treuherzigkeit und Vornehmheit, diese geistreiche Redeweise und dieses würdevolle Wesen vielleicht nur ein prächtiges Kunstprodukt seien. Die Mehrzahl der Gäste bestand sogar trotz ihres blendenden Äußern aus ziemlich hohlen Menschen, die übrigens in ihrer Selbstzufriedenheit selbst nicht einmal wußten, daß manches, was sie Gutes an sich hatten, nur ein Kunstprodukt war, das ihnen zudem gar nicht als Verdienst angerechnet werden konnte, da es ihnen unbewußt und als Erbteil zugefallen war. Dem Fürsten, der ganz im Bann des bezaubernden ersten Eindrucks stand, lag es fern, so etwas zu vermuten. Er sah zum Beispiel, daß dieser alte Herr, dieser hohe Würdenträger, der dem Lebensalter nach sein Großvater hätte sein können, sogar sein eigenes Gespräch abbrach, um ihm, einem so jungen, unerfahrenen Menschen, zuzuhören, und daß er ihm nicht nur zuhörte, sondern auch offenbar auf seine Meinung Wert legte und ihn mit solcher Freundlichkeit, mit solcher aufrichtigen Herzlichkeit behandelte, obwohl sie doch einander fremd waren und sich zum erstenmal sahen. Vielleicht wirkte gerade das Raffinement dieser Höflichkeit auf die warme Empfänglichkeit des Fürsten am allermeisten. Vielleicht hatte auch von vornherein seine persönliche Stimmung ihn für einen günstigen Eindruck geneigt gemacht und ihn gewissermaßen bestochen.
Und dabei waren alle diese Menschen, wenn sie auch natürlich „Freunde des Hauses“ und untereinander befreundet waren, doch keineswegs mit der Familie und unter sich in der Weise befreundet, wie es der Fürst annahm, nachdem er ihnen soeben vorgestellt war und ihre Bekanntschaft gemacht hatte. Es waren Leute darunter, die nie und um keinen Preis zugegeben hätten, daß die Jepantschins mit ihnen auch nur annähernd auf gleicher Stufe stünden. Es waren auch Leute anwesend, die einander bitter haßten; die alte Bjelokonskaja empfand lebenslänglich nur „Verachtung“ für die Gemahlin des „alten Würdenträgers“, und diese war ihrerseits weit davon entfernt, Lisaweta Prokofjewna zu lieben. Dieser „Würdenträger“, ihr Mann, der das Jepantschinsche Ehepaar seit dessen jungen Jahren aus irgendeinem Grund protegiert hatte und jetzt bei der Abendgesellschaft als der vornehmste Gast galt, war in Iwan Fjodorowitschs Augen eine so hochgestellte Persönlichkeit, daß er in dessen Gegenwart kein anderes Gefühl als Ehrerbietung und Furcht empfinden konnte und sich sogar selbst aufrichtig verachtet hätte, wenn er sich auch nur einen Augenblick ihm gleichgestellt und ihn nicht für einen olympischen Jupiter gehalten hätte. Es waren Leute da, die einander jahrelang nicht gesehen hatten und füreinander nichts als Gleichgültigkeit, wenn nicht Abneigung, empfanden, sich aber jetzt begrüßten, als hätten sie sich erst gestern in einer angenehmen Gesellschaft von Freunden gesehen. Übrigens war diese Abendgesellschaft nicht zahlreich. Außer der alten Bjelokonskaja und dem „alten Würdenträger“, der wirklich eine wichtige Persönlichkeit war, sowie seiner Gattin war erstens noch ein sehr bejahrter General da, ein Baron oder Graf mit einem deutschen Namen, ein außerordentlich schweigsamer Mensch, der in dem Ruf stand, eine erstaunliche Kenntnis der Regierungsangelegenheiten zu besitzen und sogar beinah ein Gelehrter zu sein, einer jener olympischen Verwaltungsbeamten, die alles kennen, „ausgenommen vielleicht nur Rußland selbst“, ein Mann, der alle fünf Jahre einen „durch seine Tiefe bemerkenswerten Ausspruch“ tat, einen Ausspruch, der dann unfehlbar ein geflügeltes Wort und sogar in den allerhöchsten Regionen bekannt wurde, einer jener regierenden Beamten, die gewöhnlich nach einer sehr langen (sogar manchmal erstaunlich langen) Dienstzeit in hohem Rang und in vorzüglichen Stellen und im Besitz großer Geldmittel sterben, obwohl sie keine großen Taten vollbracht und sogar eine gewisse Feindschaft gegen große Taten an den Tag gelegt haben. Dieser General war Iwan Fjodorowitschs unmittelbarer Vorgesetzter im Dienst, und Iwan Fjodorowitsch betrachtete ihn vermöge der warmen Dankbarkeit seines Herzens und sogar aus besonderer Eigenliebe ebenfalls als seinen Wohltäter, obwohl dieser selbst sich ganz und gar nicht als Iwan Fjodorowitschs Wohltäter betrachtete, zwar mit Vergnügen von seinen mannigfachen Diensten Gebrauch machte, aber sich ihm gegenüber ganz gleichgültig verhielt und ihn sofort durch einen andern Beamten ersetzt haben würde, wenn irgendwelche Erwägungen, die gar nicht einmal „höhere Erwägungen“ zu sein brauchten, dies wünschenswert gemacht hätten. Ferner war ein älterer, vornehmer Herr anwesend, von dem es sogar hieß, er sei mit Lisaweta Prokofjewna verwandt, obwohl dies gar nicht der Wahrheit entsprach, ein Mann, der einen hohen Rang besaß und ein hohes Amt bekleidete, reich und von guter Familie, behäbig und von sehr guter Gesundheit; er war sehr redelustig und stand sogar in dem Ruf, ein Unzufriedener zu sein (allerdings nur im allerzahmsten Sinne des Wortes) und Galle zu haben (aber auch diese Eigenschaft wirkte bei ihm nur angenehm); er hatte sich die Manieren der englischen Aristokraten zu eigen gemacht und sich auch hinsichtlich des Geschmacks anglisiert (zum Beispiel in bezug auf blutiges Roastbeef; Anspannen von Pferden, Diener und so weiter). Er war ein großer Freund des „Würdenträgers“ und stets bemüht, diesen angenehm zu unterhalten; außerdem hegte Lisaweta Prokofjewna aus irgendeinem Grunde die sonderbare Vorstellung, dieser gesetzte Herr (ein etwas leichtsinniger Mensch und großer Liebhaber des weiblichen Geschlechts) werde plötzlich auf den Gedanken kommen, ihrer Tochter Alexandra einen Heiratsantrag zu machen. Auf diese höchste, solideste Schicht der Gesellschaft folgte eine Schicht von jüngeren Gästen, die aber gleichfalls durch sehr vortreffliche Eigenschaften glänzten. Außer dem Fürsten Schtsch. und Jewgenij Pawlowitsch gehörte zu dieser Schicht auch der bekannte, bezaubernde Fürst N., ehemals ein Verführer und Bezwinger von Frauenherzen in ganz Europa, jetzt schon etwa fünfundvierzig Jahre alt, aber immer noch von schönem Äußeren; er verstand vorzüglich zu erzählen, besaß ein bedeutendes, aber etwas in Unordnung geratenes Vermögen und lebte gewohnheitsmäßig meist im Ausland. Endlich waren auch Leute da, die eine dritte besondere Schicht bildeten und an und für sich nicht zu dem „auserwählten Kreis“ der Gesellschaft gehörten, denen man aber, ebenso wie der Familie Jepantschin, manchmal aus irgendwelchen Gründen in diesem „auserwählten Kreise“ begegnen konnte. Mit einem gewissen Takt, den sie sich zum Grundsatz gemacht hatten, liebten es Jepantschins, in den seltenen Fällen, wo sie geladene Gäste bei sich sahen, die höhere Gesellschaftsschicht mit Angehörigen einer tieferen Schicht, ausgewählten Repräsentanten der „mittleren Sorte“ von Menschen, zu mischen. Jepantschins wurden für dieses Verfahren sogar gelobt, und man sagte von ihnen, sie wüßten, wo sie hingehörten, und besäßen ein ausgesprochenes Taktgefühl, und Jepantschins waren stolz auf diese Meinung, die man von ihnen hatte. Einer der Vertreter dieser „mittleren Sorte“ war an diesem Abend ein Techniker, Oberst, ein ernster Mensch, ein sehr naher Freund des Fürsten Schtsch. und von diesem bei Jepantschins eingeführt; in Gesellschaft war er übrigens schweigsam; an seinem langen Zeigefinger der rechten Hand trug er einen großen, auffallenden Ring, wahrscheinlich ein allerhöchstes Geschenk. Endlich war auch noch ein Schriftsteller und Dichter anwesend, ein Deutscher, der aber russisch dichtete und überdies ein durchaus anständiger Mensch war, so daß man ihn ohne Gefahr in gute Gesellschaft hineinlassen konnte. Er hatte ein glückliches, wenn auch in gewisser Hinsicht etwas abstoßendes Äußeres, war etwa achtunddreißig Jahre alt, kleidete sich tadellos, gehörte zu einer höchst bürgerlichen, aber zugleich höchst achtbaren deutschen Familie, hatte es verstanden, verschiedene Gelegenheiten gut auszunutzen, sich die Protektion hochgestellter Persönlichkeiten zu verschaffen und sich in ihrer Gunst zu behaupten. Er hatte einmal ein bedeutendes Werk eines bedeutenden deutschen Dichters in Versen aus dem Deutschen übersetzt, hatte es verstanden, seine Übersetzung einer geeigneten Person zu dedizieren, rühmte sich der Freundschaft mit einem angesehenen, aber bereits verstorbenen russischen Dichter (es gibt eine große Menge von Schriftstellern, die es außerordentlich lieben, in ihren Druckschriften von ihrer Freundschaft mit großen, aber verstorbenen Schriftstellern zu reden) und war erst ganz vor kurzem bei Jepantschins durch die Gattin des „alten Würdenträgers“ eingeführt worden. Diese Dame galt als eine Gönnerin von Schriftstellern und Gelehrten und hatte tatsächlich einem oder zwei Schriftstellern durch Vermittlung hochgestellter Persönlichkeiten, bei denen sie Einfluß hatte, eine Pension verschafft. Und ein gewisses Ansehen besaß sie allerdings. Sie war eine Dame von ungefähr fünfundvierzig Jahren (also eine sehr junge Frau für einen so alten Mann, wie es ihr Gatte war), eine ehemalige Schönheit, die es infolge einer vielen fünfundvierzigjährigen Damen eigenen Manie liebte, sich immer noch sehr luxuriös zu kleiden; ihr Verstand war nicht bedeutend und ihre Literaturkenntnis sehr zweifelhaft. Aber Schriftsteller zu protegieren, war bei ihr eine ebensolche Manie, wie sich luxuriös zu kleiden. Es wurden ihr viele Werke und Übersetzungen gewidmet; zwei oder drei Schriftsteller ließen mit ihrer Erlaubnis die Briefe drucken, die sie ihr über sehr wichtige Gegenstände geschrieben hatten … Und diese ganze Gesellschaft nahm der Fürst für bare Münze, für reinstes Gold ohne Legierung. Übrigens traf es sich, daß auch all diese Leute sich an diesem Abend in der glücklichsten Stimmung befanden und mit sich selbst sehr zufrieden waren. Sie wußten sämtlich, daß sie der Familie Jepantschin durch ihr Erscheinen eine große Ehre erwiesen. Aber leider ahnte der Fürst von diesen Finessen nichts. Es kam ihm zum Beispiel gar nicht der Gedanke, daß die Jepantschins es jetzt, wo sie einen so wichtigen Schritt wie die Entscheidung über das Lebensschicksal ihrer Tochter vorhatten, für ihre unerläßliche Pflicht hielten, ihn, den Fürsten Lew Nikolajewitsch, dem alten Würdenträger und anerkannten Protektor ihrer Familie, vorzustellen. Der alte Würdenträger würde zwar seinerseits sogar die Nachricht von dem furchtbarsten Unglück, das die Familie Jepantschin betroffen hätte, mit größter Seelenruhe hingenommen, sich aber unbedingt beleidigt gefühlt haben, wenn die Jepantschins ihre Tochter ohne seinen Rat und sozusagen ohne seine Erlaubnis verlobt hätten. Fürst N., dieser liebenswürdige, dieser zweifelsohne geistreiche und höchst offenherzige Mensch, war der felsenfesten Überzeugung, daß er so eine Art von Sonne sei, die an diesem Abend über dem Jepantschinschen Salon aufging. Er war der Ansicht, daß sie unendlich weit unter ihm stünden, und gerade dieser treuherzige, edle Gedanke erzeugte bei ihm jene bewundernswerte, liebenswürdige Ungezwungenheit und Freundlichkeit eben diesen Jepantschins gegenüber. Er wußte ganz genau, daß er an diesem Abend unbedingt etwas erzählen müsse, um die Gesellschaft in Entzücken zu versetzen, und bereitete sich hierauf mit einer gewissen Begeisterung vor. Als Fürst Lew Nikolajewitsch dann diese Erzählung mit angehört hatte, mußte er bekennen, daß er noch nie etwas Derartiges gehört hatte: dieser glänzende Humor, diese bewunderungswürdige Heiterkeit und Naivität, die im Mund eines Don Juan, wie Fürst N., beinah etwas Rührendes hatte, bezauberten ihn geradezu. Wenn er nur dabei gewußt hätte, wie alt und abgenutzt diese Erzählung schon war und daß der Vortragende sie bereits auswendig wußte und daß sie bereits in allen Salons den Hörern zum Überdruß geworden war und nur bei den harmlosen Jepantschins wieder als Neuigkeit erschien, als eine freimütige, geistvolle Erinnerung, die einem geistvollen, schönen Mann plötzlich eingefallen war! Sogar der deutsche Dichterling, der sich freilich sehr liebenswürdig und bescheiden benahm, war beinah der Ansicht, daß er diesem Haus durch seinen Besuch eine Ehre erweise. Aber der Fürst bemerkte nicht die Kehrseite der Medaille, bemerkte nicht das Unterfutter des schönen Gewandes. Dieses Unheil hatte Aglaja nicht vorhergesehen. Sie selbst war an diesem Abend erstaunlich schön. Alle drei Fräulein waren elegant, wenn auch nicht gerade luxuriös gekleidet und trugen sogar eine besondere Frisur. Aglaja saß neben Jewgenij Pawlowitsch, mit dem sie sich sehr freundlich unterhielt und scherzte. Jewgenij Pawlowitsch betrug sich etwas gesetzter als sonst, vielleicht ebenfalls aus Respekt vor den hohen Herren. Man kannte ihn übrigens in der vornehmen Welt schon längst, und er fühlte sich dort bereits heimisch, obwohl er noch ein junger Mensch war. An diesem Abend war er bei Jepantschins mit einem Trauerflor am Hut erschienen, und die alte Bjelokonskaja lobte ihn deswegen: manch ein anderer der vornehmen Welt angehörender Neffe hätte unter solchen Umständen wegen eines solchen Onkels vielleicht keinen Trauerflor angelegt. Lisaweta Prokofjewna billigte diese Handlungsweise ebenfalls, schien aber im allgemeinen recht sorgenvoll zu sein. Der Fürst bemerkte, daß Aglaja ein paarmal aufmerksam nach ihm hinblickte und, wie es schien, mit ihm zufrieden war. Allmählich fühlte er sich sehr glücklich. Die „phantastischen“ Gedanken und Befürchtungen, die er kurz vorher nach dem Gespräch mit Lebedew gehegt hatte, erschienen ihm jetzt, wenn er plötzlich an sie zurückdachte, was er häufig tat, als ein lächerlicher Traum, der unmöglich in Erfüllung gehen konnte! (Und ohnehin hatte er sich gleich damals und dann den ganzen Tag über sehr, wenn auch unbewußt, gewünscht, es irgendwie so einzurichten, daß er an diesen Traum nicht glauben mußte!) Er redete wenig und nur, wenn er gefragt wurde, und verstummte schließlich ganz, saß da und hörte immer nur zu, schwamm aber offenbar in Wonne. Allmählich wuchs in ihm selbst eine Art von Begeisterung, die sich anschickte, im gegebenen Moment zum Ausbruch zu kommen … Da wollte es der Zufall, daß er ins Reden kam, und zwar ebenfalls durch Beantwortung einer Frage und, wie es schien, ganz ohne besondere Absichten …