XV. VORLESUNG
Unsicherheiten und Kritiken
Meine Damen und Herren! Wir wollen das Gebiet des Traumes doch nicht verlassen, ohne die gewöhnlichsten Zweifel und Unsicherheiten zu behandeln, die sich an unsere bisherigen Neuheiten und Auffassungen geknüpft haben. Einiges Material hierzu werden aufmerksame Hörer unter Ihnen bei sich selbst zusammengetragen haben.
1. Es mag Ihr Eindruck geworden sein, daß die Resultate unserer Deutungsarbeit am Traume trotz korrekter Einhaltung der Technik so viel Unbestimmtheiten zulassen, daß dadurch eine sichere Übersetzung des manifesten Traumes in die latenten Traumgedanken doch vereitelt wird. Sie werden dafür anführen, daß man erstens nie weiß, ob ein bestimmtes Element des Traumes im eigentlichen Sinne oder symbolisch zu verstehen ist, denn die als Symbole verwendeten Dinge hören darum doch nicht auf, sie selbst zu sein. Hat man aber keinen objektiven Anhalt, um dies zu entscheiden, so bleibt die Deutung in diesem Punkte der Willkür des Traumdeuters überlassen. Ferner ist es infolge des Zusammenfallen von Gegensätzen bei der Traumarbeit jederzeit unbestimmt gelassen, ob ein gewisses Traumelement im positiven oder im negativen Sinne, als es selbst oder als sein Gegenteil verstanden werden soll. Eine neue Gelegenheit zur Betätigung der Willkür des Deutenden. Drittens steht es dem Traumdeuter infolge der im Traume so beliebten Umkehrungen jeder Art frei, an ihm beliebigen Stellen des Traumes eine solche Umkehrung vorzunehmen. Endlich werden Sie sich darauf berufen, gehört zu haben, daß man selten sicher ist, die gefundene Deutung des Traumes sei die einzig mögliche. Man läuft Gefahr, eine durchaus zulässige Überdeutung desselben Traumes zu übersehen. Unter diesen Umständen, werden Sie schließen, bleibt der Willkür des Deuters ein Spielraum eingeräumt, dessen Weite mit der objektiven Sicherheit der Resultate unverträglich scheint. Oder Sie können auch annehmen, der Fehler liege nicht am Traume, sondern die Unzulänglichkeiten unserer Traumdeutung ließen sich auf Unrichtigkeiten unserer Auffassungen und Voraussetzungen zurückführen.
All Ihr Material ist untadelig gut, aber ich glaube, es rechtfertigt nicht Ihre Schlüsse nach den beiden Richtungen, daß die Traumdeutung, wie wir sie betreiben, der Willkür preisgegeben ist und daß die Mängel der Ergebnisse die Berechtigung unseres Verfahrens in Frage stellen. Wenn Sie anstatt der Willkür des Deuters einsetzen wollen: der Geschicklichkeit, der Erfahrung, dem Verständnis desselben, so pflichte ich Ihnen bei. Ein solches persönliches Moment werden wir freilich nicht entbehren können, zumal nicht bei schwierigeren Aufgaben der Traumdeutung. Das ist aber bei anderen wissenschaftlichen Betrieben auch nicht anders. Es gibt kein Mittel, um hintanzuhalten, daß der eine eine gewisse Technik nicht schlechter handhabe oder nicht besser ausnütze als ein anderer. Was sonst, z. B. bei der Deutung der Symbole, als Willkür imponiert, das wird dadurch beseitigt, daß in der Regel der Zusammenhang der Traumgedanken untereinander, der des Traumes mit dem Leben des Träumers und die ganze psychische Situation, in welche der Traum fällt, von den gegebenen Deutungsmöglichkeiten die eine auswählt, die anderen als unbrauchbar zurückweist. Der Schluß aus den Unvollkommenheiten der Traumdeutung auf die Unrichtigkeit unserer Aufstellungen wird aber durch eine Bemerkung entkräftet, welche die Mehrdeutigkeit oder Unbestimmtheit des Traumes vielmehr als eine notwendig zu erwartende Eigenschaft desselben erweist.
Erinnern wir uns daran, daß wir gesagt haben, die Traumarbeit nehme eine Übersetzung der Traumgedanken in eine primitive, der Bilderschrift analoge Ausdrucksweise vor. Alle diese primitiven Ausdruckssysteme sind aber mit solchen Unbestimmtheiten und Zweideutigkeiten behaftet, ohne daß wir darum ein Recht hätten, deren Gebrauchsfähigkeit anzuzweifeln. Sie wissen, das Zusammenfallen der Gegensätze bei der Traumarbeit ist analog dem sogenannten „Gegensinn der Urworte“ in den ältesten Sprachen. Der Sprachforscher K. Abel (1884), dem wir diesen Gesichtspunkt verdanken, ersucht uns, ja nicht zu glauben, daß die Mitteilung, welche eine Person der anderen mit Hilfe so ambivalenter Worte machte, darum eine zweideutige gewesen sei. Ton und Geste müssen es vielmehr im Zusammenhang der Rede ganz unzweifelhaft gemacht haben, welchen der beiden Gegensätze der Sprecher zur Mitteilung im Sinne hatte. In der Schrift, wo die Geste entfällt, wurde sie durch ein hinzugesetztes, zur Aussprache nicht bestimmtes Bildzeichen ersetzt, z. B. durch das Bild eines lässig hockenden oder eines stramm dastehenden Männchens, je nachdem das zweideutige ken der Hieroglyphenschrift „schwach“ oder „stark“ bedeuten sollte. So wurde trotz der Mehrdeutigkeit der Laute und der Zeichen das Mißverständnis vermieden.
Die alten Ausdruckssysteme, z. B. die Schriften jener ältesten Sprachen, lassen uns eine Anzahl von Unbestimmtheiten erkennen, die wir in unserer heutigen Schrift nicht dulden würden. So werden in manchen semitischen Schriften nur die Konsonanten der Worte bezeichnet. Die weggelassenen Vokale hat der Leser nach seiner Kenntnis und nach dem Zusammenhange einzusetzen. Nicht ganz so, aber recht ähnlich verfährt die Hieroglyphenschrift, weshalb uns die Aussprache des Altägyptischen unbekannt geblieben ist. Die heilige Schrift der Ägypter kennt noch andre Unbestimmtheiten. So ist es z. B. der Willkür des Schreibers überlassen, ob er die Bilder von rechts nach links oder von links nach rechts aneinanderreihen will. Um lesen zu können, muß man sich an die Vorschrift halten, daß man auf die Gesichter der Figuren, Vögel u. dgl. hin zu lesen hat. Der Schreiber konnte aber auch die Bilderzeichen in Vertikalreihen anordnen, und bei Inschriften an kleineren Objekten ließ er sich durch Rücksichten der Gefälligkeit und der Raumausfüllung bestimmen, die Folge der Zeichen noch anders abzuändern. Das Störendste an der Hieroglyphenschrift ist wohl, daß sie eine Worttrennung nicht kennt. Die Bilder laufen in gleichen Abständen voneinander über die Seite, und man kann im allgemeinen nicht wissen, ob ein Zeichen noch zum vorstehenden gehört oder den Anfang eines neuen Wortes macht. In der persischen Keilschrift dient dagegen ein schräger Keil als „Wortteiler“.
Eine überaus alte, aber heute noch von 400 Millionen gebrauchte Sprache und Schrift ist die chinesische. Nehmen Sie nicht an, daß ich etwas von ihr verstehe; ich habe mich nur über sie instruiert, weil ich Analogien zu den Unbestimmtheiten des Traumes zu finden hoffte. Meine Erwartung ist auch nicht getäuscht worden. Die chinesische Sprache ist voll von solchen Unbestimmtheiten, die uns Schrecken einjagen können. Sie besteht bekanntlich aus einer Anzahl von Silbenlauten, die für sich allein oder zu zweien kombiniert gesprochen werden. Einer der Hauptdialekte hat etwa 400 solcher Laute. Da nun der Wortschatz dieses Dialekts auf etwa 4000 Worte berechnet wird, ergibt sich, daß jeder Laut im Durchschnitt zehn verschiedene Bedeutungen hat, einige davon weniger, aber andere dafür um so mehr. Es gibt dann eine ganze Anzahl von Mitteln, um der Vieldeutigkeit zu entgehen, da man nicht aus dem Zusammenhang allein erraten kann, welche der zehn Bedeutungen des Silbenlautes der Sprecher beim Hörer zu erwecken beabsichtigt. Darunter ist die Verbindung zweier Laute zu einem zusammengesetzten Wort und die Verwendung von vier verschiedenen „Tönen“, mit denen diese Silben gesprochen werden. Für unsere Vergleichung ist der Umstand noch interessanter, daß es in dieser Sprache so gut wie keine Grammatik gibt. Man kann von keinem der einsilbigen Worte sagen, ob es Haupt-, Zeit-, Eigenschaftswort ist, und es fehlen alle Abänderungen der Worte, durch welche man Geschlecht, Zahl, Endung, Zeit oder Modus erkennen könnte. Die Sprache besteht also sozusagen nur aus dem Rohmaterial, ähnlich wie unsere Denksprache durch die Traumarbeit in ihr Rohmaterial unter Hinweglassung des Ausdrucks der Relationen aufgelöst wird. Im Chinesischen wird in allen Fällen von Unbestimmtheit die Entscheidung dem Verständnis des Hörers überlassen, der sich dabei vom Zusammenhange leiten läßt. Ich habe mir ein Beispiel eines chinesischen Sprichwortes notiert, das wörtlich übersetzt lautet:
Wenig was sehen viel was wunderbar.
Das ist nicht schwer zu verstehen. Es mag heißen: Je weniger einer gesehen hat, desto mehr findet er zu bewundern, oder: Vieles gibt's zu bewundern für den, der wenig gesehen hat. Eine Entscheidung zwischen diesen nur grammatikalisch verschiedenen Übersetzungen kommt natürlich nicht in Betracht. Trotz dieser Unbestimmtheiten, wird uns versichert, ist die chinesische Sprache ein ganz ausgezeichnetes Mittel des Gedankenausdrucks. Die Unbestimmtheit muß also nicht notwendig zur Vieldeutigkeit führen.
Nun müssen wir freilich zugestehen, daß die Sachlage für das Ausdruckssystem des Traumes weit ungünstiger liegt als für alle diese alten Sprachen und Schriften. Denn diese sind doch im Grunde zur Mitteilung bestimmt, d. h. darauf berechnet, auf welchen Wegen und mit welchen Hilfsmitteln immer verstanden zu werden. Gerade dieser Charakter geht aber dem Traume ab. Der Traum will niemandem etwas sagen, er ist kein Vehikel der Mitteilung, er ist im Gegenteile darauf angelegt, unverstanden zu bleiben. Darum dürften wir uns nicht verwundern und nicht irrewerden, wenn sich herausstellen sollte, daß eine Anzahl von Vieldeutigkeiten und Unbestimmtheiten des Traumes der Entscheidung entzogen bleibt. Als sicherer Gewinn unserer Vergleichung bleibt uns nur die Einsicht, daß solche Unbestimmtheiten, wie man sie als Einwand gegen die Triftigkeit unserer Traumdeutungen verwerten wollte, vielmehr regelmäßige Charaktere aller primitiven Ausdruckssysteme sind.
Wie weit die Verständlichkeit des Traumes in Wirklichkeit reicht, läßt sich nur durch Übung und Erfahrung feststellen. Ich meine, sehr weit, und die Vergleichung der Resultate, welche sich korrekt geschulten Analytikern ergeben, bestätigt meine Ansicht. Das Laienpublikum, auch das wissenschaftliche Laienpublikum, gefällt sich bekanntlich darin, angesichts der Schwierigkeiten und Unsicherheiten einer wissenschaftlichen Leistung mit überlegener Skepsis zu prunken. Ich meine, mit Unrecht. Es ist Ihnen vielleicht nicht allen bekannt, daß sich eine ähnliche Situation in der Geschichte der Entzifferung der babylonisch-assyrischen Inschriften ergeben hat. Da gab es eine Zeit, zu welcher die öffentliche Meinung weit darin ging, die Keilschriftentzifferer für Phantasten und diese ganze Forschung für einen „Schwindel“ zu erklären. Im Jahre 1857 machte aber die Royal Asiatic Society eine entscheidende Probe. Sie forderte vier der angesehensten Keilschriftforscher, Rawlinson, Hincks, Fox Talbot und Oppert, auf, ihr von einer neugefundenen Inschrift unabhängige Übersetzungen im versiegelten Kuvert einzusenden, und konnte nach der Vergleichung der vier Lesungen verkünden, die Übereinstimmung derselben gehe weit genug, um das Zutrauen in das bisher Erreichte und die Zuversicht auf weitere Fortschritte zu rechtfertigen. Der Spott der gelehrten Laienwelt nahm dann allmählich ein Ende, und die Sicherheit in der Lesung der Keilschriftdokumente ist seither außerordentlich gewachsen.
2. Eine zweite Reihe von Bedenken hängt tief an dem Eindruck, von dem wohl auch Sie nicht frei geblieben sind, daß eine Anzahl von Lösungen der Traumdeutung, zu denen wir uns genötigt sehen, gezwungen, erkünstelt, an den Haaren herbeigezogen, also gewaltsam oder selbst komisch und witzelnd erscheinen. Diese Äußerungen sind so häufig, daß ich aufs Geratewohl die letzte, von der mir Kunde geworden ist, herausgreifen will. Hören Sie also: In der freien Schweiz ist kürzlich ein Seminardirektor wegen Beschäftigung mit der Psychoanalyse seiner Stellung enthoben worden. Er hat Einspruch erhoben, und eine Berner Zeitung hat das Gutachten der Schulbehörde über ihn zur öffentlichen Kenntnis gebracht. Aus diesem Schriftstück ziehe ich einige Sätze, die sich auf die Psychoanalyse beziehen, aus: „Ferner überrascht das Gesuchte und Gekünstelte in vielen Beispielen, die sich auch in dem angeführten Buche von Dr. Pfister in Zürich vorfinden … Es müßte also eigentlich überraschen, daß ein Seminardirektor alle diese Behauptungen und Scheinbeweise kritiklos entgegennimmt.“ Diese Sätze werden als die Entscheidung eines „ruhig Urteilenden“ hingestellt. Ich meine vielmehr, diese Ruhe ist „erkünstelt“. Treten wir diesen Äußerungen in der Erwartung näher, daß etwas Nachdenken und etwas Sachkenntnis auch einem ruhigen Urteil keinen Nachteil bringen kann.
Es ist wahrhaft erfrischend zu sehen, wie rasch und unbeirrt jemand in einer heiklen Frage der Tiefenpsychologie nach seinen ersten Eindrücken urteilen kann. Die Deutungen erscheinen ihm gesucht und gezwungen, sie gefallen ihm nicht, also sind sie falsch und die ganze Deuterei taugt nichts; nicht einmal ein flüchtiger Gedanke streift an die andere Möglichkeit, daß diese Deutungen aus guten Gründen so erscheinen müssen, woran sich die weitere Frage knüpfen würde, welches diese guten Gründe sind.
Der beurteilte Sachverhalt bezieht sich wesentlich auf die Ergebnisse der Verschiebung, die Sie als das stärkste Mittel der Traumzensur kennengelernt haben. Mit Hilfe der Verschiebung schafft die Traumzensur Ersatzbildungen, die wir als Anspielungen bezeichnet haben. Es sind aber Anspielungen, die als solche nicht leicht zu erkennen sind, von denen der Rückweg zum Eigentlichen nicht leicht auffindbar ist und die mit diesem Eigentlichen durch die sonderbarsten, ungebräuchlichsten, äußerlichen Assoziationen in Verbindung stehen. In all diesen Fällen handelt es sich aber um Dinge, die versteckt werden sollen, die zur Verheimlichung bestimmt sind; dies will ja die Traumzensur erreichen. Etwas, das versteckt worden ist, darf man aber nicht an seinem Orte, an der ihm zukommenden Stelle, zu finden erwarten. Die heute amtierenden Grenzüberwachungskommissionen sind in dieser Hinsicht schlauer als die Schweizer Schulbehörde. Sie begnügen sich bei der Suche nach Dokumenten und Aufzeichnungen nicht damit, in Mappen und Brieftaschen nachzusehen, sondern sie ziehen die Möglichkeit in Betracht, daß die Spione und Schmuggler solche verpönte Dinge an den verborgensten Stellen ihrer Kleidung tragen könnten, wo sie entschieden nicht hingehören, wie z. B. zwischen den doppelten Sohlen ihrer Stiefel. Finden sich die verheimlichten Dinge dort, so waren sie allerdings sehr gesucht, aber auch sehr — gefunden.
Wenn wir die entlegensten, sonderbarsten, bald komisch, bald witzig erscheinenden Verknüpfungen zwischen einem latenten Traumelement und seinem manifesten Ersatz als möglich anerkennen, so folgen wir dabei reichlichen Erfahrungen an Beispielen, deren Auflösung wir in der Regel nicht selbst gefunden haben. Es ist oft nicht möglich, solche Deutungen aus Eigenem zu geben; kein sinniger Mensch könnte die vorliegende Verknüpfung erraten. Der Träumer gibt uns die Übersetzung entweder mit einem Schlage durch seinen direkten Einfall — er kann es ja, denn bei ihm hat sich diese Ersatzbildung hergestellt, — oder er liefert uns so viel Material, daß die Lösung keinen besonderen Scharfsinn mehr fordert, sondern sich wie notwendig aufdrängt. Hilft uns der Träumer nicht auf eine dieser beiden Weisen, so bleibt uns das betreffende manifeste Element auch ewig unverständlich. Gestatten Sie, daß ich Ihnen noch ein solches kürzlich erlebtes Beispiel nachtrage. Eine meiner Patientinnen hat während der Behandlung ihren Vater verloren. Sie bedient sich seitdem jedes Anlasses, um ihn im Traume wieder zu beleben. In einem ihrer Träume kommt der Vater in einem gewissen, weiter nicht verwertbaren Zusammenhange vor und sagt: Es ist ein Viertel zwölf, es ist halb zwölf, es ist drei Viertel zwölf. Zur Deutung dieser Sonderbarkeit stellte sich nur der Einfall ein, daß der Vater es gerne gesehen hatte, wenn die erwachsenen Kinder die gemeinschaftliche Speisestunde pünktlich einhielten. Das hing gewiß mit dem Traumelement zusammen, gestattete aber keinen Schluß auf dessen Herkunft. Es bestand ein durch die damalige Situation der Kur gerechtfertigter Verdacht, daß eine sorgfältig unterdrückte, kritische Auflehnung gegen den geliebten und verehrten Vater ihren Anteil an diesem Traum hätte. In weiterer Verfolgung ihrer Einfälle, anscheinend weit vom Traum entfernt, erzählt die Träumerin, gestern sei in ihrer Gegenwart viel Psychologisches besprochen worden, und ein Verwandter habe die Äußerung getan: Der Urmensch lebt in uns allen fort. Jetzt glauben wir zu verstehen. Das gab eine ausgezeichnete Gelegenheit für sie, den verstorbenen Vater wieder einmal fortleben zu lassen. Sie machte ihn also im Traum zum Uhrmenschen, indem sie ihn die Viertelstunden der Mittagszeit ansagen ließ.
Sie werden an diesem Beispiel die Ähnlichkeit mit einem Witz nicht von sich weisen können, und es ist wirklich oft genug vorgekommen, daß man den Witz des Träumers für den des Deuters gehalten hat. Es gibt noch andere Beispiele, in denen es gar nicht leicht wird zu entscheiden, ob man es mit einem Witz oder einem Traum zu tun hat. Sie erinnern sich aber, daß uns der nämliche Zweifel bei manchen Fehlleistungen des Versprechens gekommen ist. Ein Mann erzählt als seinen Traum, sein Onkel habe ihm, während sie in dessen Auto (mobil) saßen, einen Kuß gegeben. Er fügt selbst sehr rasch die Deutung hinzu. Es bedeutet: Autoerotismus (ein Terminus aus der Libidolehre, der die Befriedigung ohne fremdes Objekt bezeichnet). Hat sich nun der Mann einen Scherz mit uns erlaubt und einen Witz, der ihm eingefallen ist, für einen Traum ausgegeben? Ich glaube es nicht; er hat wirklich so geträumt. Woher kommt aber diese verblüffende Ähnlichkeit? Diese Frage hat mich seinerzeit ein Stück von meinem Wege abgeführt, indem sie mir die Notwendigkeit auferlegte, den Witz selbst einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen. Es hat sich dabei für die Entstehung des Witzes ergeben, daß ein vorbewußter Gedankengang für einen Moment der unbewußten Bearbeitung überlassen wird, aus welcher er dann als Witz auftaucht. Unter dem Einfluß des Unbewußten erfährt er die Einwirkung der dort waltenden Mechanismen, der Verdichtung und der Verschiebung, also derselben Vorgänge, die wir bei der Traumarbeit beteiligt fanden, und dieser Gemeinsamkeit ist die Ähnlichkeit von Witz und Traum, wo sie zustande kommt, zuzuschreiben. Vom Lustgewinn des Witzes bringt der unbeabsichtigte „Traumwitz“ aber nichts mit. Warum, mag Sie die Vertiefung in das Studium des Witzes lehren. Der „Traumwitz“ erscheint uns als schlechter Witz, er macht uns nicht lachen, läßt uns kalt.
Wir treten dabei auch in die Fußstapfen der antiken Traumdeutung, die uns neben vielem Unbrauchbaren manches gute Beispiel einer Traumdeutung hinterlassen hat, welches wir selbst nicht zu übertreffen wüßten. Ich erzähle Ihnen nun einen historisch bedeutsamen Traum, den mit gewissen Abweichungen Plutarch und Artemidorus aus Daldis von Alexander dem Großen berichten. Als der König mit der Belagerung der hartnäckig verteidigten Stadt Tyrus beschäftigt war (322 v. Chr.), träumte er einmal, er sehe einen tanzenden Satyr. Der Traumdeuter Aristandros, der sich beim Heere befand, deutete ihm diesen Traum, indem er das Wort „Satyros“ in σὰ Τύρος (dein ist Tyrus) zerlegte und ihm darum den Triumph über die Stadt versprach. Alexander ließ sich durch diese Deutung bestimmen, die Belagerung fortzusetzen, und nahm endlich Tyrus ein. Die Deutung, die gekünstelt genug aussieht, war unzweifelhaft die richtige.
3. Ich kann mir vorstellen, daß es Ihnen einen besonderen Eindruck machen wird zu hören, daß Einwendungen gegen unsere Auffassung des Traumes auch von solchen Personen erhoben worden sind, die sich selbst längere Zeit als Psychoanalytiker mit der Deutung von Träumen beschäftigt haben. Es wäre zu ungewöhnlich gewesen, daß ein so reichhaltiger Anreiz zu neuen Irrtümern ungenützt geblieben wäre, und so haben sich durch begriffliche Verwechslungen und unberechtigte Verallgemeinerungen Behauptungen ergeben, die hinter der medizinischen Auffassung des Traumes an Unrichtigkeit nicht weit zurückstehen. Die eine davon kennen Sie bereits. Sie sagt aus, daß sich der Traum mit Anpassungsversuchen an die Gegenwart und Lösungsversuchen der Zukunftsaufgaben beschäftige, also eine „prospektive Tendenz“ verfolge (A. Maeder). Wir haben bereits angeführt, daß diese Behauptung auf Verwechslung des Traumes mit den latenten Traumgedanken beruht, also das Übersehen der Traumarbeit zur Voraussetzung hat. Als Charakteristik der unbewußten Geistestätigkeit, der die latenten Traumgedanken angehören, ist sie einerseits keine Neuheit, anderseits nicht erschöpfend, denn die unbewußte Geistestätigkeit beschäftigt sich mit vielem anderen neben der Vorbereitung der Zukunft. Eine weit ärgere Verwechslung scheint der Versicherung zugrunde zu liegen, daß man hinter jedem Traum die „Todesklausel“ finde. Ich weiß nicht genau, was diese Formel besagen will, aber ich vermute, hinter ihr steckt die Verwechslung des Traumes mit der ganzen Persönlichkeit des Träumers.
Eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung aus wenigen guten Beispielen liegt in dem Satze, daß jeder Traum zwei Deutungen zulasse, eine solche, wie wir sie aufgezeigt haben, die sogenannte psychoanalytische, und eine andere, die sogenannte anagogische, welche von den Triebregungen absieht und auf eine Darstellung der höheren Seelenleistungen hinzielt (H. Silberer). Es gibt solche Träume, aber Sie werden diese Auffassung vergeblich auch nur auf eine Mehrzahl der Träume auszudehnen versuchen. Ganz unbegreiflich wird Ihnen nach allem, was Sie gehört haben, die Behauptung erscheinen, daß alle Träume bisexuell zu deuten seien, als Zusammentreffen einer männlichen mit einer weiblich zu nennenden Strömung (A. Adler). Es gibt natürlich auch einzelne solche Träume, und Sie könnten später erfahren, daß diese so gebaut sind wie gewisse hysterische Symptome. Ich erwähne alle diese Entdeckungen neuer allgemeiner Charaktere des Traumes, um Sie vor ihnen zu warnen oder um Sie wenigstens nicht im Zweifel zu lassen, wie ich darüber urteile.
4. Eines Tages schien der objektive Wert der Traumforschung durch die Beobachtung in Frage gestellt, daß die analytisch behandelten Patienten den Inhalt ihrer Träume nach den Lieblingstheorien ihrer Ärzte einrichten, indem die einen vorwiegend von sexuellen Triebregungen träumen, die anderen vom Machtstreben und noch andere sogar von der Wiedergeburt (W. Stekel). Das Gewicht dieser Beobachtung wird durch die Erwägung verringert, daß die Menschen bereits geträumt haben, ehe es eine psychoanalytische Behandlung gab, die ihre Träume lenken konnte, und daß die jetzt in Behandlung Stehenden auch zur Zeit vor der Behandlung zu träumen pflegten. Das Tatsächliche dieser Neuheit läßt sich bald als selbstverständlich und für die Theorie des Traumes belanglos erkennen. Die den Traum anregenden Tagesreste erübrigen von den starken Interessen des Wachlebens. Wenn die Reden des Arztes und die Anregungen, die er gibt, für den Analysierten bedeutungsvoll geworden sind, so treten sie in den Kreis der Tagesreste ein, können die psychischen Reize für die Traumbildung abgeben wie die anderen affektbetonten unerledigten Interessen des Tages und wirken ähnlich wie die somatischen Reize, die während des Schlafes auf den Schläfer einwirken. Wie diese anderen Anreger des Traumes können auch die vom Arzt angeregten Gedankengänge im manifesten Trauminhalt erscheinen oder im latenten nachgewiesen werden. Wir wissen ja, daß man Träume experimentell erzeugen, richtiger gesagt, einen Teil des Traummaterials in den Traum einführen kann. Der Analytiker spielt also bei diesen Beeinflussungen seiner Patienten keine andere Rolle als der Experimentator, der wie Mourly Vold den Gliedern seiner Versuchspersonen gewisse Stellungen erteilt. Man kann oftmals den Träumer beeinflussen, worüber er träumen soll, nie aber darauf einwirken, was er träumen wird. Der Mechanismus der Traumarbeit und der unbewußte Traumwunsch sind jedem fremden Einfluß entzogen. Wir haben bereits bei der Würdigung der somatischen Reizträume erkannt, daß die Eigenart und Selbständigkeit des Traumlebens sich in der Reaktion erweist, mit welcher der Traum auf die zugeführten körperlichen oder seelischen Reize antwortet. Der hier besprochenen Behauptung, welche die Objektivität der Traumforschung in Zweifel ziehen will, liegt also wiederum eine Verwechslung, die des Traumes mit dem Traummaterial zugrunde.
Soviel, meine Damen und Herren, wollte ich Ihnen von den Problemen des Traumes erzählen. Sie ahnen, daß ich vieles übergangen habe, und haben selbst erfahren, daß ich fast in allen Punkten unvollständig sein mußte. Das liegt aber am Zusammenhang der Traumphänomene mit denen der Neurose. Wir haben den Traum als Einführung in die Neurosenlehre studiert, und das war gewiß richtiger, als wenn wir das Umgekehrte getan hätten. Aber wie der Traum für das Verständnis der Neurosen vorbereitet, so kann anderseits die richtige Würdigung des Traumes erst nach der Kenntnis der neurotischen Erscheinungen gewonnen werden.
Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken werden, aber ich muß versichern, daß ich nicht bereue, soviel von Ihrem Interesse und von der für uns verfügbaren Zeit für die Probleme des Traumes in Anspruch genommen zu haben. An keinem anderen Objekt kann man sich so rasch die Überzeugung von der Richtigkeit der Behauptungen holen, mit denen die Psychoanalyse steht und fällt. Es bedarf der angestrengten Arbeit von vielen Monaten und selbst Jahren, um zu zeigen, daß die Symptome eines Falles von neurotischer Erkrankung ihren Sinn haben, einer Absicht dienen und aus den Schicksalen der leidenden Person hervorgehen. Dagegen kann es einer Bemühung von wenigen Stunden gelingen, denselben Sachverhalt für eine zunächst unverständlich verworrene Traumleistung zu erweisen und damit alle die Voraussetzungen der Psychoanalyse zu bestätigen, die Unbewußtheit seelischer Vorgänge, die besonderen Mechanismen, denen sie gehorchen, und die Triebkräfte, die sich in ihnen äußern. Und wenn wir die durchgreifende Analogie im Aufbau von Traum und neurotischem Symptom mit der Raschheit der Verwandlung zusammenhalten, die aus dem Träumer einen wachen und vernünftigen Menschen macht, gewinnen wir die Sicherheit, daß auch die Neurose nur auf verändertem Kräftespiel zwischen den Mächten des Seelenlebens beruht.