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Brunnenvergiftung

Die diesem Versstück unterlegtze Geschichte soll keinesfalls als die Anekdote unterschätzt werden, wie ich sie an den Titel eines antisemitischen Zeitungsartikels angesponnen habe. Die Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich im August 1914 ist zwar mit der Lüge realer Bomben auf Nürnberg begründet worden, aber zur Aufpeitschung der Kriegsleidenschaft hat auch das damals verbreitete und geduldete Gerücht beigetragen, feindliche Ärzte hätten in Süddeutschland die Brunnen vergiftet, was ganz gewiß auf die mißverstandene Metapher zurückzuführen war, auf irgendwelche Anklage wegen »Brunnenvergiftung«, die aus dem politischen Phrasenschatz in das bereite Gemütsleben jener Tage Eingang fand, genau so wie sie es heute — hüben und drüben — wieder vermöchte. Die Möglichkeit, daß das mißdeutete Zeitungsklischee Mord und Vernichtung bewirkt, hält sicherlich der planvollen Kriegsmache des Zeitungsgeistes die Wage.

In Wien, noch heut erzählt man’s mit Beben,
hat einst sich das folgende begeben,
doch weiß ich nicht mehr, ob es bloß geschehn
oder ob gar ich’s im Traum hab’ gesehn.
Denn eben, wie es dort geht, wo nichts geht
und sogar alles was gehn tut steht,
wie sie eilenden Fußes stehen bleiben
und sich inzwischen die Zeit vertreiben,
wie sie stehenden Fußes jappen und jagen:
das weiß ich zumeist vom Hörensagen
und selbst dieses hör’ ich erst, wenn ich allein bin
und mit mir selber darin überein bin,
daß wir zwei nicht unter die Leute müssen,
um alles Wissenswerte zu wissen.
Geläng’s denn, so viel ihnen abzunehmen,
wenn wir wirklich unter die Leute kämen?
So aber, von der anderen Erde,
folg’ ich der Stimme, dem Gang, der Gebärde,
folgt mir Mißton und Wirrsal und Überdruß,
und die Entfernung schafft den Genuß.
Verwebt und verbunden, gewähr’ ich mich allen,
die mir zu Gefallen mir nicht gefallen.

Von welchen laß ich aus heutigem Leben
jedoch zumeist und zunächst mich umgeben?
Die mir immer Gegen- und Widerwärtigen,
die hinterbliebenen Weilandswichter,
wie sie vergebens entgegenharren,
die unzerreißbaren Kaiserbärtigen,
die kaisersemmligen Gesichter,
dem aufzuwärmenden Kaiserschmarren!
Diese Art, mir im Innersten äußerst zuwider,
scheint gleich verteilt mir auf Hoch und Nieder,
vertreten in allen sozialen Rängen,
in die ich nicht liebe mich einzumengen.
Das Hirn aus Pappe, das Antlitz von Kleister,
so hält es im Haus wie der Herr so der Meister:
tief eingebettet in jede Falte
der fromme Wunsch, daß Gott erhalte,
woran ja das Herz des Menschen hing
und was definitiv zum Teufel ging.
Seh’ ich auf der Straßenbahn so ein Tier
mit der aufgezwirbelten Manneszier,
bei dessen Anblick mir nichts bleibt erspart,
denn innen steckt doch der Kaiserbart;
muß ich, Gott beschütze, hieramts verkehren,
mit den konniventen Funktionären,
so lob’ ich die Rasse um das Bestreben,
sich von der meinigen abzuheben.
Denn die häßlichsten traun in diesem Lande,
dem angegossen der Reim der Schande,
sind von allen die völlig Ausgeschämten,
jene nach oben und unten Kläglichen,
die unverbindlichen Diesbezüglichen,
von der k.k. Hölle ausgespiebenen
und im hintersten Hintern hinterbliebenen,
doch entgegenkommenden Biamten,
die ausgehungerten Ordensjäger
und würdelosesten Würdenträger,
die lang’ vor dem Krieg verloren das Schämen,
tunlichst bereit, keinen Anstand zu nehmen.
Republik heißt auf deutsch die kaiserlose
und noch vom Umsturz volle ärarische Hose.
Seht die wutverzerrten Gotterhaltegesichter:
es kuscht im geschichtlichen Zwang das Gelichter,
doch kein Feind wär’ imstand, um das Glück sie zu bringen,
von Lorbeerreisern sich etwas zu singen.
Sie planen bereits, doch einstweilen ganz stad,
eine Brücken zu schlagen nach Beigerad,
und wenn ihre Blütenträume reifen
und für sie wieder andre den Sabul ziehn,
so reißt es sie unwiderstehlich hin,
auch der Adria an den Busam zu greifen.
Derweil g’hört sie freilich dem Wallisch, dem Gauch,
und nicht er, sondern man liegt vor ihm auf dem Bauch,
denn man ist ja doch leider in den und in diesen
Belangen auf jene angewiesen,
die sich derweil noch ins Fäustchen lachen
und bekanntlich außerdem katzelmachen.

Hier ist alles ein Kreuz, aber keiner bereut’s,
hier kriecht die Justiz vor der Presse zu Kreuz,
hier wo Euer Gnaden schon wissen ja eh,
hier steckt die Hermandad in des Bösen Livree;
wo die Autorität für die Zeitungen schmiert
und auch sonst sich tunlichst gar nicht geniert,
wo die kleinen man hängt, jedoch Menschenhaufen
Spalier bilden, wenn man die großen läßt laufen,
wo Hoch und Nieder, jeder von allen
für den Fall, es schiene was abzufallen,
dabei ist — trinken wir noch ein Flascherl,
während jener den Staat steckt in das Tascherl —
kein Wort, das nicht Geld ist, kein Geld ohne Diebe;
die leben vom Spiel, die verkaufen die Liebe:
ja bei dem Leben, da lebt sichs wie toll,
tu felix Austria stehst unter Kontroll’!
Dies Volk, das seine Kriegsschuld vergessen,
hält seine christliche Pflicht für erledigt
und sich für den Hunger sattsam entschädigt,
wenn es nicht aufhört, die Juden zu fressen.
Sie wollen ja nix als ihre Ruh;
ist hier denn jemals gemordet worden?
Wenns drauf ankommt, sie möchten schon morden,
nur sind sie halt doch zu kommod dazu.

Wie malerisch man dieses Treiben finde,
mir graut vor der ganzen Käserinde.
Unmöglich, das bunte Treiben zu bändigen,
der Parasiten sowohl wie der Bodenständigen,
die sich in der Symbiose bequemen,
jenen den Saft wieder abzunehmen.
Jüngst hat die Behörde, die dazu gehört,
dies Volk durch die Zählung aufgestört.
Denn einzig nur der Versuch, sie zu zählen,
erfüllt die Erwartung, daß keine fehlen,
und man war überrascht von der Fülle der Seelen.
Eine Rasse von einer ganz eigenen Rasse,
die die ganze Welt liebt und ich allein hasse,
und die, als sie plötzlich »Momenterl!« sagte,
mich aus aller menschlichen Vorstellung jagte,
weshalb mich der Zweifel an Gott überkam —
traf ich einen am Ganges, korschamadiener,
ich wüßte von weitem: das ist ein Wiener,
und wenn ich von ihm keinen Laut noch vernahm.
Auf der Kultur allerunterster Stufe,
unterworfen der Trägheit Gewalten,
lassen sie von der Welt sich nicht schulen,
trotzen der Zeit als die deutschen Huzulen
und sie werden zu diesem Behufe
tunlichst von oben noch angehalten.
Den geborenen Sklaven gereicht es zur Ehr’,
daß auf sie aufpaßt ein Generalkommissär,
bei dem sie so frei sind sich zu beehren
über zu viel Freiheit sich zu beschweren;
Obrigkeit nennt die Behörde Herr Schober,
der Untertan nennt schon den Zahlkellner Ober.
Der Korso voll Feschaks und Küßdiehänder,
und Göttergatten gehn auf die Länder.
Mit der Sprechart, die längst den Naturlaut verloren,
im Sprachengemisch zum Abschaum gegoren,
mit diesem kollernden Kauderdeutsch-Sprechen
und taarlos perfektesten Radebrechen:
ganz entartet dem echteren Wesen
und den bescheiden harmonischen Formen,
aber verwirrt von den technischen Normen,
doch schon imstande, Zeitung zu lesen,
stehn sie beständig im Weltraum herum;
jeder Schritt weiter gehorcht nur dem Drah’ma,
nennen dies Chaos dann stolz Ramatama
und es geht höchstens rundumadum.

Aber einen Standpunkt doch auf Erden
haben, die patrizisch sich gebärden,
die kulturbekannten Schubert-Erben,
die bereit sind, fürs Dreimäderlhaus zu sterben,
während Mozarts Erben wieder wetten
auf die Zugkraft anderer Operetten.
Eint das Weltall Geist und Wiener Bürger?
Nach Beethoven hungern Rindfleischwürger.
Über Goethe geht halt doch der Sacher,
aber Nestroy war ein Lustigmacher.
Kunst und Seele und Natur und Weib
nur ein Ornament der Bürgerwelt ist;
alles Wesen ist nur Zeitvertreib,
Zubehör ist alles, was nicht Geld ist.
Was Kauf und Lauf ist, hier ist’s noch verbogen;
hier ist das sichere Ende abzusehn,
und schneller wird das Leben ausgesogen:
denn zum Ruin trat völkisch Auferstehn.
Längst verfault ist der Kern, doch die Schale,
daß sich das trunkne Auge gewöhne,
leuchtet in christlich-germanischer Schöne
gleich einem milden Kraliksgrale.
Heiliger Geist, des Wunders Verüber:
hier wo schon alles drüber und drunter —
seht wie es wechselt, wie regt es sich munter,
und es geht alles schon drunter und drüber.

Ja, das Saniertwerden wird niemanden reuen,
nichts ist da not als jenen vertrauen,
die, imstande die Kriegskrüppel abzubauen,
die Tuberkulose von den Kindern befreien.
So lasse sich die Heilung nicht erwerben?
Mit diesem Mittel wehrt man nicht dem Hungern?
So tadeln solche, die den Staatsmann neiden.
Die Tat beweist’s: wenn hunderttausend sterben,
so brauchen sie nicht arbeitslos zu lungern
und müssen keineswegs mehr Hunger leiden.
Beim Untergang aber hofft jeder mit Bangen,
durchs Hintertürl hinaufzugelangen
und vom Schicksal, das jene verschlingt, inzwischen
ein Protektionsportionderl zu erwischen.
Die Wiener Wirklichkeit ist Übertreibung.
Was immer in diesem Sonntagsstaat
so steht wie geht, es ist windverdraht
und das Klima selbst spottet jeder Beschreibung.
(Jedoch im Versuch, im Wiedererleben,
vergaß ich zu sagen, was hier sich begeben.)

In dieser verzauberten Gegenwart,
wo der Stundenzeiger der Ringstraßenuhren
vorbei an immer den nämlichen Huren
zum Zeichen der Zeit, zum warnenden Zeichen,
vorbei dem Spalier animierter Leichen
zum warnenden Zeichen der Zeit erstarrt,
da kamen die Leute einmal geloffen,
als wären sie vom Zeichner Schönpflug getroffen,
oder auch von der Tarantel gebissen,
kurz von einem Dilettantel falsch umrissen,
mit unbeweglich stürmenden Haxen
und Übertreibung der Maße und Taxen,
so verkrampft in diesem Flüchten und Fliehn,
als hätte die Reichspost sie ausgespien:
so erwachte der dumme Kerl von Wien.
Jahrüber, ihr kennt ihn nicht anders, ich wette,
liegt er an der Gemütlichkeit Kette,
in der Welt gelitten und löblich bekannt,
denn er küßt den verkehrenden Fremden die Hand
und dudelt ihnen was vor zur Jause
von dem ihm seinerzeit entrissenen,
um das Wohl der Völker bemühten, beflissenen,
kurz dem angestammt glorreichen Herrscherhause.
(Ich irre wieder ab, aus Widerstreben,
von einer Begebenheit Kunde zu geben,
die sich dazu noch in dieser Stadt
vielleicht nicht einmal begeben hat.)

Kasmader saß mit den Anverwandten,
Geschwisterkindern und Resitanten
und Onkeln und Nichten und Basen und Vettern
und sie lasen die balkendicken Lettern
und sahen sich an ganz empört und verstört:
Da habts es — ja habts ös scho so was gehört —
was sagts ös — ah so was — dös war no net da —
ah da legst di nieda — da schaurija —
ah dös war net schlecht — ah, wos da all’s steht —
ja wanns net da stengert, i glauberts ja net!
Und unverkennbar stand es geschrieben
und schwarz auf weiß, wie sie es getrieben:
sie hätten sich widersetzt der Sanierung
und ließen nicht ab von der täglichen Schürung
des Brandes, den sie mit Eifer gestiftet,
und nun hätten sie auch noch die Brunnen vergiftet.
Und über dieses Geheimnisses Lüftung
stand in riesigen Lettern: Brunnenvergiftung.
Kasmader, der’s in der Reichspost las,
im Nu seine gute Erziehung vergaß,
und schwor, das sollten sie bitter bezahlen,
die Judensozi, die Kohnnationalen.
Fürs erste, wiewohl er auch sonst kein Prasser,
verbot er sich und den Seinen das Wasser:
daß keiner, solang auf der Welt noch ein Jud,
von euch einen Tropfen mir anrühren tut!
Bald war’s in der Nachbarschaft bekannt
und überall, wo sie nicht hinkam die Zeitung,
da sorgte dennoch für die Verbreitung
das Gerücht und extra die Resitant.
Und kreuz und quer durch die Gassen rannte
der Ruf, der wie ein Lauffeuer brannte,
des Ursprung bald niemand mehr ergründet:
Die Juden haben es angezündet!
Da gab es nur Rächer und keinen Retter —
das Leben war längst entlaufen der Letter.
Eins hatte das Feuer vor dem Wasser voraus:
man sah nicht brennen ein einziges Haus.
Sonst wehrten sie sicher mit müßigen Händen,
zum Löschen das Wasser zu verwenden,
denn es war ja, sie hörten’s mit eigenen Ohren,
zu jedem Gebrauch der Menschheit verloren.
Dies Wissen war keinem mehr zu rauben;
es stand gedruckt, und da war nur zu glauben.
Jeder ward zum Verbreiten angestiftet:
Die Juden haben die Brunnen vergiftet!
Denn »Brunnenvergiftung« stand deutlich geschrieben
und drunter, was sie auch sonst noch getrieben
und was sie sich hierzulande erlauben.
Und so mußten auch die Juden dran glauben.

War’s nur ein Traum, so erweist doch der Tag,
was jener an Wahrheit zu bergen vermag.
Wo kein Band zwischen Menschengeschick und Gestirnen,
da waltet das Wort doch über den Hirnen,
und auf jeder Stufe der Menschheit meistert
das Leben die Macht, die die Hirne verkleistert.
Sie allein vermag es, Brände zu stiften
und die Brunnen des Landes zu vergiften.

Doch diese Methode ist ungesund;
zeig dem Tropf, wieviel Uhr: er nimmt sie in den Mund.
Drum sei auf der Hut und sprich vor den Leuten
nicht Worte, die etwas andres bedeuten,
damit nicht, wenn sie zum Wetter sich ballen,
die Tröpfe dann aus den Wolken fallen.
Und die deren Tun durch die Letter lenken,
die dem Vogel die Feder ziehn durch die Nase,
sie sollen ermessen den Vorsprung der Phrase
und mindestens denken, was jene nicht denken!
Das Leben wird Zierat verfallender Zeiten,
und von der Phrase kommt ihnen der Tod;
um Todesmittel ist’s heute nicht not —
man leite den Blick vor die Wirklichkeiten!
Doch will man zu Dank sich verpflichten die Gaffer
und daß sie ihren Augen nicht trauen,
so lasse man sie einen Hofwagen schauen —
aber keine Metapher!

Und nun, da ich jedem das Seine gab,
nachdem ich den Schleier endlich gelüftet —
rufts aus dem Brunnen, welcher vergiftet:
So, wer gibt Ihner einen Affen ab!