Epigramm aufs Hochgebirge
Text einer Ansichtskarte:
»Wenn diese Berge dem größten
Dichter neue Kräfte geben könnten —
wie viel schöner wären sie!«
Es ist der schönsten Berge Eigenschaft:
sie geben nicht dem Geist, sie nehmen Kraft.
Der Bürger fühlt sich im Gebirg erhoben;
talwärts ist meine Phantasie zerstoben.
Am Alpenglühn entflammen keine Lichter.
Vor höherm Berg gibts nur geringern Dichter.
Die Luft der Alpe schafft des Alpdrucks Qual.
Um hoch zu steigen, bleibe ich im Tal.
Den Höhenrausch trink’ ich nicht von den Höhn.
Um Sturm zu haben, brauch’ ich nicht den Föhn.
Zu andrer Freiheit bin ich aufgerafft;
die hier bringt meine Sinne in Verhaft.
Den Gletschern dank’ ich keine Geistesfrische;
mir liegt nicht allzusehr das Malerische.
Oft wirkt Natur der Leere nur das Kleid.
Mich lockte nie die Sehenswürdigkeit.
Wo so viel fertige Schönheit gegenwärtig,
ist keine Dichtung, nur der Dichter fertig.
Und keine Lyrik, Epos oder Drama
schenkt sich dem sogenannten Panorama.
Umsonst ist’s, daß ich auf den Genius warte.
Natur ist häufig eine Ansichtskarte.
Der schönste Schnee wird schließlich doch zum Schlamm.
Es ist die Landschaft für ein Epigramm!