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§ 46. Die Eigenheitlichkeit als die Sphäre der Aktualitäten und Potentialitäten des Erlebnisstromes

Wir haben bisher den Fundamentalbegriff des Mir-Eigenen nur indirekt charakterisiert als Nichtfremdes, das seinerseits auf dem Begriff des Anderen fußte, es also voraussetzte. Es ist für eine Klärung seines Sinnes aber wichtig, nun aber auch das positive Charakteristikum dieses Eigenen bzw. des Ego in meiner Eigenheit herauszuarbeiten. Es war in den letzten Sätzen des vorigen Paragraphen nur eben angedeutet. Knüpfen wir an Allgemeineres an. Wenn sich uns in der Erfahrung ein konkreter Gegenstand als etwas für sich abhebt und sich nun der aufmerkend erfassende Blick darauf richtet, so wird er in dieser schlichten Erfassung zugeeignet als bloß „unbestimmter Gegenstand der empirischen Anschauung“. Zum bestimmten und sich weiter bestimmenden wird er in einer Fortführung der Erfahrung in Form einer bestimmenden, und zunächst nur den Gegenstand selbst aus sich selbst auslegenden Erfahrung, einer puren Explikation. Sie entfaltet in ihrem gegliederten synthetischen Fortgang auf dem Grunde des in kontinuierlicher anschaulicher Synthesis der Identifikation als in Identität mit sich selbst gegebenen Gegenstandes in einer Verkettung von Sonderanschauungen die ihm selbst eigenen, die inneren Bestimmtheiten. Sie treten hierbei ursprünglich auf als solche, in denen er, der identische selbst ist, was er ist, und zwar an und für sich, in sich selbst ist und worin sein identisches Sein sich in die besonderen Eigenheiten auslegt. Dieser eigenwesentliche Gehalt ist vorweg nur im Allgemeinen und horizontmäßig antizipiert und konstituiert sich ursprünglich (mit dem Sinn: inneres, eigenwesentliches Merkmal, spezieller Teil, Eigenschaft) erst durch die Explikation.

Wenden wir das an. Wenn ich in transzendentaler Reduktion auf mich, das transzendentale Ego, reflektiere, so bin ich für mich als dieses Ego wahrnehmungsmäßig gegeben, und zwar in erfassender Wahrnehmung. Ich werde auch dessen inne, daß ich vordem schon immerfort für mich, aber unerfaßt, original anschaulich (im weiteren Sinne wahrgenommen) da, vorgegeben war. Das bin ich aber jedenfalls mit einem offenen endlosen Horizont von noch unerschlossenen inneren Eigenheiten. Auch mein Eigenes erschließt sich durch Explikation und hat aus ihrer Leistung seinen ursprünglichen Sinn. Es enthüllt sich ursprünglich in der erfahrend-explizierenden Blickrichtung auf mich selbst, auf mein wahrnehmungsmäßig und sogar apodiktisch gegebenes Ich-bin und meine in der kontinuierlichen einheitlichen Synthesis der ursprünglichen Selbsterfahrung verharrende Identität mit mir selbst. Das diesem Identischen Eigenwesentliche charakterisiert sich als dessen wirkliches und mögliches Explikat, als das, worinnen ich mein eigenes identisches Sein nur entfalte, als was es als Identisches in Sonderheit ist, es in sich selbst.

Hier ist nun folgendes zu beachten: Obschon ich rechtmäßig von Selbstwahrnehmung spreche, und zwar hinsichtlich meines konkreten Ego, so ist damit nicht gesagt, daß ich so wie bei der Auslegung eines wahrnehmungsmäßig gegebenen Sehdinges immerzu in eigentlichen Sonderwahrnehmungen mich bewege und somit selbst wahrnehmungsmäßige Explikate gewinne und keine anderen. Ist doch ein erstes der Explikation meines eigenwesentlichen Seinshorizontes, daß ich auf meine immanente Zeitlichkeit und damit auf mein Sein in Form einer offenen Unendlichkeit eines Erlebnisstromes stoße und aller meiner darin irgendwie beschlossenen Eigenheiten, zu denen mein Explizieren mitgehört. In lebendiger Gegenwart verlaufend, kann sie eigentlich wahrnehmungsmäßig nur lebendig gegenwärtig Verlaufendes vorfinden. Die mir eigene Vergangenheit enthüllt sie in der denkbar ursprünglichsten Weise durch Wiedererinnerungen. Obschon ich mir also beständig originaliter gegeben bin und mein Eigenwesentliches fortschreitend explizieren kann, so vollzieht sich diese Explikation in weitem Ausmaße in Bewußtseinsakten, die nicht Wahrnehmungen für die betreffenden mir eigenwesentlichen Momente sind. Nur so kann mir mein Erlebnisstrom, als in welchem ich als identisches Ich lebe, zugänglich werden; und zunächst in seinen Aktualitäten und dann in den mir offenbar ebenfalls eigenwesentlichen Potentialitäten. Alle Möglichkeiten der Art des: Ich kann oder könnte diese oder jene Erlebnisreihen in Gang bringen — darunter auch: Ich kann vorblicken oder zurückblicken, kann enthüllend in den Horizont meines zeitlichen Seins eindringen — gehören offenbar eigenwesentlich zu mir selbst.

Überall aber ist die Auslegung original, wenn sie eben auf dem Boden der originalen Selbsterfahrung das Erfahrene selbst entfaltet und zu jener Selbstgegebenheit bringt, die hierbei die denkbar ursprünglichste ist. In diese Auslegung erstreckt sich hinein die apodiktische Evidenz der transzendentalen Selbstwahrnehmung (des Ich bin), obschon in einer früher schon erörterten Beschränkung. In schlechthin apodiktischer Evidenz treten durch Selbstauslegung nur hervor die universalen Strukturformen, in denen ich als Ego bin, nämlich in wesensmäßiger Universalität bin und nur sein kann. Dahin gehört (obschon nicht allein) die Seinsweise in Form eines gewissen universalen Lebens überhaupt, in Form der stetigen Selbstkonstitution seiner eigenen Erlebnisse als zeitlicher innerhalb einer universalen Zeit usw. An diesem universalen apodiktischen Apriori in seiner unbestimmten Allgemeinheit, aber Bestimmbarkeit, nimmt dann jede Auslegung singulärer egologischer Daten Anteil, wie z. B. als eine gewisse, obschon unvollkommene Evidenz der Wiedererinnerung an selbsteigenes Vergangenes. Die Teilhabe an der Apodiktizität zeigt sich an dem selbst apodiktischen Formgesetz: Soviel Schein, soviel (durch ihn nur verdecktes, verfälschtes) Sein — nach welchem daher gefragt, das gesucht werden, das auf einem vorgezeichneten Wege gefunden werden kann, wennschon in einer bloßen Approximation an seinen vollbestimmten Inhalt. Dieser selbst mit dem Sinn eines immer wieder und nach allen Teilen und Momenten fest Identifizierbaren ist eine a priori gültige Idee.